«Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Ermutigung, Doktor, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich trotzdem wissen, was ich zu erwarten habe.«

Danach schwieg Dr. Young lang, und mir wurde das Herz immer schwerer, während er mit nachdenklichem Gesicht schweigend vor mir saß.»Es handelt sich hier nicht um einen klassischen Gehirntumor, Miss Pemberton«, sagte er schließlich.»Die Symptome stimmen mit den Fallstudien aus den Lehrbüchern nicht überein. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß er in einer anderen Zone des Gehirns entsteht. Beim klassischen Gehirntumor zeigen sich Symptome wie Aphasie, also die Unfähigkeit zur sprachlichen Koordinierung oder zum Verstehen von Gesprochenem; Bewegungsstörungen der Arme und Beine; Sehstörungen; Übelkeit; Kopfschmerzen; Taubheit an manchen Stellen des Körpers. Kurz gesagt, Miss Pemberton, man erklärt sich dies so, daß an jenem Teil des Körpers, für den der Gehirnteil zuständig ist, wo der Tumor sitzt, sich Störungen zeigen. Fest steht beim Pemberton Tumor zwar, daß die Symptome, die ich bisher bei Ihrem Onkel festgestellt habe, genau mit denen übereinstimmen, die ich den Krankengeschichten Ihres Vaters und Sir Johns entnommen habe.«

«Ich verstehe. «Seine Worte trafen mich nicht unerwartet und doch empfand ich sie als niederschmetternd.»Und was sind das für Symptome, Doktor?«

«Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Unterleibsschmerzen, Muskel schwäche, Delirium, Schüttelkrämpfe und plötzlich eintretender Tod. Dr. Smythes Aufzeichnungen zufolge trat der Tod in allen Fällen ungefähr zwei Monate nach Erscheinen der ersten Symptome ein.«

«Aber Sie sagten doch eben, Sie seien schon vor einem Jahr bei meinem Onkel gewesen, weil er Kopfschmerzen hatte.«

«Gewiß, das ist richtig. Aber die Kopfschmerzen rührten damals von einer starken Erkältung her und hatten mit seiner gegenwärtigen Krankheit nichts zu tun. Man rief mich, weil er beunruhigt war.«

«Ach, Dr. Young, ich bin so durcheinander«, sagte ich verzweifelt.»Vor einer Woche kam ich so zuversichtlich hier an, und jetzt ist plötzlich alles finster und schwarz. Seit dem Tod meiner Mutter — «

«Ihre Mutter ist erst kürzlich gestorben?«fragte er.»Verzeihen Sie, aber als Sie neulich beim Abendessen erwähnten, Sie seien mit dem Tod in Berührung gekommen, glaubte ich, Sie sprächen von Ihrem Vater.«

«Ja, sie ist erst vor zwei Monaten gestorben. Sie war vorher sehr lange krank. Dr. Harrad hatte mich darauf vorbereitet — «

«Dr. Harrad?«rief er.»Verzeihen Sie, daß ich Sie schon wieder unterbreche, Miss Pemberton, aber was Sie mir da erzählen, überrascht mich. Ihre Mutter wurde von Dr. Oliver Harrad vom Guy’s Krankenhaus behandelt?«

«Ja. Warum?«

Dr. Young war auf einmal sehr lebhaft geworden.»Ich war mit Oliver Harrad befreundet. Wir studierten zusammen.

Später fingen wir beide im Guy’s Krankenhaus an und hatten lange Jahre eine gemeinsame Praxis. Als ich nach Edinburgh ans Königliche Krankenhaus ging, um mich der Forschungsarbeit zu widmen, versprachen Oliver und ich uns, Kontakt zu halten und uns zu schreiben. Aber wie das häufig der Fall ist, wenn Freunde weit getrennt voneinander leben, wurde unser Briefwechsel immer spärlicher und schlief schließlich ganz ein. Das muß jetzt mehr als zehn Jahre her sein. «Dr. Young blickte einen Moment lang sinnend in die Ferne.»Oliver Harrad, mein alter Freund. Er ist also immer noch am Guy’s.«

«Er ist als Arzt sehr beliebt«, bemerkte ich.

