«Ich war noch nie am Meer, Dr. Young, aber ich habe mir sagen lassen, daß so ein Seeaufenthalt sehr gesund ist.«

Er nickte.»Die Luft ist gut für die Atmungsorgane, und das Wasser wirkt auf den ganzen Körper erfrischend. Ich empfehle so einen Aufenthalt allen meinen Patienten, den kranken wie den gesunden.«

«Ich glaube, mir würde das überhaupt keinen Spaß machen«, bemerkte Martha und sah Dr. Young mit einem beinahe koketten Lächeln an.»Der viele Sand und der ständige Wind würden mich nur stören. Ganz zu schweigen von dem schmutzigen Wasser.«

Während das Gespräch dahinplätscherte, beobachtete ich Dr. Young in dem Bemühen, mich seiner zu erinnern. Wenn er während der Krankheit meines Vaters so häufig im Haus gewesen war wie jetzt, wo es Henry getroffen hatte, mußte ich doch eine Erinnerung an ihn haben. Doch genau wie Colin, Theo und die anderen — außer Martha —, blieb Dr. Young im Dunklen.

Nach einer Weile bemerkte er, wie angestrengt ich ihn betrachtete und fragte lächelnd:»Wo sind Sie denn mit Ihren Gedanken, Miss Pemberton?«

«Ich kann einfach nicht glauben«, sagte ich stockend,»daß man so gar nichts für meinen Onkel tun kann.«

«Wenn man etwas tun könnte, Miss Pemberton, dann wäre es schon geschehen, glauben Sie mir. Aber das Gehirn ist ein kompliziertes Organ, über das wir noch sehr wenig wissen. Es gibt kaum anatomische Darstellungen des Gehirns, es gibt kaum Beschreibungen von Krankheitsbildern, die das Gehirn betreffen. Und solange das Gehirn und seine Funktionen nicht gründlich erforscht sind, können wir Ärzte bei Erkrankungen dieses Organs wenig tun.«

«Aber«, warf Theo ein und tupfte sich die Lippen mit seiner Serviette,»es werden ja ständig neue Entdeckungen gemacht. Dieser junge Wissenschaftler in Paris — wie heißt er gleich? — hat endlich die Theorie der Urzeugung widerlegt. Und nach der englischen Entdeckung der Anästhesie eröffnen sich für die Medizin unbegrenzte Möglichkeiten. «Dr. Young lächelte verschmitzt.»Die Anästhesie war eine amerikanische Erfindung, soviel ich weiß, aber Sie haben völlig recht, was Monsieur Pasteur und seine bemerkenswerten Experimente angeht. Wenn man die naturwissenschaftliche Forschung mit der medizinischen vereinen würde, anstatt getrennt zu arbeiten, würden wir wahrscheinlich noch viel schnellere Fortschritte machen.«

«Wie meinen Sie das, Doktor?«

«Ich bin der Auffassung, daß mehr Ärzte auch selbst Forschung betreiben sollten, anstatt sich ausschließlich der Versorgung der Kranken zu widmen. Denn während die Forschung in den anderen Naturwissenschaften große Fortschritte macht, stagniert sie bedauerlicherweise in der Medizin, wo neue Erkenntnisse doch der Menschheit den größten Nutzen bringen könnten. Aber dieses Thema ist für die Damen sicher langweilig. Wir sollten uns etwas von allgemeinerem Interesse zuwenden.«

«Aber nein, Doktor!«protestierte ich.»Mich interessiert dieses Gespräch über den medizinischen Fortschritt sehr. Ich bin ja in ganz direkte Berührung mit dem Tod gekommen, und «

«Sie sprechen wohl von Ihrem Vater?«

«Kannten Sie ihn?«

Dr. Young schüttelte den Kopf.»Ich kam erst vor sechs Jahren nach East Wimsley, nachdem ich beschlossen hatte, mich aus der ärztlichen Praxis zurückzuziehen, oder, genaugenommen, der Hektik der Großstadt zu entfliehen. Ihr Vater wurde von Dr. Smythe behandelt. «Bei diesem Namen kamen mir plötzlich bruchstückhafte Erinnerungen in den Sinn: Der Name Smythe wurde flüsternd gesprochen. Ein korpulenter kleiner Mann, der eilig in das Zimmer meines Vaters geführt wurde. Von drinnen das Schluchzen einer Frau.

