Theo und Anna sahen blaß aus, mit dunklen Ringen unter den Augen. Sie hatten wohl die ganze Nacht bei Henry gewacht, doch völlig außerstande, dem schwer Leidenden irgendwie zu helfen. Martha, den unvermeidlichen Handarbeitsbeutel auf dem Schoß, saß still da und starrte geistesabwesend vor sich hin.
«Geht es dir gut?«fragte Colin schließlich, als uns zum Abschluß der Mahlzeit Kaffee und Biskuits gebracht worden waren.»Danke, ja. Würdest du mir die Kekse herüberreichen, bitte?«Er gab sich unbekümmert, aber seine Sorglosigkeit wirkte unecht, und ich wußte nicht, für wen er sich bemühte. Anna und Theo waren in ihrer Bekümmertheit versunken, und Martha schien völlig geistesabwesend. Wenn Colin sich um meinetwillen so verhielt, war mir unklar, aus welchem Grund.
Er wandte den Blick nicht von mir.»Bist du mir denn böse?«Ich sah ihn erstaunt an.»Wieso sollte ich dir böse sein?«Er zuckte die Achseln.»Du bist so seltsam heute. Du wirkst so distanziert und unzugänglich, daß ich glaubte.«
Ich lachte trocken.»Du bist ganz schön eitel, Colin, wenn du meinst, daß meine Stimmungen von dir abhängen. Nein, mit dir hat das nichts zu tun.«
«Oh. «Er schien enttäuscht.»Dann sag mir doch bitte, was es ist. «Ohne ihm zu antworten, trank ich den letzten Schluck Kaffee und stellte die Tasse nieder. Den Blick ins Leere gerichtet, dachte ich wieder an jene Passage in Thomas Willis’ Buch — diese eine unscheinbare Buchseite, deren kurzer Text mein ganzes Leben mit einem Schlag verändert hatte. Wo ich allenfalls ein paar Worte über eine Krankheit zu finden erwartet hatte, bei der man mit Mühe vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit der angeblichen Erbkrankheit der Pembertons entdecken konnte, hatte ich unwiderlegbaren Beweis dafür gefunden, daß das Leiden der Familie Pemberton Tatsache war.»Was denkst du gerade, Leyla?«
Ich schüttelte den Kopf und sah Colin an. Für einen Augenblick glaubte ich Wärme und Teilnahme in seinen Zügen zu erkennen.»Ich habe gerade daran gedacht, wie ich als Kind meine Mutter oft dabei ertappt habe, daß sie mich so ansah, als warte sie auf irgend etwas. Vielleicht wartete sie wirklich — auf die ersten Anzeichen des Wahnsinns.«
«Leyla!«Er beugte sich über den Tisch.
«Und ihr alle hier! Wie ihr mich angestarrt habt am ersten Tag, als ich ankam! Und eure Fragen, ob ich an Kopfschmerzen leide. Jetzt begreife ich das alles.«
«Was sagst du da, Leyla?«
«Ich sage, daß ihr recht hattet. Es gibt die Krankheit wirklich. «Theo fuhr plötzlich herum und sah mich an. Hatte er vielleicht die ganze Zeit nur so getan, als sei er in seinen Kummer versunken? Hatte er in Wirklichkeit aufmerksam zugehört? Es war ohne Belang, und es war mir gleichgültig.
Colin schien ehrlich entsetzt.»Was ist geschehen, daß du deine Meinung plötzlich änderst? Gestern abend warst du noch fest entschlossen, uns alle Lügen zu strafen. Und jetzt, über Nacht, bist du kleinlaut geworden und erklärst uns, daß du plötzlich auch an die Krankheit glaubst. Wie ist es dazu gekommen?«
Ich blickte von Colin zu Theo und wieder zu Colin. Martha, die neben mir saß, hatte eine Stickerei aus ihrem Pompadour genommen und arbeitete still daran. Anna rührte mit leerem Blick in ihrer Kaffeetasse.»Es ist nun einmal geschehen.«
«Und weiter?«bohrte Theo.