Dr. Young sah mich wieder an, mit Wehmut in den Augen.»Was haben Sie plötzlich für Erinnerungen geweckt, Miss Pemberton! Die Zeit mit Oliver Harrad liegt so lange zurück, und ich hatte immer soviel zu tun.«

«Er hat sich sehr um meine Mutter bemüht. Ich werde ihm immer dankbar sein.«

Ich hatte das Gefühl, daß sich Dr. Young durch die Erinnerungen, die ich ihm zurückgebracht hatte, mir ungewöhnlich nahe fühlte. Er sah mich an, wie man gewöhnlich einen Freund ansieht, mit dem man vieles geteilt hat, und seufzte ein wenig.

«Es ist doch seltsam«, meinte er nachdenklich.»Gerade wenn wir die Vergangenheit begraben und vergessen haben, bringt ein Wort sie uns so frisch und lebendig zurück, daß man glaubt, es sei erst gestern gewesen. Oliver Harrad und ich waren in unseren jungen Jahren enge Freunde, hitzige Rebellen, die glaubten, sie könnten mit ihrem Unternehmungsgeist die Welt verändern. Wir sind wohl beide bescheidener geworden und haben eingesehen, daß wir uns, statt große Sprünge zu machen, mit kleinen Schritten begnügen müssen. Ach, ist das ein schöner Zufall, daß Sie meinen alten Freund Harrad kennen, Miss Pemberton.«

«Das freut mich, Dr. Young«, erwiderte ich und erinnerte mich mit plötzlichem Schmerz daran, wie ich selbst noch vor wenigen Tagen um die Rückeroberung der Vergangenheit gerungen hatte. Dr. Young wollte eben etwas sagen, da klopfte es.»Herein«, rief ich, und Gertrude trat ein.»Entschuldigen Sie, Miss Leyla, aber Mrs. Pemberton schickt mich.«

«Oh, Tante Anna möchte wohl mit Dr. Young sprechen?«

«Nein, Miss Leyla, mich schickt nicht Mrs. Anna, sondern Mrs. Abigail Pemberton, Ihre Großmutter. Sie ist jetzt bei Mr. Pemberton und wünscht den Doktor zu sehen.«

Ich erschrak. Wenn meine Großmutter, die kaum je ihre Räume verließ, es für nötig gehalten hatte, Henry aufzusuchen, konnte das nur eines bedeuten.

«Onkel Henry!«Ich sprang auf. Augenblicklich war Dr. Young an meiner Seite.

«Ich werde mich um ihn kümmern«, sagte er beschwichtigend.»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde alles für ihn tun, was in meiner Macht steht.«

Dankbar drückte ich ihm die Hand.»Danke«, sagte ich leise und sah ihm niedergeschlagen nach, wie er mit Gertrude zur Tür hinausging.

Mein Abendessen nahm ich wieder allein ein. Vorher hatte ich versucht, Henry zu sehen, aber meine Großmutter hatte mir den Zutritt zu seinem Zimmer verwehrt. Ich sah sie nur einmal ganz flüchtig, als ich spät abends, von Stimmen aufmerksam gemacht, meine Zimmertür öffnete.

Sie ging hochaufgerichtet wie eine Königin an mir vorüber den Flur entlang. Später schaute Martha kurz zu mir herein, um mir mitzuteilen, daß sich der Zustand Henrys weiter verschlechtert hatte. Anna und Theo, bekam ich nicht zu sehen. Und auch Colin nicht.

