«Colin!«rief er.»Der hatte in der Tat etwas zu gewinnen und nichts zu verlieren.«
«Dr. Young!«
«Etwa nicht? Das gesamte Vermögen der Pembertons. Die Fabriken und das Haus.«
«Nein! Nein!«rief ich.»Das glaube ich nicht. Niemals. «Er versuchte, mich zu beruhigen, indem er wieder meine Hände umfaßte.»Ich habe den Eindruck, Miss Pemberton, daß Sie für Colin mehr empfinden als verwandtschaftliche Neigung. Aber diese Gefühle dürfen Ihren klaren Blick und Ihr Urteil nicht trüben. Sie mögen ihn lieben, aber das heißt nicht, daß er des Mordes nicht fähig ist. Haben Sie mich verstanden, Miss Pemberton?«
«Aber es wußte doch niemand, daß es kein Testament von Henry gab«, sagte ich leise.»Theo war sogar sicher, daß sein Vater eines gemacht hatte. Alle glaubten das. Und da Theo ganz bestimmt ein großes Erbe erwartete, könnte man ebensogut annehmen, daß er den Mord begangen hat. Wenn Sie hätten sehen können, wie außer sich er gestern abend war, als er erfuhr, daß er nichts bekommen würde! Und Colin behauptet, von Sir Johns Testament keine Ahnung gehabt zu haben!«
Ich sah Dr. Young beschwörend an. Nein, ich wollte es nicht einmal denken. Colin war unschuldig. Ganz bestimmt. Am vergangenen Abend hatte er immer wieder erklärt, nichts davon gewußt zu haben, daß Henry kein Testament gemacht und Sir John verfügt hatte, daß er zum Alleinerben eingesetzt werden sollte.
«Außerdem«, sagte ich mit festerer Stimme,»glaube ich, daß alle drei Morde von derselben Person begangen wurden: Mein Vater, Sir John und mein Onkel Henry. Und wenn das zutrifft, kann es Colin gar nicht gewesen sein. Er war zu der Zeit, als mein Vater ums Leben kam, gerade vierzehn.«
Dr. Young schwieg nachdenklich. Dann sagte er zu meiner Erleichterung:»Da haben Sie recht. Das spricht gegen Colins Schuld. Wenn er die Wahrheit sagt und wirklich nicht wußte, daß Ihr Onkel kein Testament gemacht hatte, dann ist der Verdacht, daß Theodore der Schuldige ist, in der Tat nicht von der Hand zu weisen. Er war damals, als Ihr Vater starb, immerhin achtzehn Jahre alt, rein körperlich des Mordes durchaus fähig.«
Ich fühlte mich schwach und elend. Wie schrecklich war das alles! Hier saß ich in diesem behaglichen Wohnzimmer, meine Röcke über dem weichen Sofa ausgebreitet, vor mir Tee und feine Biskuits und versuchte, mir vorzustellen, wer von meinen Verwandten ein Mörder war. Dr. Young, der wohl spürte, was in mir vorging, sagte:»Hätte ich gewußt, was für Enthüllungen dieser Nachmittag bringen würde, ich hätte Ihnen Brandy statt Tee angeboten.«
Ich lächelte, dankbar für sein Verständnis und dankbar dafür, daß er da war. Hätte ich all diese Entdeckungen allein gemacht, so wären sie noch viel schwerer zu ertragen gewesen.»Was haben Sie jetzt vor, Miss Pemberton?«
«Das weiß ich selbst noch nicht. Ich muß auf jeden Fall sehr vorsichtig sein und mir alles gründlich überlegen. Ich bin überzeugt, daß einer meiner Verwandten ein Mörder ist, und ich bin fest entschlossen herauszufinden, wer.«
Nun stand ich wieder ganz am Anfang. Die vergangene Woche war ausgelöscht, als hätte es sie nie gegeben. Es war wieder wie am dritten Abend nach meiner Ankunft auf Pemberton Hurst, als ich am großen Tisch im Speisezimmer stand und erregt rief:»Ich glaube, daß der Pemberton-Fluch eine Erfindung ist, ein Schauermärchen, das jemand sich ausgedacht hat, um meinem Vater die Schuld zuzuschieben und den wahren Mörder zu decken!«
Der Beweis aus Thomas Willis’ Buch hatte jetzt keine Bedeutung mehr, da er nun als Lüge enttarnt worden war. Die alte Entschlossenheit erwachte wieder in mir. Die alte Wut und die alte Bitterkeit kehrten dahin zurück, wo eben noch Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Ergebenheit in die Macht des Schicksals gewesen waren.
