Wie seltsam dachte ich, Colins sichtbare Unruhe mit Theos äußerer Gelassenheit vergleichend. Unter den gegebenen Umständen hätte eigentlich Theo es sein müssen, der unter Spannung und Rastlosigkeit litt. Sein Vater war es doch, der oben lag und litt. Doch Theo wirkte eher gelöst und nicht im geringsten beschwert.
Als Colin sich plötzlich umdrehte und mich ansah, merkte ich, wie mir die Röte ins Gesicht schoß. Er sah mich mit seinen grünen Augen so durchdringend an, als wollte er mir die Blicke, die ich in der vergangenen Stunde auf ihn gerichtet hatte, erwidern; als hätte er die ganze Zeit gewußt, daß meine Augen unverwandt auf ihn gerichtet waren. Ich fühlte mich durchschaut, so daß ich nicht wußte, was ich sagen sollte.»Wer spielt jetzt?«fragte Theo.»Leyla natürlich«, meinte Colin.
«Nein, nein, ich habe so lange nicht mehr gespielt. Wirklich. Im Vergleich mit Martha — «
«Spielen Sie nur, Miss Pemberton«, sagte Dr. Young aufmunternd, und angesichts seines freundlichen Lächelns konnte ich es nicht abschlagen. Widerstrebend stand ich auf und ging zum Klavier.»Das wird eine klägliche Vorstellung werden nach deinem Spiel«, sagte ich, während sie sich bückte, um ihren Beutel aufzuheben.»Mein Bruder sagt immer, mein Spiel sei seelenlos«, erwiderte sie.»Vielleicht kannst du es Colin recht machen, Leyla. Ich kann es jedenfalls nicht.«
Ich bemühte mich, Colins Blicke zu ignorieren, dennoch war ich nervös, als ich mich niedersetzte. Es war wirklich schon recht lange her, seit ich das letztemal gespielt hatte, und als ich meine Finger auf die Tasten legte, tat ich es mit der Befürchtung, alles, was ich einmal gekonnt hatte, verlernt zu haben.
Ich begann auch tatsächlich sehr unsicher, zum Teil, weil mir die Übung fehlte, zum Teil, weil ich mir immerzu bewußt war, daß Colin mich beobachtete. Daß er eine solche Wirkung auf mich hatte, beunruhigte mich zutiefst, und ich versuchte, in der Musik meine Befangenheit zu verlieren. Aber es gelang mir nicht. Auch wenn das Beethovenstück meine ganze Aufmerksamkeit verlangte, war mir dabei ständig bewußt, daß ich für Colin spielte und nur für Colin, und daß niemand sonst in diesem Raum für mich existierte.
Als ich >Für Elise< beendete, erntete ich von allen höfliches Lob, aber ich merkte genau, daß Colin mehr von mir erwartet hatte.»Du spielst ausgezeichnet«, sagte Martha.»Viel besser als ich.«
«Danke, Martha, aber da bin ich anderer Meinung. Theo, möchtest du mich nicht ablösen?«
«Ich hatte nie musikalisches Talent. Das Klavierspielen überlasse ich lieber Leuten, die darin begabter sind. Colin, zeig Leyla, was für ein Künstler du bist.«
«Ja, bitte, spiel für uns«, mischte sich Martha ein.»Colin spielt besser als wir alle. Er hat sogar eigene Stücke komponiert.«
Ich stand vom Hocker auf und wartete darauf, daß er meinen Platz einnehmen würde. Als er mit großen Schritten auf mich zukam, versuchte ich, seinem angriffslustigen Blick auszuweichen, aber ich konnte es nicht, und mein Herz begann wieder schneller zu schlagen. Er setzte sich, und ich kehrte hastig zu meinem Platz neben Dr. Young zurück, und richtete meinen Blick starr ins Feuer.