Darum also hatte das Zusammentreffen mit Dr. Young keinerlei Erinnerung bei mir ausgelöst. Er gehörte nicht in diese dunkle Vergangenheit.

«— las ich natürlich die Krankengeschichten. «Seine angenehme Stimme holte mich in die Wirklichkeit zurück.»Oh, entschuldigen Sie, Doktor. Ich habe nicht zugehört. «Er lachte nachsichtig.»Ich sagte nur, daß ich, als ich nach East Wimsley kam, selbstverständlich die Unterlagen, die Dr. Smythe mir hinterlassen hatte, durchgesehen habe. Die Krankengeschichten der Pembertons habe ich sehr gründlich gelesen und bekam so Kenntnis von dem Tumor. «Ich senkte die Lider. Dieses Wort Tumor hatte eine tiefe Wirkung auf mich. Dieser Tumor war auch mein Tumor, war auch mein Todesurteil.

Colin schob seinen leeren Teller von sich weg und sagte:»Sind Sie, nach allem, was Sie über die Krankheit unserer Familie wissen, eigentlich je auf eine ähnliche Geschichte gestoßen, Doktor?«

Dr. Young sah einen Moment nachdenklich vor sich hin.»Es gibt natürlich eine Reihe anderer Krankheiten, die in manchen

Familien gehäuft auftreten — Farbenblindheit zum Beispiel, die Bluterkrankheit, Klumpfuß oder Wahnsinn. Aber nie bin ich einem Fall begegnet, der eine so lange Geschichte hat, und ich habe auch nie erlebt, daß alle Familienmitglieder ohne Ausnahme erkranken. Dennoch wundert es mich nicht. Mir sind im Lauf meiner medizinischen Praxis viele unerklärliche Dinge begegnet. Das hat mich gelehrt, niemals überrascht zu sein.«

Wir schwiegen eine Weile. Das Kapitel aus Thomas Willis’ Buch kam mir in den Sinn, in dem er schrieb, daß die Behandlungen der Ärzte gegen das Gehirnfieber oder >Pember-Town-Fieber< fruchtlos und dies auch >Gottes Wille< sei. Und da stellte sich mir plötzlich, trotz dieser keinen Widerspruch duldenden Worte, eine Frage, die ich Dr. Young nur wegen meines großen Vertrauens zu ihm zu stellen wagte:»Glauben Sie denn, Doktor, daß man, obwohl die medizinische Forschung sich so langsam entwickelt, eines Tages ein Mittel gegen den Gehirntumor finden wird?«

«In der Medizin gibt es immer Hoffnung, Miss Pemberton«, antwortete mir Dr. Young mit einem tröstenden Lächeln,»aber ich sagte Ihnen ja schon, wir wissen kaum etwas über die Funktionen und die Krankheiten des Gehirns. Unsere heutigen Ärzte suchen nach einem Heilmittel für die Schwindsucht, sie versuchen, dem Gallenstein und der Blinddarmentzündung beizukommen. An diesen Leiden sterben weit mehr Menschen als an Krankheiten des Gehirns, und wir stehen ihnen immer noch hilflos gegenüber. Wir brauchen Forscher. «Er schüttelt den Kopf.»Irre ich mich, Doktor«, bemerkte Theo,»oder erwähnten Sie nicht einmal, daß Sie nach East Wimsley gekommen sind, um selbst Forschung zu betreiben?«

«Das ist richtig, ja. Das ist auch der Grund, warum ich aufs Land gezogen bin und meine Stadtpraxis aufgegeben habe. Es war ein Glück, daß damals, als ich herkam, gerade der alte

