Ich wußte jetzt, daß das, was man mir über meinen Vater berichtet hatte, der Wahrheit entsprach. Er war ein Opfer der Pemberton Krankheit geworden und hatte diese unsäglichen Verbrechen im Fieberwahn verübt. Ein wissenschaftlicher Beobachter hatte die Geschichte der Pembertons aufgezeichnet; was meinem Vater widerfahren war, hatte schon seine Vorfahren zugrunde gerichtet, so, wie Henry es erlitt. Und früher oder später würde es auch mich treffen.

Ich konnte jetzt nicht mehr nach London zurückkehren. Damit hatte ich mich bereits abgefunden, denn Edward bedeutete mir nichts mehr. Im Rückblick schien es mir, als hätte ich ihn niemals wirklich geliebt; ich hatte ihn nur leiden mögen und in schwerer Zeit bei ihm Trost und Geborgenheit gesucht.

Jetzt waren diese Menschen meine Familie, und dieses Haus war mein Heim. Und so würde es bleiben bis an das Ende meines Lebens.

Der Wagen stand noch vor der Remise, als ich zurückkam. Ich betrat das Haus durch die Hintertür, da ich niemandem begegnen wollte, und huschte leise die Treppe hinauf in mein Zimmer. Das Mädchen hatte schon Feuer gemacht und die Öllampen angezündet, so daß mich angenehme Wärme und Helligkeit empfingen, als ich eintrat. Thomas Willis’ Buch lag auf dem kleinen Tisch beim Sofa, der Grund für die unerwartete Wende, die mein Leben genommen hatte. Doch ich verspürte weder Bitterkeit noch Groll; still nahm ich das Schicksal hin, gegen das jeder Kampf sinnlos war.

Als ich am Toilettentisch saß und mein Haar ordnete, klopfte es. Einen Moment lang hoffte ich, es wäre Colin, und war selbst überrascht über meine Enttäuschung, als ich Theo auf der Schwelle stehen sah. Bewundernd sah er mich an.

«Wie sehr du deiner Mutter ähnelst«, sagte er leise, und ein schwaches Lächeln spielte um seinen Mund.

«Sie hatte auch immer so rosige Wangen, wenn sie von draußen hereinkam. Deine Mutter war eine richtige Naturliebhaberin, weißt du. Immer arbeitete sie entweder im Garten oder machte lange Spaziergänge oder ritt für Stunden aus.«

«Das wußte ich gar nicht. «Ich sah sie vor mir, wie sie in unserer engen, kleinen Wohnung über ihre Näherei gebeugt saß, der Körper schmal und schmächtig, die Haut weiß, weil sie kaum je an die frische Luft kam.

«Du bist ihr in vielem ähnlich«, fuhr Theo langsam fort.»Sie hat ihr Haar auch immer so getragen. «Er hob den Arm und berührte mit den Fingerspitzen mein lose herabfallendes Haar.

«Großmutter fand es unschicklich. Sie sagte, nur lockere Frauenzimmer trügen ihr Haar offen. Selbst nachdem Jenny deinen Vater geheiratet hatte, blieb sie ungezähmt und eigenwillig wie ein Kind.«

Ich sah Theo erstaunt an. Nie hatte ich ihn in so liebevollem Ton sprechen hören, nie sein Gesicht so weich gesehen.

«Sie hat mir entsetzlich gefehlt, als sie mit dir fortging, Leyla. Ich war außer mir vor Kummer.«

Ich trat einen Schritt zurück, denn Theo stand mir ungewöhnlich nahe.»Warum bist du uns dann nicht gefolgt?«

«Ich konnte nicht, Leyla. Ich konnte einfach nicht. «Ich wandte mich von ihm ab und ging wieder zum Toilettentisch, um mir das Haar zu flechten. Als ich fertig war, drehte ich mich wieder nach Theo um und sagte kühl:»Ich wollte, du wärst uns gefolgt. Es gab Jahre in London, die ich lieber nicht erlebt hätte.«

