Ehe ich mich setzte, kam Henry um den Tisch herum und schloß mich fest in die Arme.»Bunny«, murmelte er.»Es ist so schön, daß du wieder hier bist. Lauf das nächstemal nicht wieder so überstürzt davon, ja?«
Ich hätte mir gern sein Gesicht genauer betrachtet, aber er gab mir keine Gelegenheit dazu, sondern kehrte sogleich an seinen Platz zurück. Ich wußte, daß Henry große Ähnlichkeit mit meinem Vater haben mußte, und ich wollte es ganz genau studieren. Doch dieser Mann weckte genau wie die anderen, außer Martha, keine Erinnerungen in mir.
Über Blumen und flackernde Kerzen hinweg lächelten wir alle einander freundlich zu, doch ich spürte, während wir den ersten Schluck Wein tranken, daß diese Freundlichkeit nicht stimmte. Ich wünschte mir so sehr eine Familie, daß ich mir dieses Verhalten kurzerhand damit erklärte, daß ich schließlich noch immer eine Fremde für diese Menschen sei, daß sie Zeit brauchten, um mich in ihrer Mitte aufzunehmen. Die quälende Ahnung, daß das Unbehagen meiner Verwandten einen anderen Grund haben könnte — und ich wußte nicht, welchen —, unterdrückte ich einfach.
Zwei Mädchen begannen, die Speisen aufzutragen, eine feine Bouillon zuerst, zu der Brot und Butter gereicht wurden, dann Platten mit Fleischpastete und Gemüse, das im eigenen Garten gezogen war. Wir aßen schweigend; ich hatte den Eindruck, daß das in diesem Haus so üblich war. Ab und zu fing ich einen Blick von Colin auf — wieder war es dieser forschende Blick —, und ich spürte, daß er wegen meiner ersten Worte zu ihm immer noch verärgert war. Gelegentlich lächelte Martha mir über den Tisch hinweg zu, aber auch sie verbarg ihre wahren Gefühle. Nur schien Martha mir gegenüber nicht dieses Unbehagen zu empfinden, wie die anderen; in den Augen meiner stillen Cousine spiegelte sich eher Traurigkeit.
Beim Dessert lockerte sich die Stimmung ein wenig, und meine Verwandten erwachten aus ihrer Schweigsamkeit.
Henry war es, der das Schweigen brach.»Die Lage in Amerika«, sagte er,»scheint ja immer schwieriger zu werden. Ich bin gespannt, wie lange es noch dauert, ehe es zum Bürgerkrieg kommt.«
«Das kommt nur, weil sie an der Sklaverei festhalten«, versetzte Theo.»Wir haben sie durch Parlamentsbeschluß schon 1833 in unseren Kolonien abgeschafft. Ich finde es barbarisch, daß sie unserem Beispiel nicht folgen.«
«Das mag richtig sein«, meinte Henry,»aber mir geht es weniger um die Sklaven als um die Baumwolle. Wenn die Südstaatler einen Krieg anfangen, sind unsere Baumwollieferungen gefährdet. «Ich hörte bei dieser Erörterung mit Interesse zu, da ich mich an Theos Bemerkung über eine Baumwollspinnerei in Manchester erinnerte. Hatten die Pembertons ihr Vermögen mit Baumwolle verdient? Ich hätte es wissen müssen; es war sicher kein Geheimnis, aber ich hatte keine Erinnerung daran.
«Es kommt ganz darauf an, ob den Südstaaten Menschlichkeit wichtiger ist als Profit.«
«Und wer soll die Baumwolle pflücken, wenn die Sklaven befreit werden? Hier geht es nicht um Moral und Menschlichkeit, Theo. Hier geht es um wirtschaftliche Interessen. Die gesamte Industrie der Südstaaten steht und fällt mit der Sklaverei. Wenn sie die aufgeben, erwartet sie wirtschaftlicher Niedergang. Die Baumwollpreise werden in die Höhe schnellen. Jeder Geschäftsmann weiß, daß man keine Gewinne machen kann, wenn man auf die Forderungen der Arbeiter Rücksicht nehmen muß.«
«Aber als vor elf Jahren das Gesetz über den Zehn-StundenTag erlassen wurde — «
Während Vater und Sohn sich unterhielten, beobachtete ich heimlich Colin. Ein- oder zweimal nahm er Anlauf, etwas zu sagen, und überlegte es sich dann anders. Und während Henry und Theo über die Geschäfte des Familienunternehmens sprachen, fragte ich mich, welchen Platz Colin in der Firma einnahm. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Gesten wirkten ein wenig verärgert.