Und noch etwas regte sich in mir; etwas Neues, das vorher nicht dagewesen war. Es war Zorn, rasender Zorn darüber, daß durch einen gemeinen Betrug alle Freude und alles Glück aus diesem Haus vertrieben worden waren. Diese eine Seite in Cadwalladers Buch hatte einer ganzen Familie die Hoffnung und die Zukunft genommen. Diese niederträchtige Fälschung hatte Colin, Martha und Theo dazu getrieben, ein einsames Leben zu führen, ein Leben ohne Liebe, ohne Kinder und ohne Zukunft. Sie hatte meine Familie aller Kraft beraubt.
Darum war ich um so fester entschlossen, das Geheimnis von Pemberton Hurst zu lüften.
«Miss Pemberton, draußen ist es schon dunkel geworden«, hörte ich Dr. Youngs gedämpfte Stimme.
«Mir geht so viel durch den Kopf, Dr. Young. Ich muß das alles erst einmal ordnen. «Meine Gedanken überschlugen sich: Tante Sylvias Brief, Theos Ring, die Vernichtung meines Briefes an Edward. Edward, an den ich seit Tagen nicht mehr gedacht hatte. Die alten Fragen stürzten wieder auf mich ein. Wer hatte den Ring gestohlen und warum? War er gestohlen worden, weil er mit den Vorkommnissen im Wäldchen zu tun hatte? Und was war wirklich im Wäldchen geschehen? Wie sollte ich es schaffen, mir ins Gedächtnis zu rufen, was sich an jenem Tag vor zwanzig Jahren dort abgespielt hatte? Wer hatte meinen Brief an Edward verbrannt? Wer hatte meiner Mutter unter dem Namen Tante Sylvias geschrieben?
Ich spürte die Berührung einer Hand auf meinem Arm. Ich hörte eine freundliche Stimme, die behutsam auf mich einsprach, aber ich achtete nicht auf ihre Worte.
Ich zitterte innerlich vor Zorn. Dieser Mörder hatte nicht nur drei Menschen umgebracht, er hatte auch den Lebensmut der Pembertons getötet. Arme Martha! Armer Colin, zornig und bitter. Arme Großmutter, die schon vor ihrem Tod wie in einer Gruft lebte. Und arme Mutter, die in dem Elendsviertel von Seven Dials ein Leben in Armut gefristet hatte, weil sie geglaubt hatte, ihre Tochter sei das Opfer einer bösartigen, heimtückischen Krankheit. Soviel Elend und soviel Unglück durch einen einzigen verbrecherischen Menschen, der sich die Geschichte von der Erbkrankheit der Pembertons ausgedacht hatte.
Die leise Stimme drängte von neuem. Der Sturm des Zorns legte sich, und ich sah endlicher. Young ins Gesicht.»Verzeihen Sie«, sagte ich leise.
«Sie machen ein so seltsames Gesicht, Miss Pemberton. Sagen Sie mir doch, warum Sie das alles auf sich nehmen wollen.«
«Weil ich in gewisser Weise die Verantwortung trage. Ich bin eine Außenstehende; ich habe nicht jahrelang in klösterlicher Zurückgezogenheit gelebt wie die anderen. Ich allein kann die Ereignisse mit objektivem Blick sehen und der Wahrheit auf den Grund gehen. Die anderen werden es nicht tun.«
Er musterte mich aufmerksam, und ich wurde rot unter seinem forschenden Blick.
