«Was soll das heißen, Sir«, unterbrach Theo plötzlich so heftig, daß wir alle zusammenfuhren.»Was soll das heißen, mein Vater hat kein Testament hinterlassen?«
«Eben das, Mr. Pemberton.«
«Ja, natürlich, das habe ich schon verstanden. Aber ich möchte wissen, wieso er kein Testament hinterlassen hat. Ich weiß, daß er eines gemacht hat. Das weiß ich ganz genau.«
«Bei mir hat er es nicht hinterlegt, Sir, und ich betreue nun die Angelegenheiten Ihrer Familie seit zwölf Jahren.«
«Dann muß es im Safe liegen. Ja, er hat es sicher in den Safe gelegt.«
«Da haben wir nachgesehen, Mr. Pemberton. Es ist kein Testament vorhanden.«
Theo, der halb von seinem Stuhl aufgestanden war, setzte sich langsam wieder.»Was sind das dann für Schritte, die man, wie Sie eben sagten, in einem solchen Fall unternehmen kann?«fragte er ruhiger.»Das Gesetz hat für solche Fälle Vorsorge getroffen, um die Erbberechtigten zu schützen. Unser Fall jedoch ist insofern etwas anders gelagert, als der Vorgänger Ihres Vaters, Ihr Großvater also, für die Situation, die jetzt eingetreten ist, vorgesorgt hat. Damit will ich sagen, daß das Testament Ihres Großvaters eine Klausel enthält, die den Nachlaß regelt für den Fall, daß Ihr Vater kein Testament hinterlassen sollte.«
«Und Sie haben eine Abschrift dieses Testaments?«
«Selbstverständlich, Sir. «Mr. Horton raschelte bedeutsam mit den Papieren, obwohl er ihren Inhalt gewiß auswendig wußte. Während wir warteten, musterte ich noch einmal meine Verwandten. Anna hielt geistesabwesend die rotgeränderten Augen auf den Teppich gerichtet. Ich bezweifelte, daß sie auch nur ein Wort von dem, was bisher gesprochen worden war, gehört hatte. Martha strickte, ohne den Kopf von den klappernden Nadeln zu heben. Nur Colin und Theo zollten Mr. Horton ungeteilte Aufmerksamkeit, wobei Theo im Gegensatz zu Colin angespannt und verkrampft wirkte.
«Die betreffende Klausel im Testament Ihres Großvaters bestimmt, daß, für den Fall, daß Ihr Vater, Henry Pemberton, bei seinem Tod kein Testament hinterlassen sollte, das gesamte Vermögen samt allen Ländereien und Gebäuden sowie das Geschäftsunternehmen an seinen Enkel — «Theo beugte sich vor —» — Colin Pemberton fallen soll.«
«Das ist nicht möglich!«rief Theo und sprang auf. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er dem Anwalt das Testament aus der Hand. Colins Gesicht wurde bleich. Sonst zeigte er keine Regung.»Das ist unmöglich!«rief Theo erneut und beugte sich drohend über Mr. Horton.»Davon haben wir nichts gewußt.«
«Es ist völlig rechtmäßig, Mr. Pemberton«, versicherte Horton unerschrocken. Zweifellos waren ihm derartige Ausbrüche von anderen Testamentseröffnungen her bekannt.»Wenn Sie nicht davon wußten, dann nur, weil niemand es für nötig hielt, es Ihnen vorzulesen. Keiner dachte ja daran, daß Ihr Vater sterben würde, ohne ein Testament gemacht zu haben.«
«Sir John scheint sehr wohl daran gedacht zu haben«, fauchte Theo, während er das Papier überflog.
«Bitte, Sir, sehen Sie es sich nur an. Ich kann Ihnen versichern, daß es völlig in Ordnung ist. Da sehen Sie das Datum und darunter mein Siegel.«
Theo las einen Moment schweigend, dann legte er das Dokument auf den Schreibtisch zurück. Der Blick, den er auf Colin richtete, war voller Haß.
