Endlich in meinem Zimmer, streckte ich mich auf dem Sofa vor dem wärmenden Feuer aus. Der Regen schlug an meine Fenster. Meine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer und Übelkeit stieg in mir auf. Ich nahm etwas Laudanum, mehr als sonst, um die Schmerzen endlich loszuwerden.

Nach einer Weile begann die Arznei zu wirken. Mein Kopf wurde freier, und ich spürte, wie das von Laudanum bewirkte Gefühl leichter Euphorie von mir Besitz ergriff. Müde stand ich auf, kleidete mich aus und schlüpfte in mein Bett. Bevor ich einschlief, nahm ich Thomas Willis’ Buch vom Nachttisch und legte es ungeöffnet auf meine Bettdecke, in der Hoffnung, daß mir, wenn ich es nur lange genug ansah, der flüchtige Traum wieder einfallen würde.

Doch anstelle des Traums kam mir eine andere Erinnerung — an das Gespräch, das ich drei Tage zuvor mit Dr. Young geführt hatte. >Sie haben doch das Buch von Thomas Willis gelesen, nicht wahr?< hatte ich Dr. Young gefragt. Und er hatte geantwortet: >Thomas Willis? Ja, aber damals habe ich noch studiert.<

Ich war sehr schläfrig, aber ich spürte, daß ich der Antwort sehr nahe war. Ich schlug nun doch das letzte Kapitel des Buches auf und überflog den Text, den Thomas Willis vor langer, langer Zeit niedergeschrieben hatte. >Da wir nunmehr die Natur der Seuche aufgezeigt haben. vor allem solche Fiberkrankheiten, die man als seuchenartig und heimtückisch bezeichnet. werden als seuchenartiges Fiber bezeichnet. < Was war es nur, das mich nicht losließ? Irgend etwas an dem Buch war mir als sonderbar aufgefallen, und ich hatte es nur in einem Traum erkannt.

Dr. Youngs Worte fielen mir ein.»Bei Thomas Willis erinnere ich mich an endlos lange Sätze, verblüffende anatomische Diagramme und eine eigenwillige Orthographie.«

Ich blätterte um zur entscheidenden Seite. >Als dieses Fieber das erstemal auftrat..< Ich las die ganze Seite bis zum Ende, kehrte zum Beginn zurück und begann noch einmal zu lesen. Und da sah ich es plötzlich. Gleich im ersten Satz. Das Wort Fieber war hier anders geschrieben als auf den Seiten vorher. Ich las noch einmal den ganzen Text und stellte fest, daß in der ganzen Passage über die sogenannte Pember Town Krankheit das Wort Fieber ohne ie geschrieben war.

Darum war es in meinem Traum gegangen. Jetzt erinnerte ich mich. Im Traum war mir diese Unregelmäßigkeit aufgefallen und hatte mich stutzig gemacht.

Während ich jetzt allerdings auf die anders geschriebenen Wörter starrte und an den Traum dachte, verstand ich nicht, weshalb mich das so bewegt hatte.

Ich legte das Buch wieder auf meinen Nachttisch und blies die Lampe aus. Während ich mit offenen Augen dalag und dem Regen lauschte, der an die Fensterscheiben trommelte, überlegte ich mir, daß ich trotz allem das Buch morgen einmal Dr. Young zeigen wollte.

Damen der guten Gesellschaft, so wollte es die Sitte, hatten Begräbnissen nicht beizuwohnen; doch moderne Frauen, die selbstbewußter waren, sorgten dafür, daß sich das langsam änderte. Zu meiner Überraschung erwies sich auch Anna als eine solche Frau. Ich glaubte allerdings, daß sie weniger aus gesellschaftlicher Rebellion handelte, als vielmehr aus einem tiefen Bedürfnis heraus, ihrem verstorbenen Mann bis zum letzten Moment nahe zu sein. Sie jedenfalls nahm an Henrys Beerdigung teil, während Martha und ich zu Hause blieben; Martha vor allem, weil sie das feuchte Wetter scheute, ich, weil ich es sehr ungehörig gefunden hätte, zu gehen. Selbst dem Begräbnis meiner Mutter hatte ich nicht beigewohnt, sondern hatte in der Stille meines Zimmers um sie getrauert. Anna fuhr also mit ihrem Sohn und Colin im Vierspänner zur Stadt, während Martha und ich zurück blieben.

