«Ja, natürlich, aber — «

«Ich werde Ihnen nachher alles erklären, falls sich als wahr herausstellen sollte, was ich vermute. Sollte ich mich geirrt haben, so werden Sie weiterhin an die Existenz des Tumors glauben müssen. Sind Sie damit einverstanden? Ich bleibe nicht lange weg, und Sie können jederzeit Mrs. Finnegan läuten, wenn Sie etwas brauchen.«

«Ja.«

Stocksteif saß ich da und sah ihm nach, als er hinausging. Ich mußte ihm jetzt vertrauen. Ganz gleich, was er jetzt dort unten in seinem geheimnisvollen Laboratorium tat, ganz gleich, welche Antwort er mir zurückbringen würde, ich würde sie bedingungslos annehmen dürfen.

Der Regen war stärker geworden, und das Feuer mußte in der folgenden Stunde mehrmals von Mrs. Finnegan geschürt werden, aber mir wurde die Zeit nicht lang. Ich war in Gedanken bei Colin, den ich liebte, trotz seiner Launen und seiner unberechenbaren Stimmungen. Ich liebte ihn immer noch, obwohl er mir nicht die Wahrheit über sich gesagt hatte. Er mußte einen guten Grund dafür gehabt haben, sonst. Als Dr. Young zur Tür hereinkam, fuhr ich zusammen und bekam beinahe einen Schrecken bei seinem Anblick. Das war nicht mehr der elegante alte Herr, der mich empfangen und bewirtet hatte. Er hatte den grauen Gehrock abgelegt und stand in Hemdsärmeln, wie ein Arbeiter, vor mir. Und auf seiner Weste waren zu allem Überfluß auch noch undefinierbare Flecken. Aber noch mehr als sein Aussehen erschreckte mich der Ausdruck seines Gesichts. Es verriet unverkennbar tiefes Entsetzen.

Ich sprang auf.

«Miss Pemberton«, begann er stockend.»Bitte setzen Sie sich.«

«Was ist denn?«

«Bitte, ich — «Er kam durch das Zimmer auf mich zu und nahm meine Hände.»Miss Pemberton, bitte setzen Sie sich. «Wir setzten uns beide auf das Sofa. Er ließ meine Hände nicht los.»Wie Sie wissen«, begann er,»habe ich mich hierher aufs Land zurückgezogen, um in Ruhe meiner Forschungsarbeit nachgehen zu können. Ich kann mir vorstellen, daß Sie über wissenschaftliche Forschung nicht viel wissen, lassen Sie mich darum nur sagen, daß man zu solcher Arbeit ein Laboratorium, gute Geräte, bestimmte Chemikalien und gewisse — andere Substanzen braucht. Bei meiner Forschungsarbeit brauche ich insbesondere menschliches Blut, um die notwendigen Untersuchungen und Versuche durchführen zu können. Mit meinen Chemikalien — ach, es ist ein kompliziertes Verfahren, Miss Pemberton, bei dem ich mit dem Blut gesunder und dem Blut kranker Personen experimentiere, weil ich hoffe, auf diesem Weg der Ursache und dem Wesen bestimmter Leiden auf die Spur zu kommen. Denn erst wenn diese mir bekannt sind, kann ich vielleicht ein Heilmittel entwickeln. Es ist nicht einfach, die für meine Untersuchungen nötigen Blutproben zu bekommen. Im Rahmen des neuen Post Mortem-Gesetzes kann ich mir zwar aus den Londoner Krankenhäusern Blut liefern lassen, aber es kommt in der Regel in schlechtem Zustand hier an. Darum bemühe ich mich, auch hier an Ort und Stelle Blutproben zu bekommen, von den Spinnereiarbeitern zum Beispiel, die ich wegen eines Unfalls oder einer Krankheit behandle. Nach dem Tod Ihres Onkels, Miss Pemberton, erlaubte ich mir, Ihre Tante zu fragen, ob ich eine Blutentnahme vornehmen dürfte, und sie war so liebenswürdig, es mir zu gestatten. Ich hatte also in meinem Laboratorium in einem mit Äther gekühlten Behälter eine Phiole mit Blut Ihres Onkels. «Er hielt einen Moment inne.