«Ich habe endlich begriffen, was es heißt, eine Pemberton zu sein. Ich kann die Vergangenheit jetzt ruhen lassen. Was ihr über meinen Vater erzählt habt, ist sicher wahr. Und ich kann nun auch nicht mehr zu Edward zurückkehren. Jetzt nicht und niemals.«
Meine beiden Vettern schienen erleichtert, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Theo war offensichtlich froh, daß ich meine Bemühungen, meine Erinnerungen wiederzufinden, aufgegeben hatte; Colin hingegen lächelte unwillkürlich, als ich von Edward sprach.»Dann weißt du also von dem Tumor?«fragte Theo.
«Ja. Warum hat keiner von euch mir etwas davon gesagt?«
«Weil wir wünschten, daß du dieses Haus verlassen und dein Leben fortsetzen würdest, als gäbe es uns gar nicht. «Theos Stimme war sanft, aber eindringlich. Sein angespanntes Gesicht wurde weich, als er sich über den Tisch beugte und mit teilnahmsvoller Gebärde meine Hände umfaßte.»Du kamst völlig ahnungslos hierher, Leyla, ohne das geringste Wissen über unsere Familie. Du kanntest nicht einmal die wahre Todesursache deines Vaters und deines Bruders. Wir hatten gehofft, wir könnten es dir verschweigen und du könntest wieder von hier fortgehen, wie du hergekommen warst. Doch du zwangst uns, dir Schritt um Schritt die Wahrheit zu enthüllen. Aber immer noch hofften wir, daß du unverbrüchlich an den Idealen des Guten und der Gerechtigkeit festhalten würdest. Selbst gestern abend, als dir unterstellt wurde, den Ring gestohlen zu haben — was ich nicht einen Moment lang glaubte —, hofften wir noch, du würdest so zornig werden, daß du für immer von hier fortgehen und zu deinem Verlobten zurückkehren würdest.«
Ich nickte langsam, überzeugt von der Wahrheit dessen, was er sagte. Daß jemand mich arglistig mit einem gefälschten Brief in dieses Haus gelockt und versucht hatte, mich hier festzuhalten, indem er mein Schreiben an Edward vernichtete, daran dachte ich gar nicht mehr.»Wenn wir dir bewiesen hätten, daß die Krankheit keine Erfindung ist, wärst du geblieben — wie du dich jetzt, wo du die Wahrheit weißt, zum Bleiben entschlossen hast. Es tut mir in der Seele leid, Leyla, daß deine Heimkehr so unglücklich verlaufen ist. Wir haben das nicht gewollt.«
«Es macht nichts, Theo. Es ist besser, die Wahrheit zu wissen.«
«Dann hast du das Buch gelesen?«
«Ja.«
«Wo hast du es gefunden?«
«Jemand hatte es mir ins Zimmer gelegt. «Beide Vettern sahen mich überrascht an.