Colins Spiel war wirklich ungewöhnlich. Es war mehr als Musik. Die ganze Leidenschaft seiner Seele kam darin zum Ausdruck. Wie ein Zauberer zog Colin uns in seinen Bann und führte uns aus den tiefsten Abgründen in schwindelnde Höhen, spann uns ein in ein Netz vielfältiger Gefühle. Nie zuvor hatte ich so leidenschaftliche Musik gehört, nie zuvor erlebt, daß ein Mensch sich so völlig preisgab wie Colin das mit seinem Spiel tat.
Und während ich, den Blick weiterhin ins Feuer gerichtet, zuhörte und mich in seinen Bann ziehen ließ, wurde mir auf einmal bewußt, daß ich Colin liebte.
Kapitel 12
Der Morgen war schon nahe, als ich endlich einschlief. Stundenlang hatte ich mich rastlos in meinem Bett gewälzt, aufgewühlt von neuen Gefühlen und Ängsten. Die Geborgenheit Londons war verloren; verloren war auch der Trost von Edwards Liebe und Schutz; auf immer verloren war das strahlende Morgen mit einer Familie und Kindern. Dafür war ich nun in eine Familie aufgenommen, deren Mitglieder samt und sonders zum Wahnsinn verurteilt waren. Dafür hatte ich in mir die hoffnungslose Liebe zu einem Mann entdeckt, der für mich zweifellos nichts als Geringschätzung empfand.
Edward hatte ich fast ein Jahr gekannt, ehe ich mich schließlich in ihn verliebt hatte, und selbst da war es, wie ich nun wußte, nur freundliche Zuneigung gewesen. Ich hatte ihn gemocht, aber Leidenschaft war dabei nicht im Spiel gewesen. Colin hingegen kannte ich gerade sechs Tage, und das Gefühl, das ich ihm entgegenbrachte, war anders als alles, das ich bisher empfunden hatte. Es ergriff mich bis in die tiefsten Winkel meiner Seele, entflammte Leidenschaften, von denen ich nicht einmal gewußt hatte, daß ich sie in mir barg, erschütterte mich so heftig, daß ich gleichzeitig hätte lachen und weinen mögen.
Als ich endlich einschlief, hatte ich wilde, unheimliche Träume. Colin schien meiner Phantasie Flügel gegeben zu haben. Während ich mit schlafendem Auge wundersame Bilder in glühenden Farben sah und von Gefühlen überschwemmt wurde, die bisher brachgelegen hatten, erkannte ich, daß Colin nicht, wie ich zuerst glaubte, einen neuen Menschen aus mir gemacht, sondern nur eine Seite meines Wesens geweckt hatte, die bisher neben meiner vernünftigen Seite hatte zurücktreten müssen. Selbst wenn Colin mir niemals etwas anderes geben sollte, dies hatte er mir gegeben: eine neue, schöne Weise, das Leben zu sehen.
Ich war froh, daß ich beim Frühstück allein war und mich ungestört meinen Gefühlen überlassen konnte — auf der einen Seite der Seligkeit über meine neue Liebe, auf der anderen der Schmerz über das Erbe meiner Familie, das ich annehmen mußte. Es gab keine Zukunft für mich und Colin, selbst wenn er auch mich lieben sollte. Die Krankheit bannte uns wie ein böser Zauber und verbot uns, jemals ein Leben gemeinsam zu führen.
Diese aussichtslose Liebe zu Colin würde mein Geheimnis bleiben, niemand würde je davon erfahren. Ich würde sie immer in mir tragen, mich ihrer freuen und sie hegen, aber niemals würde ich sie auch nur einem einzigen Menschen offenbaren. Das schwor ich mir an jenem grauen, windigen Morgen, als ich wieder zu einem langen Spaziergang aufbrach. Ich hatte wieder Kopfschmerzen, hervorgerufen durch den inneren Aufruhr, und ich hoffte, die frische Luft würde sie vertreiben. Aber als ich aus meinem Zimmer trat und die Tür hinter mir zuzog, sah ich, daß der Tag nicht so angenehm werden sollte, wie ich gehofft hatte.
