Kapitel 13
Mein zehnter Tag auf Pemberton Hurst begann mit schlimmen Kopfschmerzen. In der vergangenen Nacht hatte ich mir, ehe ich eingeschlafen war, noch eine Tasse Tee bringen lassen. Als ich nun lange nach Sonnenaufgang erwachte, merkte ich, daß der Tee mir überhaupt nicht geholfen hatte. Ich hatte schlecht geschlafen und die ganze Nacht wirre Träume gehabt.
Nachdem ich mich gewaschen und mein Trauerkleid aus schwarzem Wollstoff angezogen hatte, setzte ich mich an den Toilettentisch, um mir das Haar zu ordnen. Die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten deutliche Spuren in meinem Gesicht hinterlassen. Meine Augen waren ohne Glanz; meine Haut so bleich, daß sie fast grau wirkte. Feuchte Kompressen und Salbe halfen nur ein wenig, so daß ich am Ende aufgab und mich damit begnügte, mir lustlos das Haar hochzustecken. Mit finsterem Blick sah ich mein Spiegelbild an. Mein Kopf dröhnte vor Schmerzen, und ich wartete ungeduldig darauf, daß das Laudanum endlich wirken würde. Gleichzeitig versuchte ich verbissen, mich an einen bestimmten Traum zu erinnern, den ich in der Nacht gehabt hatte. Die anderen, alle äußerst lebhaft und plastisch, waren ohne Bedeutung gewesen, mit gesichtslosen Gespenstern bevölkert, die durch geheimnisvolle Räume geisterten. Aber dieser eine war anders und mir im Moment des Träumens außerordentlich wichtig erschienen, so als handle es sich um eine Botschaft aus den Tiefen meines Unterbewußtseins; doch so sehr ich mich jetzt bemühte, ich konnte ihn mir nicht ins Gedächtnis zurückrufen. Ich erinnerte mich undeutlich, daß er etwas mit dem Tumor zu tun gehabt hatte, und daß ich mich unverzüglich um eine bestimmte Sache, die damit zusammenhing, kümmern mußte. Aber der Traum war jetzt vergessen und ließ sich nicht zurückholen.
Unten im kleinen Salon saß der Pastor bei Anna und versuchte, ihr Trost zuzusprechen, während Theo schweigend ihre Hand hielt. Martha saß zu meiner Überraschung ganz gelassen in einem Sessel und stickte, als wäre nichts geschehen. Ihr Gesicht war zwar blaß und angestrengt, aber sie schien sich einfach in eine eigene, unantastbare Welt zurückgezogen zu haben.
Colin saß drüben im großen Salon am Klavier. Die wilden Klänge schallten durch das ganze Haus. Er spielte mit einer Leidenschaft, als wäre er der zornigste Mensch auf Erden. Ich ging nicht zu ihm, obwohl ich es gern getan hätte. Aber mein Platz war jetzt an der Seite Annas und ihres Sohnes.
«Auf so schreckliche Weise sterben zu müssen!«jammerte Anna, die Hände auf ihr Gesicht gedrückt.»Es ist so ungerecht. So entsetzlich ungerecht.«
Ich sah Theo an. Ich konnte mir vorstellen, wie ihm zumute sein mußte. Wir hatten unsere Väter auf die gleiche Weise verloren, und wir wußten, daß uns ein ähnliches Schicksal bevorstand.
Als Theo auf mich aufmerksam wurde, stand er auf und setzte sich zu mir aufs Sofa. Nach einem Augenblick des Überlegens sagte er:»Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir zu danken, Leyla. Du hast mir wahrscheinlich das Leben gerettet.«
Ich dachte an meinen Vater, der meinen Bruder Thomas getötet hatte. Ich stellte mir vor, wie ich, fünf Jahre alt, im Gebüsch gekauert und es mitangesehen hatte.