«Bitte fahren Sie fort, Dr. Young«, sagte ich ruhig.»Ich falle nicht in Ohnmacht.«

«Gut. Als wir vorhin miteinander sprachen, stellten Sie eine durchaus berechtigte Frage. Woran ist Ihr Onkel gestorben? Dabei kam mir der Gedanke, daß ich das bei mir vorrätige Blut untersuchen könnte. «Ich drückte mir die Hand auf die feuchte Stirn.»Bitte, Dr. Young, sagen Sie mir doch, was Sie gefunden haben.«

«Ihr Onkel, Miss Pemberton, ist nicht an einem Gehirntumor gestorben.«

Ich sah den Mann, der immer noch fest meine Hände hielt, ungläubig an. Das Zimmer schien mir zu schwanken, und mir wurde plötzlich unerträglich heiß.

«Er ist nicht an einem Gehirntumor gestorben?«wiederholte ich benommen.»Onkel Henry ist nicht an einem Gehirntumor gestorben? Aber — aber wissen Sie dann, Doktor, woran er wirklich gestorben ist?«

«Ja. Und es gibt keinen Zweifel an meinem Befund. Erinnern Sie sich unseres Gesprächs in Ihrem Zimmer, als wir über die Symptome Ihres Onkels sprachen? Ich sagte Ihnen damals, daß sie völlig atypisch seien. Jetzt weiß ich, warum das so war. Kopfschmerzen, Übelkeit, Leib schmerzen, Delirium und Schüttelkrämpfe gehören zum Krankheitsbild eines Leidens, das von völlig anderer Art ist als ein Gehirntumor. Und hätte ich in meiner Praxis mehr Umgang damit gehabt, so hätte ich es viel eher erkannt. Ich habe zu bereitwillig die Diagnose des Gehirntumors akzeptiert.«

«Bitte sagen Sie mir, Doktor, was Sie entdeckt haben.«

«Miss Pemberton, das Blut Ihres Onkels enthielt eine hohe Menge Digitalis. Extrakt des Fingerhuts. Da ich selten mit Patienten zu tun hatte, die an Herzkrankheiten litten, bin ich den Symptomen, die für eine Digitalisvergiftung so typisch sind, auch selten begegnet. Aber wenn ich jetzt zurückblicke, die Kopfschmerzen, die Übelkeit — «

«Dr. Young! Warum hat mein Onkel dieses Medikament genommen?«

Einen Moment lang sah Dr. Young mich schweigend an, dann antwortete er ernst:»Die Mengen Digitalis, die Ihr Onkel im Blut hatte, dienten nicht der Behandlung eines Herzleidens. Man hat ihm das Mittel gegeben, um ihn zu vergiften. «Mir wurde eiskalt.»Man hat ihn vergiftet?«

«Ja. Die Medizin wurde ihm in zunächst kleinen Mengen eingegeben, die langsam gesteigert wurden, und er versuchte, sich mit Laudanum von den Symptomen zu befreien. Es ist schwer zu sagen, was ihn letzten Endes tötete — das Digitalis oder das Morphium. Sein Blut enthielt große Mengen von beidem.«

«Und Sie sagen, es wurde ihm eingegeben?«

«Er hat es zweifelsohne nicht selbst genommen. Digitalis ist ein Herzmittel, und Ihr Onkel hatte am Herzen keinerlei Beschwerden. Das hätte er mir sonst gewiß gesagt, als ich ihn das erstemal untersuchte. Im übrigen enthalten auch Dr. Smythes Aufzeichnungen keinen Hinweis auf ein Herzleiden Ihres Onkels.«

«Sie glauben also, daß mein Onkel ermordet wurde.«

«Ja, Miss Pemberton, das glaube ich.«

Fassungslos sank ich in mich zusammen. Mir war, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Erst die Sache mit Colin, dann das Buch, dann Henry. Mein Kopf begann wieder zu schmerzen.»Wir müssen zur Polizei gehen, Miss Pemberton.«