Martha eilte mit mürrischem Gesicht durch den Flur zu Henrys Zimmer.»Es geht um Theos Ring«, rief sie in Antwort auf meinen Morgengruß.»Großmutter hat die Räume der Dienerschaft durchsuchen lassen und die Angestellten selbst befragt, aber es ist nichts dabei herausgekommen. Jetzt will sie unsere Zimmer durchsuchen.«
«Das ist doch nicht möglich!«
«Doch, und ich finde es ungeheuerlich. Ich wollte, derjenige, der den Ring genommen hat, gäbe ihn endlich zurück.«
«Wieso ist ihr der Ring eigentlich so wichtig?«fragte ich.»Ach, der Ring selbst bedeutet ihr gar nichts; es ist eine Frage des Anstands. Ein Dieb im Haus, das ist für Großmutter unvorstellbar. Sie ist zornig und aufgebracht.«
«Wie geht es Onkel Henry heute morgen?«
«Ich weiß nicht genau. Dr. Young ist über Nacht geblieben und ist jetzt bei ihm. Ich will Tante Anna ablösen, damit sie sich einmal ein wenig ausruhen kann. Sie hat ja tagelang nicht mehr geschlafen. Ach, Leyla, ich finde das alles so furchtbar.«
Mit ihrem Pompadour im Arm und empörter Miene lief Martha weiter. Meine zweiunddreißigjährige Cousine erschien mir in vieler Hinsicht unglaublich kindlich, so verwöhnt und eigensinnig wie ein kleines Mädchen, doch in anderer Hinsicht wiederum benahm sie sich schon wie eine alte Jungfer, so festgefahren in ihren Gewohnheiten, daß sie die geringste Störung übelnahm. Ich sah ihr nach, und fragte mich, ob ich nach sieben Jahren unter diesem Dach genauso sein würde.
Der Spaziergang erfrischte mich, und die Bewegung tat mir gut, aber gegen die Kopfschmerzen half er nicht. Als ich kurz vor Sonnenuntergang heimkehrte, bat ich darum Gertrude, mir mit dem Abendessen etwas Laudanum zu bringen. Niemand von der Familie aß an diesem Abend unten. Anna und Theo wachten bei Henry, dem es sehr schlecht ging. Martha hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Colin war ebenfalls nicht da. Ich ging früh zu Bett und schlief, ein ungelesenes Buch aufgeschlagen auf der Brust, sehr bald ein.
Am Morgen erwachte ich erneut mit Kopfschmerzen. Ich hätte eigentlich beunruhigt sein müssen, aber ich führte die Kopfschmerzen wie zuvor auf die Spannungen und die bedrückende Atmosphäre in diesem Haus zurück und nahm einfach noch einmal etwas Laudanum. Ich streifte fast den ganzen Tag durch den benachbarten Wald, genoß die Freiheit und die Stille der Natur hier auf dem Land und setzte mich am späten Nachmittag mit einer Tasse Tee und einem Buch in mein Zimmer.
Die tiefe Stille im ganzen Haus war drückend und schwer. Es war, als hielt das Haus selbst den Atem an. Die Zeit schien zum Stillstand gekommen zu sein. Unten huschten die Bediensteten leise durch die Räume und sprachen flüsternd miteinander, als fürchteten sie, durch ein lautes Wort ein Gewitter zur Entladung zu bringen. Aus Henrys Zimmer drang kein Laut. In den oberen Korridoren rührte sich nichts. Alles schien zu warten.
Als die Kopfschmerzen nach einer Weile wiederkehrten, bat ich Gertrude, Dr. Young zu mir zu bringen.
Das sachte Klopfen war bezeichnend für den Mann, zurückhaltend und rücksichtsvoll. Ich legte ein Lesezeichen in mein Buch, schloß es und sagte:»Bitte, treten Sie ein. «Gertrude kam zuerst herein. Ihr Blick schweifte rasch und aufmerksam durch das Zimmer, dann wandte sie sich mir zu und musterte mich von Kopf bis Fuß, um sich zu vergewissern, daß ich geziemend gekleidet war, ehe sie dem männlichen Besucher den Weg freigab.»Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind, Doktor«, sagte ich zu Dr. Young, der geduldig hinter Gertrude wartete.
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