Nach dem Frühstück verspürte ich leichte Kopfschmerzen, denen ich aber gleich mit einer Dosis Laudanum beikam. Danach versuchte ich eine Weile zu lesen, doch ich konnte mich nicht auf die fremden Schicksale konzentrieren, und auch am Klavier hielt es mich nicht lange. Immer noch beschäftigte mich Thomas Willis’ Buch. Es ließ mich nicht los, obwohl ich mir sagte, daß das, was ich entdeckt hatte, völlig belanglos war. Die Gedanken an das Buch verfolgten mich, während ich in meinem Zimmer ein leichtes Mittagessen einnahm, sie lenkten mich beim Lesen ab, sie beschäftigten mich, während ich am Klavier saß und nach Noten suchte.

Um ein Uhr waren die drei immer noch nicht von der Beerdigung zurück. Ich beschloß, meinen gewohnten Spaziergang zu machen. Aber diesmal sollte er mich direkt zum Eichenhof führen, wo Dr. Young wohnte. Mit Thomas Willis’ gelehrtem Werk fest unter dem Arm marschierte ich los.

Der Eichenhof, den sein früherer Eigentümer vor sechs Jahren verkauft hatte, nachdem er Frau und Kinder bei einer Scharlachepidemie verloren hatte, war nicht schwer zu finden. Nach zweistündigem Marsch durch Wiesen und Felder war man dort. Ich hätte gern den Einspänner genommen, aber das hätte vielleicht zu Fragen Anlaß gegeben, und aus einem mir selbst unerklärlichen Grund hielt ich es für besser, mein Unternehmen geheimzuhalten. Es war mir ein wenig unbehaglich angesichts der Tatsache, daß ich als junge Dame aus gutem Haus ohne Begleitung einen alleinstehenden Herrn aufsuchen wollte. Aber, tröstete ich mich, der Mann war schließlich Arzt, genoß großes Ansehen, war viele Jahre älter als ich und hatte gewiß eine Haushälterin.

Grauer Rauch stieg aus dem Kamin zum bewölkten Himmel auf, ein Zeichen, daß der Doktor vermutlich anwesend war. Als ich näherkam, sah ich, daß in den vorderen Fenstern des Bauernhauses Licht brannte, ebenfalls ein gutes Zeichen. Aber nun wurde mir doch etwas beklommen zumute, und die Füße wurden mir recht schwer, als ich den aufgeweichten Weg entlangging. Ich mußte meine ganze Entschlossenheit zusammennehmen, um nicht umzukehren. Erstens, sagte ich mir, brauchte ich Laudanum — die Kopfschmerzen plagten mich schon wieder; und zweitens wollte ich Dr. Young Thomas Willis’ Buch zeigen.

Zu meiner großen Erleichterung öffnete mir auf mein Klopfen eine handfeste ältere Frau mit einer fleckigen Schürze um den runden Bauch und einem Häubchen auf dem grauen Haar. Sie begutachtete mich mit unverhohlener Verwunderung, als sie sah, daß ich allein gekommen war.

«Sind Sie krank?«fragte sie, mich einfach vor der Tür stehen lassend.»Nein. Ist Dr. Young zu Hause?«fragte ich ein zweites Mal. Sie warf einen Blick auf meinen Bauch, vermutlich um festzustellen, ob ich schwanger sei.»Erwartet er Sie?«

«Nein, das glaube ich nicht. Wir sind miteinander bekannt. Ich komme von Pemberton Hurst und — «

Sie machte ein so erschrockenes Gesicht, daß ich abbrach. Ja, ich kam aus diesem Haus, über das man sich so viele Geschichten erzählte. Was hatte diese Frau nur über uns gehört?

