Sie schien mit mir und dem Zimmer zufrieden und trat zur Seite, um Dr. Young vorbeizulassen. Sie schloß die Tür hinter ihm und stellte sich mit gekreuzten Armen und mit wachsamem Blick davor.»Wie geht es Ihnen heute abend, Miss Pemberton?«Die Wärme, die von ihm ausging, schien alle Schatten aus dem Zimmer zu vertreiben, und sein herzliches Lächeln gab mir das Gefühl, bei ihm gut aufgehoben zu sein.
«Beinahe ausgezeichnet, Sir«, antwortete ich.
Dr. Young zog sich einen Stuhl heran und setzte sich mir gegenüber. Sein Blick war sehr aufmerksam.»Was macht Ihnen denn zu schaffen?«
«Nur ein leichter Kopfschmerz. Es ist eigentlich nichts.«
«Sollten Sie das Urteil darüber nicht lieber mir überlassen?«Er rückte etwas näher zu mir heran und öffnete seine schwarze Ledertasche. Augenblicklich trat Gertrude an meine Seite, als wolle sie die Untersuchung überwachen. Ich war noch nie von einem Arzt untersucht worden, aber während der Krankheit meiner Mutter war ich bei den Arztbesuchen oft genug dabei gewesen, um zu wissen, was ungefähr ich zu erwarten hatte.
Als erstes nahm Dr. Young mein Handgelenk, um meinen Puls zu zählen. Dann sah er sich meine Augenlider an, prüfte die Farbe meiner Ohrläppchen, ließ sich meine Zunge zeigen. Als er danach ein Stethoskop herauszog, war ich beeindruckt. Dr. Young schien einer jener Ärzte zu sein, die sich über den neuesten Stand der Wissenschaft unterrichteten und mit neuen Methoden arbeitete. In London hatte nur einer der Ärzte meiner Mutter ein Stethoskop gehabt.
Dr. Young drückte das lange Rohr aus poliertem Holz auf meine Brust, legte sein Ohr an das offene Ende und sagte:»Bitte tief atmen, und jetzt holen Sie tief Atem und halten Sie die Luft an. Ja, gut. Atmen Sie jetzt wieder aus bitte.«
Dieses Verfahren wiederholte er sechsmal, wobei er das Rohr immer auf eine andere Stelle meiner Brust drückte. Gertrude stand die ganze Zeit wachsam an meiner Seite. Nachdem Dr. Young das Stethoskop wieder eingepackt hatte, stellte er mir eine Reihe von Fragen.
«Sehen Sie gut oder verschwimmen Ihnen manchmal die Gegenstände vor den Augen?«
Die Frage machte mich argwöhnisch.»Ich habe sehr gute Augen«, antwortete ich steif.»Litten Sie in den letzten Tagen an Übelkeit?«
«Nein. «Gertrudes Hand, die während der ganzen Untersuchung auf meiner Schulter gelegen hatte, schien mir jetzt drückend und schwer zu werden.
«Wie steht es mit Ihrem Bewegungsapparat? Ist Ihnen aufgefallen, daß sie irgendwelche Bewegungen nicht richtig machen konnten, haben Ihnen Arme oder Beine einmal den Dienst versagt, oder hatten Sie vielleicht plötzliche Schmerzen in einem Ihrer Glieder?«
«Nichts dergleichen, Doktor.«
«Hatten Sie in letzter Zeit einmal beim Sprechen Schwierigkeiten? Konnten Sie plötzlich die Worte nicht herausbringen? Stotterten Sie oder merkten Sie, daß Sie lallend sprachen?«
«Nein, nichts dergleichen«, sagte ich wieder.
«Gut. «Einen Moment lang sah er zu Gertrude auf, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, dann aber richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich.»Sie sind nicht entspannt, Miss Pemberton. Habe ich irgend etwas gesagt, das Sie beleidigt hat?«
Ich war einen Moment verlegen.»Die Fragen, die Sie mir gestellt haben, Dr. Young«, sagte ich dann,»scheinen mir in eine bestimmte Richtung zu gehen, so als hätten Sie eine bestimmte Vorstellung. «Gertrude neigte sich noch näher zu mir, und ihre Hand wurde noch schwerer auf meiner Schulter.