Eichenhof zum Verkauf stand. Dort habe ich Ruhe, bin aber doch nahe genug an der Hauptstraße, um für Notfälle jederzeit zur Verfügung sein zu können. Ich habe dort ein kleines Laboratorium, das sogar mit einem Mikroskop ausgestattet ist. «Theo und Colin, die froh waren, einmal über etwas anderes als Baumwollspinnereien und englische Wirtschaftspolitik sprechen zu können, verwickelten Dr. Young in eine angeregte Unterhaltung, der ich schweigend beiwohnte; ich war zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, um etwas beizusteuern. Ich wollte unbedingt Dr. Young allein sprechen und ihn nach seiner fachlichen Meinung über Thomas Willis’ Befunde fragen. Am liebsten hätte ich ihn sofort ins Verhör genommen und ihn genauer über den Tumor befragt, aber ich wagte es nicht, vor der Familie zu sprechen. Gewiß würde sich zu einer anderen Zeit Gelegenheit ergeben, unter vier Augen mit ihm zu sprechen.

Als Dessert gab es eine Caramelspeise mit Sahne. Ich aß schweigend. Anna, die die ganze Zeit kein Wort gesprochen hatte, entschuldigte sich jetzt, um zu Henry hinaufzugehen. Voller Mitgefühl sah ich ihr nach, als sie müde, mit hängenden Schultern und schleppenden Schrittes zur Tür hinausging. Vielleicht galt meine Anteilnahme auch nicht nur ihr, sondern allen Pembertons, auch mir selbst.

Nach dem Dessert begaben wir uns gemeinsam in den Salon. Die Männer verzichteten, um Martha und mir Gesellschaft leisten zu können, auf ihre Gewohnheit, sich zu einer Zigarre und einem Glas Portwein ins Herrenzimmer zurückzuziehen. Das war wohl der Tatsache zuzuschreiben, daß die Familie unter so starker Belastung stand; denn natürlich blieb keiner von uns von Henrys Leiden unberührt. Seine Qual war ja auch die unsere, und bot einen Ausblick auf das, was eines Tages auch auf uns zukommen würde.

Mit einem Glas Rotwein setzten wir uns alle um den Kamin. Ich gesellte mich zu Dr. Young, der auf einem zweisitzigen Sofa Platz genommen hatte, Colin und Theo ließen sich in zwei Ledersesseln nieder. Martha ging zum Klavier und begann, uns mit einigen leichten Stücken von Chopin zu unterhalten.

In dieser behaglichen Atmosphäre begann ich langsam, mich zu entspannen und freundlichen Träumereien zu überlassen. In den letzten Monaten, seit dem Tod meiner Mutter, war es mir kaum einmal gegönnt, heitere Phantasien zu spinnen. Während Martha, den allgegenwärtigen Pompadour zu ihren Füßen, uns mit ihrem hübschen Spiel erfreute, saß ich in wohliger Zufriedenheit neben Dr. Young.

Angenehm glitt die Zeit dahin, während Martha uns ein Stück nach dem anderen spielte, alle lebhaft und leicht, geeignet, düstere Gedanken zu vertreiben. Als sie nach einer Stunde endlich die Hände von den Tasten nahm, um sich eine Pause zu gönnen, wurde ich mir halb verlegen, halb erschrocken bewußt, daß ich fast die ganze Zeit damit zugebracht hatte, Colin anzusehen.

Sein Profil, das sich vor dem hellen Schein des Feuers scharf umrissen abhob, hatte mir gezeigt, daß ihn etwas bedrückte. Seine Lippen waren fest aufeinander gepreßt, der Unterkiefer gespannt, die geschwungenen Brauen waren gerunzelt. Marthas perlendes Spiel hatte das, was Colin offenbar beschwerte, nicht erleichtern können, und als die Musik aufhörte, hatte ich den Eindruck, daß die Spannung ihn fast zu zerreißen drohte.