«Ich habe blind gehandelt, Theo, nicht mutig.«
«Trotzdem.«
Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander und lauschten den aufgewühlten Klängen der Musik, die aus dem großen Salon kamen. Ich stellte mir Colin vor, wie er mit wildem Blick und fliegendem Haar am Klavier saß. Ich beneidete ihn um diese Möglichkeit, sich Erleichterung zu verschaffen.
«Vater wird morgen in East Wimsley in der Familiengruft begraben.«
«Da werden auch wir eines Tages enden, Theo.«
«Leyla, alle Menschen müssen sterben.«
«Ja, aber nicht auf so grauenvolle Weise. Dein Vater hatte wenigstens dich als Stütze. Sir John hatte einen Sohn und Enkel, die ihn betrauerten. Wir aber haben uns geschworen, keine Kinder in die Welt zu setzen. Wer wird um uns trauern, Theo? Wenn wir krank werden, und das Fieber uns packt, wer wird uns dann stützen und trösten?«
Ich brach ab. Das Fieber. Thomas Willis hatte darüber geschrieben — was war es nur, was ich nicht zu fassen bekam? Was sich mir so beharrlich entzog? Etwas in dem Traum der letzten Nacht.
In diesem Moment kam Dr. Young ins Zimmer. Er teilte dem Pastor mit, daß Henry jetzt aufgebahrt werden und die Vorbereitungen für die Beerdigung getroffen werden können.
«Ich habe übrigens Mr. Horton in East Wimsley benachrichtigen lassen«, sagte er zu Theo gewandt.»Er kommt heute abend hierher.«
«Danke, Doktor«, antwortete Theo.»Sie sind uns eine große Hilfe. «Dr. Young nickte nur und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf mich.»Mr. Horton wird das Finanzielle mit Ihnen erledigen«, bemerkte Theo, sich auf den Anwalt der Familie beziehend.
Doch Dr. Young reagierte nicht darauf. Seine blauen Augen zeigten einen seltsamen Ausdruck, und er sagte beinahe unhörbar:»Wenn Sie mich in irgendeiner Sache brauchen sollten, können Sie mich zu Hause erreichen.«
«Danke, Doktor«, sagte Theo, obwohl mir schien, als hätte Dr. Young nur mich angesprochen.
«Es ist klug, daß Sie Ihren Vater nicht hier im Haus aufbahren lassen«, bemerkte Dr. Young zu Theo gewandt.»Die Leute von East Wimsley können in der Kirche ebensogut von ihm Abschied nehmen.«
«Das war genau mein Gedanke. Es werden ja sehr viele sein. Die Arbeiter und ihre Familien, die Vertreter der Gemeinde. «Er schüttelte den Kopf.»Unvorstellbar, sie alle hier durch das Haus ziehen zu lassen. «Nein, dachte ich, auf keinen Fall dürfen Fremde in unsere Abgeschlossenheit eindringen. In diese klösterliche Stille und Einsamkeit. Ich stand ruckartig auf. Der Salon wurde mir zu eng, drohte mich zu ersticken.»Ich mache jetzt meinen Spaziergang«, sagte ich.»Gib auf dich acht«, mahnte Theo.
Ein leichter Regen fiel, aber das störte mich nicht. Ich war viel zu tief in Gedanken, um es überhaupt wahrzunehmen. Der Traum der vergangenen Nacht war es, der mich beschäftigte, eine Offenbarung, die mir zuteil geworden war und deren Inhalt ich beim Erwachen vergessen hatte. Im Schlaf war mir der Traum ungeheuer bedeutsam erschienen, und auch jetzt, wo er vergessen war, blieb dieses Gefühl drängend. Er hatte mit Thomas Willis’ Buch zu tun gehabt.