«Du — du hinterhältiger Schurke«, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen.»Du hast es die ganze Zeit gewußt. Du hast das getan, meinen Großvater gegen uns aufgehetzt, während wir weg waren. Aber glaub ja nicht, daß du damit durchkommst.«
Colin erhob sich. Mühsam die Fassung bewahrend sagte er:»Ich versichere Ihnen, Sir, daß ich davon nichts wußte.«
«Ach was! Natürlich wußtest du es!«schrie Theo ihn an.»Du hinterhältiger, gerissener — «
«Das reicht!«unterbrach ihn plötzlich eine scharfe Stimme.
Wir drehten uns alle dem Kamin zu und sahen zum erstenmal, daß eine sechste Person sich im Zimmer befand. In einem tiefen Lehnstuhl verborgen, der mit dem Rücken zu uns stand, hatte meine Großmutter alles mitangehört.
Allein durch ihre Anwesenheit gelang es ihr jetzt, dem Streit zwischen Theo und Colin ein Ende zu machen. Mit ihren knochigen Händen umfaßte sie energisch die Armlehnen ihres Sessels und richtete sich unsicher auf. Sie war groß und mager. Das schwarze Seidenkleid hing viel zu groß an ihrem Körper. Das schlohweiße Haar stand in hartem Kontrast zu den zornig blitzenden schwarzen Augen.
«Mr. Horton spricht die Wahrheit«, sagte sie kalt.»Bei der Eröffnung seines Testaments vor zehn Jahren habt ihr alle gehört, daß er das gesamte Vermögen seinem einzigen überlebenden Sohn Henry vermacht hatte. Aber er hatte in meinem Beisein eine Klausel angefügt, die die Erbfolge regeln sollte für den Fall, daß Henry ohne Testament sterben sollte — er wußte, wie plötzlich der Tod zu den Pembertons kommt. Nun, und so war es ja auch. Immer schon war es der Wunsch meines Mannes, daß Richards Sohn, nicht Henrys, sein Nachfolger werden sollte. Immer schon wollte er Colin als seinen Erben. Nun ist es so gekommen.«
Ihre Stimme verriet nichts darüber, was sie selber dachte. Ob sie nun die Wahl ihres verstorbenen Mannes guthieß oder nicht, sie zeigte es nicht.
«Ein Fluch lastet auf unserer Familie. Mein Mann ist ihm zum Opfer gefallen. Meine drei Söhne sind ihm zum Opfer gefallen. Und auch meine beiden noch lebenden Enkel werden ihm zum Opfer fallen. «Wenn dies ein Versuch war, unser Mitgefühl zu wecken, so mißlang er. Ihre Stimme war ohne
Wärme, ihr Gesicht so regungslos, daß keiner Mitleid empfinden konnte. Statt dessen war ich zutiefst verwundert über ihre eisige Ruhe, ihre unbeugsame Härte unmittelbar nach dem Verlust ihres letzten Sohnes. Wenn sie trauerte, so zeigte sie es nicht.»Wir werden Sir Johns letzten Wunsch achten«, fuhr sie in gebieterischem Ton fort, und ihre schwarzen Augen richteten sich auf Colin. War das Zorn in ihnen? Haß? Oder war es vielleicht Triumph? Dann wandte sich meine Großmutter dem Anwalt zu.»Mr. Horton?«
Er räusperte sich.»Aus uns unbekanntem Grund versäumte es Henry Pemberton, ein Testament zu machen. Vielleicht war es Nachlässigkeit, vielleicht ein Versehen. Wie dem auch sei, es ist nichts Ungewöhnliches, daß jemand diese Dinge bis zur letzten Minute aufschiebt und ihm das Schicksal dann keine Zeit mehr läßt, seine Angelegenheiten zu regeln. Wie ich schon sagte, im allgemeinen werden dann solche Fälle vor Gericht verhandelt, in unserem besonderen Fall jedoch ist das nicht notwendig. Wir haben eine rechtlich gültige Regelung. «Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:»Sir John Pemberton hat auch für die weiblichen Mitglieder der Familie Vorsorge getroffen. Das heißt, für sie wird immer in dem Rahmen gesorgt sein, den sie selbst wünschen, solange sie unter diesem Dach leben. Sollten sie Pemberton Hurst verlassen, so steht ihnen keinerlei Unterstützung oder finanzielle Abfindung zu. «Marthas Nadeln standen einen Augenblick still, und plötzlich herrschte für einen Augenblick erdrückendes Schweigen. Dann, ohne eine Veränderung in Miene oder Haltung, begann sie wieder zu stricken.»Das ist alles, meine Damen und Herren. Eine Abschrift des Testaments liegt hier zu Ihrer Einsichtnahme aus. Wenn Mr. Colin Pemberton im Laufe der nächsten Woche in meiner Kanzlei vorsprechen möchte, werde ich ihn über alle Einzelheiten unterrichten. Gibt es sonst noch Fragen?«»Nein«, antwortete meine Großmutter stellvertretend für alle. Sie maß uns alle noch einmal mit kaltem Blick, dann wandte sie sich um und ging aus dem Zimmer.