Der folgende Tag war grau und kalt. Wieder blies ein heftiger Wind, der dunkle Sturmwolken über den Himmel trieb. Am Morgen wanderte ich rast- und ziellos durch das Haus, ohne einem Menschen zu begegnen. Die einzigen Anzeichen von Leben in diesem düsteren Gemäuer nahm ich wahr, als ich an den Räumen meiner Großmutter vorüberkam. Da hörte ich plötzlich ihre scharfe Stimme durch die massive Tür und blieb stehen. Ich hatte Großmutter noch bei Henry geglaubt. Ihre Stimme war laut, ihre Worte jedoch waren nicht zu verstehen. Ich konnte ihrem Ton entnehmen, daß sie sehr zornig war, aber den Grund dafür erfuhr ich nicht. Im nächsten Moment hörte ich gedämpftes Schluchzen. Es kam ebenfalls aus ihrem Zimmer, und schien mir zu verraten, daß meine Großmutter mit jemandem streng ins Gericht ging. Ich hatte den Eindruck, daß es eine Frau war, die da so bitterlich schluchzte, aber ich konnte nicht erkennen, wer es war. Es konnte sich ebensogut um Anna oder Martha wie um Gertrude oder eines der Mädchen handeln. Mit schlechtem Gewissen wegen meines Lauschens eilte ich davon. Am Nachmittag machte ich den Spaziergang, der mir nun schon zur Gewohnheit geworden war. Als ich bei meiner Rückkehr das Haus so still vorfand wie am Morgen, ging ich in mein Zimmer hinauf, setzte mich ans warme Feuer und ließ mir eine Tasse Tee bringen. Um acht Uhr servierte mir ein Mädchen das Abendessen, und um neun ging ich zu Bett und schlief sofort ein.

Es mußte gegen Mitternacht sein, als ein Schrei mich weckte. Aus tiefem Schlaf gerissen, fuhr ich in die Höhe und spähte angestrengt in die Dunkelheit. Hinter meiner Tür hörte ich

Stimmen und Schritte. Als der zweite gellende Schrei durch das Haus hallte, sprang ich aus dem Bett und lief zur Tür.

Ohne mich darum zu kümmern, daß ich im Nachthemd war und nichts an den Füßen hatte, lief ich in den Flur hinaus und sah Martha schlaftrunken aus ihrem Zimmer kommen. Halb benommen noch sah sie mich an, rieb sich die Augen und murmelte irgend etwas, das ich nicht verstand. Ich stand noch unschlüssig an der offenen Tür, als ein dritter markerschütternder Schrei die Stille des Hauses zerriß. Diesmal erkannte ich die Stimme. Es war Anna, die da so grauenvoll schrie.

Ich vergeudete keine Zeit. Ich nahm rasch meinen Morgenrock und rannte, dabei in die Ärmel schlüpfend, den Flur hinunter. Martha folgte mir nach.

Die Tür zum Zimmer von Henry und Anna stand offen. Es war niemand darin. Neuerliche Schreie führten mich weg von unserem Flügel zu den unbewohnten Räumen des Hauses. Obwohl mir zum Nachdenken überhaupt keine Zeit blieb, klopfte mein Herz rasend vor Angst. Blind rannte ich vorwärts, immer den Schreien folgend.

Sie führten mich in das nächste Stockwerk hinauf, die zweite Etage des Hauses, in einen Flügel, wo viele Jahre keine Menschenseele mehr gewesen war. Oben sah ich geisterhafte Lichter, und als ich näherkam, erkannte ich, daß es brennende Kerzen waren, getragen von denen, die mir vorausgeeilt waren.

Schneller laufend jetzt, um die Gruppe einzuholen, nahm ich den modrigen Geruch wahr, der in diesem Korridor hing, die abgestandene Luft, die Spinnweben, die mir das Gesicht streiften. Annas Schreie wurden lauter, je mehr ich mich der Gruppe vor mir näherte, und nach einer Zeit hörte ich Colin rufen:»Tante Anna! Wo bist du?«

Sie gab ihm Antwort, aber ihre Worte waren nicht zu verstehen. Ich hatte jetzt die anderen eingeholt. Instinktiv drängte ich mich zu Colin und rannte im Schein seiner Kerze neben ihm her. Es wunderte mich, daß er vollständig angekleidet war, während wir anderen — Dr. Young, Gertrude und ich — alle im Morgenrock waren. Unsere Angst vor dem, was sich uns zeigen würde, hing schwer in der Luft.