Mit der Zeit jedoch begann ich ungeduldig zu werden. Waren diese Erörterungen von Familienangelegenheiten in meinem
Beisein ein Hinweis darauf, daß man bereit war, mich in die Familie aufzunehmen? Oder wollte man mit dieser Diskussion nichts weiter als meine Anwesenheit ignorieren?.
Das Essen war ausgezeichnet gewesen, der Wein erlesen, die Umgebung angenehm. Nur die Gesellschaft hatte meinen Erwartungen nicht entsprochen. Aber was hatte ich denn erwartet? Schließlich war ich für diese Menschen zwanzig Jahre verschollen gewesen! Hatte ich wirklich geglaubt, man würde mich lachend und weinend in die Arme schließen?
Aber plötzlich fiel mir wieder ein, was mich getrieben hatte, nach Pemberton Hurst zurückzukehren: Tante Sylvias Brief. Ich hätte vielleicht nie den Mut aufgebracht, hierher zu kommen, wäre es zufrieden gewesen, Edward zu heiraten und mein neues Leben zu beginnen, ohne meine Familie wiedergesehen zu haben, wenn nicht der Brief gewesen wäre. Als ich Tante Sylvias warme, besorgten Worte gelesen hatte, ihre Mitteilung, daß sie uns erst jetzt in London ausfindig gemacht und große Sehnsucht nach uns hätte, da hatte ich geglaubt, die ganze Familie wünsche unsere Rückkehr.
Wie sehr hatte ich mich getäuscht, denn meinen Verwandten war dieses Schreiben unbekannt.
Ich schaute zu dem Platz hin, an dem das unberührte Gedeck lag, und der Wunsch, meine Tante zu sehen, wurde übermächtig.»Bitte entschuldigt«, sagte ich laut,»aber darf ich jetzt hinaufgehen und Tante Sylvia besuchen?«
Annas Kopf flog herum. Die anderen schwiegen, als hätte ich ihnen das Wort abgeschnitten, und an dem Ausdruck auf ihren Gesichtern sah ich, daß ich etwas absolut Unpassendes gesagt hatte.
«Ach, Leyla«, sagte Martha schließlich, und in ihren Augen sah ich wieder dieses tiefe Mitleid.»Hat es dir denn keiner gesagt?«
«Was denn?«fragte ich erschrocken.»Tante Sylvia ist tot. Sie ist vor vier Wochen gestorben.«
Kapitel 3
Ich weiß nicht, warum diese Nachricht mich so heftig erschütterte. Ich hatte meine Tante ja nie gekannt, ich hatte keinerlei Erinnerungen an sie, nichts, was mich mit ihr verband. Und doch war ich wie vor den Kopf geschlagen; alle meine Hoffnungen hatten auf Sylvia Pemberton geruht.
Mit jeder neuen Begegnung in diesem Haus war mein Bedürfnis, sie zu sehen, stärker geworden, als werde sie die einzige sein, die sich ehrlich freuen würde, mich wiederzusehen. Aber nun war sie tot.
«Es tut mir leid, Leyla«, sagte Anna.»Ich hätte es dir sagen sollen. Jetzt habe ich dir das Abendessen verdorben.«
«Warum so niedergeschmettert, Cousine?«fragte Colin.»Du hast sie doch kaum gekannt.«
«Entschuldigt mich. «Ich sprang so heftig auf, daß mein Stuhl umkippte.
«Ach Gott!«sagte jemand; und Henry eilte um den Tisch herum zu mir.