Etwas Seltsames ging mit ihm vor, das ich nicht bestimmen konnte. Es war, als würden plötzlich Gefühle in ihm wach, Zorn und Reue, die er lange niedergehalten hatte und die ihm jetzt fast die Fassung zu rauben drohten.»Ich wollte es Leyla. Wirklich, ich wollte es!«

«Und wer hat dich davon abgehalten? Großmutter? Ach, es ist nicht mehr wichtig, Theo. Ich bin bereit, wie ihr alle die Vergangenheit ruhen zu lassen, denn es kann nichts Gutes bringen, sich an alten Kummer zu erinnern. Wir alle teilen jetzt dieselbe Zukunft, dasselbe Schicksal. Nichts kann je wieder so sein wie früher.«

Theo sah mich noch einen Moment lang so an, als sähe er gar nicht mich, sondern jemand ganz anderes. Dann aber wich dieser Ausdruck von seinem Gesicht und er machte wieder den selbstsicheren, gewandten Eindruck wie immer. Er plauderte höflich mit mir, während wir zusammen die Treppe hinuntergingen, aber ich hörte ihm kaum zu. Ich hielt nach

Colin Ausschau und hoffte sehr, ihn zu sehen. Wir gingen zuerst in den Salon, um vor dem Abendessen noch ein Glas Sherry zu trinken. Martha saß am Kamin und stickte. An ihrer Seite saß der Herr, den ich vom Fenster meines Zimmers gesehen hatte.»Leyla«, sagte Theo hinter mir,»ich glaube, du hast unseren Hausarzt noch nicht kennengelernt. Das ist Dr. Young.«

Er hatte ein väterliches Gesicht mit gerader Nase und energischem Kinn, und er wirkte so kraftvoll und lebendig, daß ich kaum glauben mochte, daß er fast so alt wie Henry war, also fast sechzig. Sein Lächeln war herzlich, was sich auch in den blitzenden Augen spiegelte. Mehr noch jedoch als das gewinnende Äußere und das warme Lächeln beeindruckte mich Dr. Youngs Stimme. Als ich ins Zimmer trat und sah, wie rasch er aufstand, um mich mit seinem von Herzen kommenden Lächeln zu begrüßen, war er mir augenblicklich angenehm. Doch als er mit seiner weichen, ausdrucksvollen Stimme sagte:»Guten Abend, Miss Pemberton«, wußte ich sofort, daß dies ein Mann war, dem ich vertrauen konnte. Die Stimme war nicht laut, eher gedämpft, aber sie hatte ein so volles Timbre, daß sie den Raum auszufüllen schien. Sie war sanft und doch bestimmt. Es war die Stimme eines Mannes, der sich seiner selbst bewußt war, und wenn Dr. Young mit einem sprach, so hatte man das Gefühl, daß seine Worte wirklich nur an einen selbst gerichtet waren und an niemanden sonst, der sich vielleicht in der Nähe befand.»Guten Abend, Doktor«, erwiderte ich.

Anna eilte ins Zimmer, während ich sprach, und stellte sich an Dr. Youngs Seite. Sie wartete höflich, wenn auch in sichtlicher Besorgnis, und sagte, nachdem der Arzt und ich noch ein Lächeln getauscht hatten, mit zitternder Stimme:»Dr. Young! Bitte, Sie müssen nach Henry sehen.«

Er wandte sich ihr mit einem Lächeln zu, das voller Verständnis und Geduld war.»Ja, natürlich, Mrs. Pemberton. Ich habe soeben Ihre schöne Nichte begrüßt, die ich noch nicht kannte. «Wieder richtete er sich an mich.»Sie haben bisher in London gelebt?«

«Ja, Doktor. Kennen Sie London?«

Er lachte leise, nicht über mich oder meine Frage, sondern über etwas, das ihm durch den Kopf ging; als hätte meine Frage ihn an etwas Erheiterndes erinnert.»Ja, Miss Pemberton, ich kenne London.«

«Dr. Young — «Annas Stimme klang schrill.