Ich stand auf, als sie an mir vorüberkam, und auch Martha raffte ihre Sachen zusammen und erhob sich. Nur Anna blieb sitzen — es war, als hätte sie von allem überhaupt nichts bemerkt.
Als die schwere Eichentür hinter Gertrude, die meine Großmutter begleitete, zufiel, blieb gespannte Stille zurück. Colin und Theo sahen einander zornig an. Bei Theo überwog der Haß, bei Colin die Empörung.»Und ich sage dir, Colin, es war ein Testament da«, behauptete Theo.»Das kann sein. Mich darfst du danach nicht fragen. Mr. Horton weiß offensichtlich nichts davon — «
«Nein, ich weiß in der Tat nichts von einem Testament von Henry Pembertons Hand«, bestätigte Mr. Horton.
«Nun, es gibt Mittel und Wege«, schrie Theodore wütend.»Ich werde mir einen eigenen Anwalt nehmen und diese Sache vor Gericht bringen. Es gibt schließlich das Erbrecht des Erstgeborenen, und ich — «
«Verzeihen Sie, Mr. Pemberton, aber in diesem Fall werden Sie, denke ich, feststellen — «
«Ich stelle fest, Mr. Horton, daß Sie Ihre Pflicht hier getan haben. Wir bedürfen Ihrer Dienste jetzt nicht mehr.«
Jetzt stand Horton auf. Imposant wirkte er gewiß nicht, aber die Schärfe seiner Augen mahnte zur Vorsicht.»Darüber zu entscheiden, Sir, obliegt Mr. Colin Pemberton, dem neuen Herrn auf Pemberton Hurst.«
Theos Augen funkelten vor Wut, sein Gesicht war hochrot, die Adern an seinem Hals standen wie Stränge heraus.»Noch ist er nicht der Herr hier. Und ich werde verhindern, daß er es jemals wird.«
«Aber Theo, jetzt hör doch mal«, begann Colin blaß und beschwichtigend.»Ich wußte wirklich nicht — «
«Du, mein Bester, bist ein heimtückischer kleiner — «
«Ich lasse mich in meinem eigenen Haus nicht beleidigen!«»Noch ist es nicht dein Haus, Colin Pemberton. Noch nicht!«Mein Kopf begann plötzlich wieder zu schmerzen. Es mußte am vielen Wein liegen, den ich zum Abendessen getrunken hatte. Und an diesem schrecklichen Streit zwischen Colin und Theo. Es war einfach zuviel. Als ich mich entschuldigte, reagierten die beiden Männer gar nicht, so sehr waren sie in ihre hitzige Auseinandersetzung verstrickt. Es bedrückte mich, sie so im Streit zu sehen, doch ich verspürte weder die Neigung noch hatte ich den Mut mich einzumischen. Der Weg hinauf zu meinem Zimmer erschien mir endlos. Die Gaslampen spendeten nur trübes Licht, kaum die Dunkelheit erhellend, die mich von allen Seiten umgab. Vor mir sah ich das Gesicht meines Onkels wie es in der vergangenen Nacht gewesen war: Die wilden Augen, in denen der Wahnsinn sich spiegelte, der höhnisch verzerrte Mund. Ich dachte an die entsetzlichen Qualen, die er vor seinem Tod hatte durchleiden müssen — die peinigenden Kopfschmerzen, die Übelkeit, das Erbrechen, die Leib schmerzen, den Fieberwahn, die Schüttelkrämpfe. Und ich fragte mich, wann meine Zeit kommen würde.
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