«Es ist zuviel für sie«, sagte Anna.»Erst ihre Mutter, jetzt Sylvia. Das arme Ding braucht Ruhe. Bring sie hinauf, Henry. Ich schicke Gertrude mit einer Tasse Tee.«
Ich fühlte mich wie von Schleiern eingehüllt, als Henry mich aus dem Speisezimmer führte. Bis zu diesem Augenblick war ich mir nicht bewußt gewesen, wie sehr ich mich auf Tante Sylvias herzlichen Empfang verlassen hatte.
Henry schob seine Hand unter meinen Ellbogen und half mir die Treppe hinauf.
Der Geruch seines Haaröls stieg mir betäubend in die Nase, und die dunklen Wände schienen um mich herum zusammenzurücken. Ich würde nicht ohnmächtig werden, das war mir noch nie passiert, und doch schien es mir, als wäre ich nahe daran. In meiner Enttäuschung über Sylvias Tod war ich wütend auf die anderen. Jeder hatte die Gelegenheit gehabt, mir die traurige Wahrheit zu sagen, doch keiner hatte es getan. Warum nicht? Sie war doch nur eine fünfundsiebzigjährige unverheiratete Großtante gewesen, an die ich mich nicht erinnern konnte. Warum hatten sie geglaubt, ihr Tod könne mir etwas bedeuten? Warum hatten sie es nicht fertiggebracht, mir die Wahrheit zu sagen? Vor meiner Zimmertür blieben wir stehen. Durch die Nebelschwaden, die mich zu umgeben schienen, konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Dabei wünschte ich mir verzweifelt, ihn eingehend betrachten zu können. Immer wieder hatte ich beim Essen versucht, an Anna vorbeizusehen, um einen Blick auf das Gesicht zu erhaschen, das das meines Vaters hätte sein können.
Henry redete mit leiser, beschwichtigender Stimme auf mich ein. Hatte ich diese Stimme als Kind gehört, wenn mein Vater mich getröstet hatte? Brüder sind sich häufig sehr ähnlich. War Henry ein Abbild meines Vaters?
Die Zimmertür ging auf, und ich wankte hinein. Der Schock und die Enttäuschung über Sylvias Tod setzten mir sehr zu. Ich fand zum Bett und ließ mich jetzt weinend darauf niederfallen. Ich spürte Henrys Nähe. Er stand besorgt über mich geneigt.
Ich weinte und ließ die ganze Enttäuschung aus mir herausströmen, ehe ich schließlich nach meinem Taschentuch kramte, mir die Augen trocknete und aufstand. Henry stand immer noch an meinem Bett, ein gutes Stück größer als ich, und betrachtete mich schweigend.
«Verzeih mir«, sagte ich stockend.»Es tut mir leid, daß ich so unhöflich war.«
«Es ist nicht unhöflich, um eine Tote zu trauern, Bunny. «Er nannte mich bei diesem Namen, als hätten meine Mutter und ich Pemberton Hurst erst gestern verlassen. Indem er mich Bunny nannte, überbrückte er die Kluft von zwanzig Jahren.
Als ich meine Tränen getrocknet hatte, sah ich endlich zu ihm auf. Ein Bild blitzte auf. Es war, als hätte sich flüchtig ein Vorhang geöffnet, um mir eine Szene auf der anderen Seite zu zeigen, und sei sogleich wieder zugefallen. Nein, keine Szene eigentlich, kein Bild, das ich festhalten konnte. Es war mehr ein Gefühl. Als ich in Henrys ausdrucksloses Gesicht sah, überkam mich ein tiefer Schmerz, Qual beinahe, die an etwas anderes grenzte, das ich in diesem Moment nicht benennen konnte. Die dichten Wimpern hingen schwer über seinen Augen. Die Nase war eine Spur zu groß, das Kinn kaum eingekerbt. Und die Ausstrahlung, die mir in dieser Sekunde bewußt geworden war, war eine Ausstrahlung tödlichen Verhängnisses. Ich sah in Henrys Gesicht und spürte, wie eine tiefe Niedergeschlagenheit sich meiner bemächtigte, ein Gefühl der Aussichtslosigkeit. Aber warum dieses Gefühl?
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