«Absichtlich, meinst du?«fragte Colin.»Jemand hat es dir absichtlich hingelegt?«
«Das ist jetzt nicht mehr wichtig. Es ist mir lieber, daß ich die Wahrheit weiß.«
«Aber das war doch gemein, Leyla. Ohne das Buch hättest du immer noch von hier fortgehen und ein glückliches Leben führen können.«
«Hättest du das denn gewollt? Daß ich die Familie weiterführe, während es dir, Theo und Martha verboten war? Würdest du das nicht gemein nennen, Colin? Derjenige, der mir das Buch hingelegt hat, und ich nehme es ihm nicht übel, hat es mit gutem Grund getan. Er wollte mir zeigen, daß euer Verhalten gerechtfertigt ist und daß die Krankheit tatsächlich existiert. «Mir schnürte sich die Kehle zu, während ich sprach.»Hättest du es denn richtig gefunden, Colin, wenn ich geheiratet und Kinder zur Welt gebracht hätte, während ihr hier ein einsames Leben führen müßt?«
Er sagte nichts, und seine grünen Augen blieben unergründlich, dafür erklärte Theo hastig:»Wir sind nicht so unglücklich mit unserem Leben, Leyla. Keiner braucht uns zu bemitleiden. Wir sind reich und können uns allen Komfort und Luxus leisten.«
«Du hast meine Fragen nicht beantwortet, Colin«, sagte ich,»aber es ist auch nicht so wichtig. Einer von euch, vielleicht auch Tante Anna oder Gertrude oder sogar Großmutter, hat mir das Buch ins Zimmer gelegt. Und aus gutem Grund. «Aus dem Augenwinkel sah ich Marthas flink stichelnde Hände und erinnerte mich ihrer Worte vom vergangenen Abend — daß sie mich um die Möglichkeit beneide, einfach fortgehen und den Mann heiraten zu können, den ich liebte.»Es interessiert mich im Grund gar nicht, wer mir das Buch gebracht hat. Es ist belanglos. Von Belang ist einzig, daß ich die Wahrheit erfahren habe. «Mein Blick fiel auf meine leblosen Hände.»Und dafür bin ich dankbar. «Keiner sagte etwas, und in der bedrückenden Stille war nur das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims zu hören. Schließlich schob ich meinen Stuhl vom Tisch zurück und stand auf.
«Ich mache jetzt einen Spaziergang«, sagte ich.»Oh, keine Sorge, Theo, ich habe nicht die Absicht, zum Wäldchen zu gehen. Ich werde die andere Richtung einschlagen. Ich weiß aus Erfahrung, daß ein Spaziergang mir guttut, wenn ich verwirrt bin und meine Gedanken ordnen möchte. Bitte entschuldigt mich.«
Theo und Colin standen auf. Ihre Gesichter waren verschlossen. Einen Moment lang schien es, als wolle Theo etwas sagen, aber dann tat er es doch nicht.
Während ich mich oben in meinem Zimmer zum Ausgehen ankleidete, hörte ich draußen einen Wagen vorfahren. Ich schaute hinunter und sah einen stattlichen älteren Herrn mit einer schwarzen Ledertasche aussteigen und zum Haus gehen. Einen Augenblick später, gerade als ich mein Zimmer verlassen wollte, hörte ich im Flur jemanden vorübergehen — genau wie in der letzten Nacht —, hörte Annas verzweifeltes Flüstern und daneben die beruhigende Stimme eines Mannes. Dr. Young war erneut gekommen, um nach Henry zu sehen. Ich nahm mir vor, meinen Onkel später zu besuchen, und ging die Treppe hinunter zur Haustür. Der eisige Wind packte meinen Umhang und meine Röcke, als ich ins Freie trat, aber die frische Luft und die beißende Kälte taten mir gut. Mit erhobenem Kopf stellte ich mich dem Wind entgegen und ging tief Atem holend auf dem Kiesweg vom Haus zur Straße nach East Wimsley.
Mehrere Stunden lief ich unter verhangenem Himmel durch morastiges Gelände. Meine Finger waren gefühllos vor Kälte, mein Gesicht prickelte wie von tausend Nadelstichen, aber der lange Marsch tat mir gut, und ich hatte Zeit zum Nachdenken. Bei diesem Wetter war außer mir niemand unterwegs, und so konnte ich ungestört meinen Gedanken nachhängen und versuchen, mich auf die neue Situation einzustellen. Es war wirklich so, daß eine neue Phase meines Lebens begonnen hatte. Seit ich jene Passage in Thomas Willis’ Buch gelesen hatte, war alles, was mir gestern noch wichtig erschien, bedeutungslos geworden. Tante Sylvias gefälschter Brief, die Vernichtung meines Schreibens an Edward, der Diebstahl von Theos Ring und alle anderen Geheimnisse, die meine Verwandten umgaben. Vor allem aber war der heftige Wunsch, die Erinnerung an meine frühe Vergangenheit wiederzufinden, völlig geschwunden.
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