«Ja, das haben Sie richtig erkannt, Miss Pemberton. Aber Ihre Antworten haben mir gezeigt, daß mein Verdacht falsch war. Ihre Kopfschmerzen sind einzig durch Spannung ausgelöst, sonst nichts. «Seine Stimme war jetzt wieder warm und beruhigend, und Gertrude nahm wie erleichtert ihre Hand von meiner Schulter.»Fürchten Sie, ich hätte den Verdacht, Sie könnten wie Ihr Onkel erkrankt sein? Es tut mir leid, aber wenn ich eine Diagnose stellen will, muß ich fragen. Ich weiß, daß Fragen von einem Arzt beunruhigend sein können. Wenn
Sie eine meiner Fragen mit Ja beantwortet hätten. «Er hielt inne. Sein Blick sagte mir den Rest.
«Ich danke Ihnen, Dr. Young. Ich weiß, daß mein Onkel häufig an Kopfschmerzen litt. Und ebenso vor ihm mein Vater.«
«Ja, ich kenne die Krankengeschichte. Das erstemal suchte ich Ihren Onkel vor einem Jahr auf. Es war überhaupt mein erster Besuch auf Pemberton Hurst. «Er lächelte amüsiert.»In East Wimsley schaudern die Leute, wenn man nur den Namen Ihres Hauses nennt. Sie behaupten, hier spuke es. Hier lebten ein Haufen Wahnsinniger und Giftmischer.«
«So ganz unwahr ist das ja nicht«, sagte ich bedrückt.»Später war ich noch zweimal hier, um Ihrer Cousine Martha etwas gegen ihre Migräne zu geben. «Seine blauen Augen blitzten freundlich.»Was Sie angeht, junge Frau, kann ich Ihnen nur viel Ruhe empfehlen. Und versuchen Sie, sich nicht ständig mit Gedanken an Ihren kranken Onkel zu belasten.«
«Ich habe Laudanum genommen«, sagte ich.
Dr. Young runzelte die Stirn.»Das ist ein Mittel, mit dem bei uns viel Mißbrauch getrieben wird. Die Leute halten es für ein Allheilmittel. Insbesondere die Reichen, die nichts zu tun haben, greifen sehr schnell dazu, um sich die Langeweile zu vertreiben. Sie verurteilen die Armen, die Alkohol trinken, während sie selbst in großen Mengen Laudanum zu sich nehmen. Morphium ist gefährlich, Miss Pemberton, und leider allzu leicht greifbar.«
«Ich werde vorsichtig sein.«
«Gut«, meinte er mit einem leichten Lächeln.»Gut. «Ich sah zu Gertrude auf, die immer noch mit strenger Miene neben mir Wache hielt.»Sie können jetzt gehen, Gertrude. Dr. Young ist fertig.«
«Aber Kindchen«, sagte sie.
Ich lachte und gab ihr einen leichten Puff.»Es ist schon in Ordnung, Gertrude. Keine Sorge.«
Widerstrebend ging sie zur Tür, sichtlich unschlüssig, wie sie sich verhalten sollte. Mich amüsierte es, sie in ihren Vorstellungen davon, was sich gehörte und was nicht, so erschüttert zu sehen. Als sie in meinem Alter gewesen war, hätte kein Arzt sie anrühren, geschweige denn ihre Brust abhören und ihr persönliche Fragen stellen dürfen. Den Mann jetzt mit mir in meinem Zimmer allein zu lassen, mußte ihr als schlimmster Verstoß gegen Sitte und Anstand erscheinen.