Ich wandte mich von ihm ab. Ich wollte mich in diesem Moment nicht durchschaut wissen. In mir tobte ein Aufruhr der Gefühle: Liebe zu Colin, Trauer und Schmerz um die Toten, Trotz und Erbitterung gegen den unbekannten Feind und, vor allem — Zorn.»Darf ich Sie jetzt nach Hause bringen?«fragte Dr. Young. Obwohl er mich schon zuvor daran erinnert hatte, wie spät es war, überraschte es mich jetzt, wie lange ich hier gewesen war. Hastig stand ich auf.
«Danke«, sagte ich,»das ist sehr freundlich von Ihnen. Verzeihen Sie mir, wenn ich Sie von Ihrer Arbeit abgehalten habe. Ich hatte nicht vor, Sie so lange zu belästigen.«
«Aber nein, ich habe mich über Ihren Besuch gefreut und ich bin froh, daß ich Ihnen eine kleine Hilfe sein konnte. «Er meinte es ehrlich, das fühlte ich.
«Danke, Doktor«, sagte ich.»Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.«
«Eines muß ich Ihnen allerdings noch sagen, Miss Pemberton, ehe Sie gehen. Es ist meine Pflicht als Arzt, meinen Befund der Polizei mitzuteilen. Nein, warten Sie«, sagte er, als ich ihn unterbrechen wollte.»Lassen Sie mich ausreden. Ich muß die Polizei unterrichten, das wissen Sie. Aber aus Rücksicht auf Sie und das, was Sie tun müssen, werde ich warten, solange es mir mein Gewissen erlaubt, ehe ich Meldung mache. In der Zwischenzeit haben Sie mein volles Vertrauen.«
Mrs. Finnegan betrachtete mich immer noch mit Mißbilligung, als Dr. Young mir in mein Cape half, aber es war mir völlig gleichgültig. So vieles war mir gleichgültig geworden. London und Edward gehörten einer Vergangenheit an, die so fern schien wie ein Traum. Nur Colin bedeutete mir etwas in diesem Moment. Colin und meine Familie. Nie werde ich den Geruch feuchten Leders vergessen, der mich empfing, als ich in den Wagen stieg, niemals das Geräusch des Regens, der an die Wände des Wagens prasselte. Der Hufschlag des Pferdes klang dumpf auf den durchweichten Wegen, manchmal knirschten die Räder, wenn sie über einen Stein rollten. Während der Wagen schwankend dahinfuhr, starrte ich auf den nickenden Kopf des Pferdes und die lange Mähne, die am Hals des Tieres klebte. Die Zweige regenschwerer Tannen streiften den Wagen, als wir vorüberfuhren. Regen sprühte hinein, benetzte mein Gesicht und befeuchtete die Decke über meinen Knien. Ich sprach kein Wort. Es gab nichts zu sagen. Dr. Young, der die Zügel hielt, verstand es und ließ mich schweigen.
An der Stelle, wo die Auffahrt zum Haus von der Straße abzweigte, bat ich Dr. Young anzuhalten.
«Von hier ist es nur noch ein kurzes Stück, und ich möchte die Familie in dem Glauben lassen, daß ich nur spazieren war.«
«Gut, wenn Sie meinen«, sagte er widerstrebend.»Aber versprechen Sie mir eines, Miss Pemberton: Wenn Sie zu einer Entscheidung gelangt sind, dann lassen Sie es mich wissen, ehe Sie handeln. «Ich mußte ein wenig lächeln über seine Besorgnis.»Das verspreche ich Ihnen gern. Aber es ist sicher, daß ich etwas tun muß. Und bald. Wir wissen ja nicht, ob der Mörder nicht schon wieder ein neues Opfer gefunden hat. Drei Menschen sind tot. Vielleicht trifft es bald den nächsten.«
Dr. Young war erschrocken. Dieser Gedanke war ihm offenbar noch nicht gekommen.»Miss Pemberton«, sagte er eindringlich,»seien Sie vorsichtig. Bitte, seien Sie vorsichtig.«
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