Der Regen tropfte von meinem Hut und rann meine Wangen hinunter. Einzelne Tropfen blieben an meinen Wimpern hängen und verschleierten mir die Sicht. Unablässig kreisten meine Gedanken um die Frage, was es gewesen war, das mir durch den Traum entdeckt worden war. Der Spaziergang half mir nicht zur Lösung des Problems. Nach zwei Stunden unverdrossenen Marschierern durch den Regen konnte ich mich immer noch nicht erinnern. Schließlich mußte ich umkehren, weil mein Umhang und meine Stiefel durchnäßt waren. Durchfroren kam ich im Haus an und beschloß, zum erstenmal ein Bad vor dem Kamin in meinem Zimmer zu nehmen. Danach, erfrischt und aufgewärmt, zog ich ein braunes Samtkleid an, bürstete mein Haar und ging hinunter, um mit der Familie das Abendessen einzunehmen.
Ich trat etwas beklommen, weil ich nicht wußte, was für eine Stimmung mich empfangen würde, ins Speisezimmer und sah mit Erleichterung, daß Colin lächelnd zu mir aufblickte. Er schien sich ausnahmsweise Mühe gegeben zu haben, den allgemeinen Vorstellungen vom eleganten jungen Gentleman zu entsprechen. Sein dunkelgrünes Jackett und die schwarze Hose waren vom neuesten Schnitt, seine Stiefel blank poliert — sein Haar war offensichtlich gekämmt.»Wie geht es dir, Leyla?«fragte er und stand auf.»Ach, ganz gut. Und dir?«
Er ließ mich nicht aus den Augen, während ich durch das Zimmer ging und mich auf meinen Platz neben Martha setzte. Sie nickte nur kurz und vertiefte sich gleich wieder in ihre Stickerei.
«Du siehst jedenfalls heute entschieden besser aus«, stellte Colin fest. Ich dachte daran, wie ich in der Nacht im Morgenrock und mit wallendem Haar durch die Gänge gelaufen war und wurde rot. Theo saß still vor seinem Gedeck und starrte auf den Stuhl, auf dem sein Vater gesessen hatte. Anna war nicht erschienen.
Wir aßen schweigend wie immer, jedoch ohne großen Appetit. Dafür sprachen wir alle dem Wein um so mehr zu — sogar Martha trank zwei Gläser und bekam davon einen roten Kopf.
Gertrude meldete uns, daß Mr. Horton, der Anwalt, eingetroffen sei und im Arbeitszimmer auf uns warte.
Colin begleitete seine Schwester, während ich mit Theo in das Zimmer ging, das ich noch nicht kannte. Es war, nicht unähnlich der Bibliothek, ein behaglicher Raum, in dem es nach dem Leder der schweren Sessel roch, ganz mit dunklen Möbeln eingerichtet. Im Unterschied zur Bibliothek jedoch stand hier ein großer Mahagonischreibtisch mit vielen Fächern und Schubladen, zweifellos der Ort, wo die Geschäfte der Firma Pemberton erledigt wurden.
An diesem Schreibtisch saß ein ungewöhnlich kleiner, schmächtiger Mann, mit glänzendem, kahlem Kopf und schmalen kleinen Augen. In dem großen Sessel hinter dem Schreibtisch wirkte er noch unscheinbarer, aber ich merkte bald, daß die äußerliche Unscheinbarkeit durch einen scharfen Geist mehr als ausgeglichen wurde.
Anna war schon da, in einem schwarzen Seidenkleid und mit einem schwarzen Schleier über dem Haar. Sie sah blaß aus. Steif und kerzengerade saß sie auf dem Rand ihres Sessels. Wir anderen verteilten uns im Halbkreis um den Schreibtisch und warteten.
Mr. Horton war ein Mann, der von höflichem Geplauder nichts hielt. Ohne uns anzusehen, die Augen auf die Papiere gerichtet, die vor ihm lagen, begann er ruhig und sachlich zu sprechen.
«Mr. Theodore Pemberton und Mr. Colin Pemberton, meine Herren, es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, daß Mr. Henry Pemberton kein Testament hinterlassen hat. Unter diesen Umständen können im Rahmen des Gesetzes verschiedene Schritte unternommen werden — «
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