«Zur Polizei?«

«Ich werde Ihnen beistehen. Wir haben unumstößliche Beweise, daß Ihr Onkel ermordet wurde — «

«Nein!«sagte ich hastig.»Was könnte denn die Polizei schon tun? Soll sie vielleicht die ganze Familie verhaften? Man würde lediglich einen nach dem anderen verhören, und dann alle wieder gehen lassen. Und dann wären wir beide in Gefahr, Dr. Young, Sie und ich. «Noch während ich sprach, kam mir ein neuer Gedanke.»Dr. Young, Sie sagten neulich bei unserem Gespräch, daß Dr. Smythes Aufzeichnungen zufolge, mein Vater und mein Großvater auf die gleiche Weise erkrankten wie mein Onkel.«

«Ja, das ist richtig.«

«Dann müssen sie auch ermordet worden sein. «Ich richtete mich kerzengerade auf.»Dann hatte ich also die ganze Zeit recht. Mein Gefühl hatte mich nicht getrogen. Mein Vater wurde tatsächlich ermordet.«

«Ich kann das nicht beurteilen, Miss Pemberton. Ich kann nur zum Tod Ihres Onkels aussagen. Die anderen — das liegt in der Vergangenheit. Dahin können wir nicht mehr zurückkehren.«

Ich kniff die Augen zusammen.»O doch, das können wir!«erklärte ich beinahe triumphierend. Es gab einen Weg, in die Vergangenheit zurückzukehren und zu sehen, was damals wirklich geschehen war. Der Weg führte über die Erinnerungen eines kleinen Mädchens namens Leyla Pemberton.

«Meiner Ansicht nach gehen Sie mit dieser Geschichte nicht richtig um, Miss Pemberton. Wenn Sie jemanden aus Ihrer

Familie des Mordes verdächtigen, sollten Sie sich an die Polizei wenden. Sie dürfen diese Sache nicht selbst in die Hand nehmen. Das ist zu gefährlich. Miss Pemberton, bitte, gehen Sie zur Polizei. Ich müßte sonst bedauern, Sie eingeweiht zu haben.«

«Ich wäre der Wahrheit früher oder später sowieso auf die Spur gekommen, Dr. Young. Wenn nicht durch Ihren klaren Beweis durch das Blut, dann doch aufgrund von Mutmaßungen über die gefälschte Buchseite. Die Tatsache, daß der Tumor Erfindung ist, führt doch zwangsläufig zu der Frage, woran mein Onkel denn wirklich gestorben ist. Und ob nicht die Person, die die gefälschte Seite einfügte, den Tod meines Onkels wünschte oder gar herbeiführte. Ungewiß ist nur, wer es tat und warum. Die gefälschte Seite muß vor langer Zeit gedruckt worden sein, vielleicht schon vor dem Tod meines Vaters. Ich verstehe das nicht. Derjenige, der ihn und meinen Großvater getötet hat, muß auch Onkel Henry getötet haben. Das geht aus der Todesart klar hervor. Hat die Polizei dafür nicht ein bestimmtes Wort?«

«Modus operandi«, antwortete Dr. Young und schüttelte resignierend den Kopf.

«Ich muß nachdenken. Ich bin völlig durcheinander. Wer, um alles in der Welt, kann Onkel Henrys Tod gewünscht haben? Und warum? Zu welchem Gewinn? Ganz gewiß nicht Anna und Martha. Sie haben durch seinen Tod nichts gewonnen. Es heißt immer, Gift wäre die Waffe der Frau. Wenn das stimmt, wer von den Frauen in unserer Familie hatte dann einen Grund, Onkel Henry zu töten? Etwa seine eigene Mutter, meine Großmutter? Oder könnte es eines der Mädchen gewesen sein, das einen Groll gegen ihn hegte? Oder Theo und Colin? Was hatten sie zu gewinnen — «

Das Wort blieb mir im Hals stecken, und Dr. Young hob mit einem Ruck den Kopf.