Dr. Young, der unversehens hinter der Haushälterin auftauchte, rettete mich schließlich vor weiterem Verhör.

«Hallo, Miss Pemberton. Das ist aber eine Überraschung. Treten Sie doch ein.«

Die Haushälterin trat widerstrebend zur Seite, beäugte mich aber weiterhin mit Argwohn.

«Mrs. Finnegan, es ist Teezeit. Würden Sie uns den Tee bitte in den Salon bringen?«

Ich war froh, als sie endlich ging.

Dr. Young nahm mir Cape und Hut ab, hängte beides auf und erkundigte sich freundlich nach meinem Befinden.

«Ich habe wieder einmal Kopfschmerzen und kein Laudanum mehr.«

«Ah ja. «Er betrachtete mich mit einiger Besorgnis.»Es sind die Umstände, Doktor. Erst Onkel Henrys Tod, dann gestern abend die Testamentseröffnung, heute die Beerdigung und dazu dieses schreckliche Wetter.«

«Ja, natürlich. «Er führte mich aus der kleinen Empfangshalle in ein sehr gemütliches Wohnzimmer.»Dort drüben«, sagte er und wies auf eine Verbindungstür,»sind mein Sprechzimmer und mein Behandlungsraum. Unten im Keller ist mein Laboratorium, wo ich nach Mrs. Finnegans Meinung mit dem Teufel Hand in Hand arbeite.«

Lachend setzte ich mich nieder. Dr. Young hatte mir augenblicklich alles Unbehagen genommen.

«Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind, Miss Pemberton. Es war mir eine solche Freude, nach Jahren des Schweigens wieder von meinem alten Freund Oliver Harrad zu hören. Nachdem ich gestern nach Hause gekommen war, habe ich ihm sofort geschrieben. Man sollte nicht die Verbindung zueinander verlieren, nur weil man räumlich getrennt ist.«

Er setzte sich mir gegenüber und beugte sich über den Tisch, wo ich das Buch abgelegt habe.

«Ich sehe, Sie haben mir ein Buch mitgebracht. Ah ja, Cadwalladers Ausgabe der gesammelten Werke von Thomas Willis. Und da haben wir ja Mr. Willis persönlich. «Er betrachtete das Porträt.»Ja, ich bin sicher, daß ich das Buch auch irgendwo habe. Ich hatte noch keine Zeit nachzusehen.«

«Mir kommt es nur auf eine Seite in dem Buch an, Doktor. Würden Sie sich die einmal ansehen? Es dauert nicht lange, das verspreche ich. «Er lächelte.»Nun, dann werde ich sie wohl lesen müssen. «Ich blätterte bis zu der angemerkten Stelle, schob ihm das Buch wieder hin und wartete gespannt, während er las.

Es dauerte nicht lange, da sah Dr. Young wieder auf, das Gesicht sehr ernst.»Jetzt verstehe ich, Miss Pemberton, warum

Sie es für wichtig hielten, daß ich mir das ansehe. Hier ist der Beweis für den Pemberton Tumor, noch dazu dokumentiert von einem der geachtetsten Wissenschaftler der Geschichte der Medizin. Das ist höchst interessant. Ich bin beeindruckt.«

«Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, Doktor?«

«Noch etwas? Nein.«

Ich schlug mir an die Stirn.»Natürlich, es kann Ihnen ja nicht aufgefallen sein. Warten Sie, ich zeige es Ihnen. «Ich griff nach dem Buch und blätterte eine Seite zurück.

«Schauen Sie«, sagte ich,»hier schreibt er das Wort Fieber ohne e, und so ist es, so weit ich gelesen habe, im ganzen Buch, auch vorn im Inhaltsverzeichnis. Aber hier — «ich blätterte wieder um und zeigte auf die entscheidenden Stellen —»ist das Wort Fieber mit ie geschrieben. Finden Sie das nicht auffallend?«