«Ich bin ja da, meine Liebe. Sie dürfen sich nicht so aufregen. «Jetzt wandte er Anna seine ganze Aufmerksamkeit zu, und es war, als ob wir anderen nicht mehr vorhanden wären. Ich war erstaunt, wie rasch es ihm durch diese Zuwendung gelang, sie zu beruhigen.

Das war ein Arzt, sagte ich mir, der nicht nur für das Wohl des Körpers zu sorgen verstand, sondern auch für das der Seele.

«Er ist jetzt wach, Dr. Young. Aber er will einfach nichts essen«, sagte Anna.

«Gut, ich gehe gleich zu ihm hinauf. «Dr. Young richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf mich.»Entschuldigen Sie mich jetzt, Miss Pemberton. Ich muß nach Ihrem Onkel sehen. Aber ich werde gleich wieder da sein und dann das Vergnügen haben, in Ihrer Gesellschaft zu Abend zu essen.«

Ich sah ihm nach, als er hinausging, und hatte das Gefühl, als würde es plötzlich kühler im Zimmer. Doch mir blieb keine Zeit über den Eindruck nachzusinnen, den dieser Mann auf mich gemacht hatte; kaum nämlich war er mit Anna zu Henry hinaufgegangen, da kam Colin herein, noch im Reitkostüm, die Hände in den Hosentaschen.

«Garstiges Wetter draußen«, bemerkte er und ging zur Kredenz, um sich ein Glas Sherry einzuschenken.

«Du bist wirklich ein unglaublicher Flegel, Colin«, sagte Theo erbittert.»Kommst hier herein, als gäbst du eine Vorstellung im Hippodrom. Als wüßtest du nicht, daß man sich zum Abendessen kleidet. «Colin sah an sich hinunter.»Bin ich vielleicht nackt?«Martha fuhr hoch.»Colin!«Ihr Gesicht war blutrot.»Entschuldige, Schwesterherz. Ich weiß, das war kein guter Scherz. Nun, Leyla?«Er kam mit seinem Glas in der Hand auf mich zu.»War der Spaziergang schön?«Es klang fast angriffslustig, wie er das sagte.

«Sehr schön, ja.«

«Jetzt brauchst du dir nur noch von mir das Reiten beibringen zu lassen.«

«Das würde mir sicher Spaß machen. «Unsere Blicke trafen sich.»Wirklich?«fragte er ruhig. Er stand nahe bei mir, und während ich ihn unverwandt ansah, begann mein Herz aufgeregt zu pochen. Unmöglich, sagte ich mir beinahe zornig, daß dieser ungehobelte Mensch eine solche Wirkung auf mich haben sollte. Nein, das kam sicher einzig von dem Sherry, den ich getrunken hatte.

«Darf ich dann jetzt ins Speisezimmer führen?«Er bot mir seinen Arm, und ich legte meine Hand darauf. Theo und Martha folgten uns. Da wir nur zu viert waren, veränderten wir die Sitzordnung der Behaglichkeit wegen. Theodore und Colin setzten sich Martha und mir gegenüber, und als das Mädchen mit der Suppe kam, versiegte der Etikette gemäß zunächst einmal unser Gespräch.

Dr. Young und Anna gesellten sich wenig später zu uns. Henry hatte, so berichteten sie, ein Pulver bekommen und lag jetzt in ruhigem Schlaf. Während wir aßen, warf ich immer wieder einen Blick zu Dr. Young hinüber, dessen ruhiges Selbstbewußtsein mich so sehr beeindruckte. Und wenn er es bemerkte, antwortete er mit diesem warmen Lächeln, das ich so vertrauenerweckend fand.

Als nach dem Braten das Gemüse aufgetragen wurde, brach irgend jemand in unserem Kreis das Schweigen. Um Anna, die sehr niedergeschlagen und müde wirkte, ein wenig zu erheitern, erzählte Dr. Young eine witzige Anekdote von der neuen Mode, am Meer Urlaub zu machen. Wir lachten alle, doch Anna brachte nicht einmal ein höfliches Lächeln zustande. Ich hatte den Eindruck, daß sie gar nicht zugehört hatte; sie wirkte in sich gekehrt und aß kaum einen Bissen.