«Ich warte draußen, falls Sie mich brauchen, Miss Leyla. «Mit einem scharfen Blick auf Dr. Young fügte sie hinzu:»Gleich in der Nähe.«
«Danke, Gertrude.«
Sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte ich mich wieder Dr. Young zu.»Ich hätte Sie gern einen Augenblick gesprochen, wenn es Ihnen jetzt paßt«, sagte ich.»Aber gern, Miss Pemberton, ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
«Ich finde das, was mit unserer Familie geschieht, ganz schrecklich. Es macht mir große Angst. Wieso kann man da überhaupt nichts tun?«
«Die Medizin ist voller Geheimnisse, Miss Pemberton.«
«Ich weiß, aber trotzdem, ich finde es so ungerecht, so grausam, daß wir davon wissen und es dennoch nicht verhindern können. «Er sagte nichts, sah mich nur still und abwartend an.»Ich habe weniger um mich selbst Angst, wissen Sie — «ich krampfte meine Finger ineinander, daß sie wehtaten —»als um die anderen. Ich bin die Jüngste und habe wahrscheinlich noch am längsten Zeit. Aber meine Vettern — Theo ist fast vierzig. Und Martha ist zweiunddreißig. Ich fühle mich so entsetzlich hilflos!«
«Und Ihr Vetter Colin?«Ich hob den Kopf und sah ihn an.»Colin?«
«Er ist vierunddreißig.«
«Ja, um ihn habe ich auch Angst. «Ich sah Dr. Young forschend ins Gesicht, versuchte, von seinen Augen abzulesen, was er wußte. Hatte er als scharfsichtiger Beobachter meine Gefühle für Colin wahrgenommen?
«Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß wir alle verloren sind. Dr. Young, Sie haben doch die Werke von Thomas Willis gelesen, nicht wahr?«
«Thomas Willis?«Er schürzte nachdenklich die Lippen.»Ja, ich habe sie gelesen. Aber damals studierte ich noch.«
«Wir haben hier im Haus ein bestimmtes Buch, das seine Schriften enthält und von einem gewissen Cadwallader zusammengestellt wurde. Erinnern Sie sich seiner kurzen Abhandlung über den Pemberton Tumor?«
Dr. Young lachte.»Soweit ich mich an Thomas Willis erinnere, schrieb er in endlos langen Sätzen, zeichnete verblüffende anatomische Diagramme und befleißigte sich einer sehr eigenwilligen Orthographie. Aber das ist auch alles, woran ich mich erinnere. Erwähnt er tatsächlich die Pembertons? Ich habe mich schon gefragt, wo die Wurzeln der Familiengeschichte liegen.«
«Ich habe das Buch, wenn Sie es lesen möchten. «Ich wollte aufstehen.
Dr. Young hielt mich zurück.»Nein, nein, bemühen Sie sich nicht, Miss Pemberton. Mein Haus ist bis unter die Dachbalken mit wissenschaftlichen Werken vollgestopft. Cadwalladers Buch ist gewiß auch darunter. Ich werde es bei nächster Gelegenheit heraussuchen und nachschlagen, was Mr. Willis über die Sache zu sagen hat. Möchten Sie sonst noch etwas mit mir besprechen, Miss Pemberton?«Er sah mich aufmerksam an.
Ich zögerte. Das einzige, was ich von ihm gewollt hatte, war nähere Auskunft über die Krankheit unserer Familie und vielleicht einen Funken Hoffnung für die Zukunft. Doch mir das zu geben, ging über sein Vermögen hinaus, das erkannte ich jetzt. Dr. Young war so fehlbar wie alle Menschen. Eines jedoch mußte ich noch wissen.
«Können Sie mir sagen, Doktor, mit welchen Anzeichen ich zu rechnen habe, wenn die Krankheit ausbricht?«
«Meine liebe Miss Pemberton, ich finde, sie beschäftigen sich viel zu sehr mit dieser Geschichte. Sie sollten sich nicht ständig damit belasten, mein Kind. Sie sind noch sehr jung und haben, da bin ich sicher, ein langes Leben vor sich. Vergeuden Sie nicht Ihre Zeit mit Mutmaßungen und Ängsten, die nichts Gutes bringen. Vergessen Sie die Geschichte. Versuchen Sie, Ihr Leben zu genießen.«
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