Nicht die leiseste Erinnerung daran regte sich. Die Jahre bis zu meinem sechsten Geburtstag lagen in tiefstem Dunkel. Es war, als wäre ich in London zur Welt gekommen und nicht hier. Vor vielen Jahren hatte ich in kindlicher Neugier meine

Mutter gefragt, warum ich mich nicht wie andere an meine frühe Kindheit erinnern konnte. Die kurze Antwort, die sie mir gegeben hatte, hatte nichts geklärt.»Das liegt an dem, was damals geschehen ist«, hatte sie gesagt und war auf weitere Fragen von mir nicht eingegangen. Danach hatte ich das Thema nie wieder zur Sprache gebracht.

«Und deine Cousine Martha erinnert sich natürlich an dich. Sie war zwölf, als man dich — äh, als du von hier fortgingst. «Anna schwieg, und ich hatte einen Moment Zeit, meinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Bildete ich es mir ein, oder war das Verhalten dieser Frau äußerst vorsichtig? Ihre Sprechweise erschien mir verkrampft und zögernd, als fürchte sie ständig, etwas Falsches zu sagen. Sie ließ noch ein Stück Zucker in ihre Tasse fallen und rührte wieder geräuschvoll um.»Großmutter kann dich jetzt noch nicht empfangen. Du hast also Zeit, dich frischzumachen.«

Ich zog die Brauen hoch. Eine Großmutter hatte ich also auch. Innerhalb weniger Minuten war aus der Waise Leyla Pemberton eine junge Frau mit einer großen Familie geworden.

Anna wandte sich jetzt von mir ab und zwang sich, scheinbar gleichmütig ins Feuer zu blicken, doch ich spürte deutlich, daß sie nicht die gelassene Gastgeberin war, die sie mir vorzuspielen suchte.»Und wenn du deinem Vetter Colin begegnen solltest«, sagte sie jetzt mit einem künstlich scherzhaften Lächeln,»dann solltest du ihm am besten mit einer höflichen Entschuldigung aus dem Weg gehen. «Ich hatte also noch einen Vetter.»Warum denn?«

«Nun, Colin ist — wie soll ich sagen?«Sie lachte ein wenig.»Er hat eine Neigung zur Exzentrik. Wir haben ihn alle von Herzen gern, aber er schlägt gern einmal über die Stränge, wenn du verstehst, was ich meine. Er hat überhaupt keine Manieren, und es wäre mir gar nicht recht, wenn du ihn vor den anderen kennenlernst. Du wirst ihn natürlich kennenlernen, aber erst später, nach Theodore und Martha.«

«Danke«, sagte ich ohne Überzeugung. Da ich die Frau überhaupt nicht kannte, wußte ich nicht, wie ich ihre Worte auslegen sollte. Wollte sie mich vor Colin schützen oder Colin vor mir?» Und Tante Sylvia?«fragte ich.

«Warte es ab, Kind. Du wirst die ganze Familie kennenlernen, wie du dir das sicher wünschst. Und wenn sie hören, daß du hier bist, werden sie sich ebenso sehr wünschen, dich wiederzusehen. Nach zwanzig Jahren sind gewiß alle sehr gespannt zu hören, was aus dir geworden ist, Leyla. Ah, ich sehe, du bist mit dem Tee fertig. Komm, ich bringe dich jetzt in dein Zimmer hinauf. Du wirst müde sein. Dann suche ich Theo. Er wird dich so bald wie möglich kennenlernen wollen.«

Mit raschelnden Unterröcken standen wir auf. Der Feuerschein lag warm auf unseren Gesichtern, während draußen der Wind wilder als zuvor an den Fenstern rüttelte. Ich hatte ein Gefühl, als stünde ich neben mir, als sei dieses elegante Zimmer eine Bühne und ich die Zuschauerin. Ich sah ein warmes, behagliches Zimmer, das mit Geschmack und allen Symbolen des Wohlstandes eingerichtet war. Ich sah zwei Frauen, die einander in stummer Konfrontation gegenüb erstanden: teuer gekleidet die eine, mit der selbstsicheren Gewandtheit der Reichen; schlicht und bescheiden die andere. Und in diesem Augenblick fragte ich mich, was, um alles in der Welt, diese beiden Frauen miteinander zu tun hatten.

«Erzähle mir doch etwas aus London, Leyla. Ist die Stadt immer noch so laut und schmutzig? Ich war 1851 das letztemal dort, zur Weltausstellung. Es war eine atemberaubende Woche. Theo, dein Onkel Henry und ich waren fast Tag und Nacht unterwegs, um alles anzusehen; die Westminster Abbey, den Tower, den Zoo im Regent’s Park. Und die unglaublichen

Gerichte aus aller Herren Länder, die man uns dort vorsetzte.«

Während ich an ihrer Seite durch das Haus ging, schaute ich mich neugierig um. Die Böden waren mit schweren Teppichen bedeckt, die unsere Schritte dämpften, Gobelins schmückten die Wände. Hohe Topfpflanzen neigten sich aus schattigen Winkeln. Öllampen spendeten flackerndes Licht. Wir stiegen die Treppe zu den oberen Zimmern hinauf, und nirgends hing auch nur ein einziges Familienporträt.»Wir haben nur in der Halle und in einigen Zimmern Gasbeleuchtung. In London gibt es wohl überall Gas, sogar auf den Straßen, wie ich gehört habe. Theo wollte es unbedingt haben; er behauptet, es sei weniger gefährlich. Aber deine Großmutter ist absolut dagegen. Teufelswerk, sagt sie immer. Sie hat für die modernen Errungenschaften nichts übrig. Sie lebt lieber in der Vergangenheit.«

Warum gab es hier keine Bilder? Warum hing nirgends auch nur das kleinste Porträt eines oder einer Pemberton?

«Ich habe dir das Zimmer ganz hinten auf dem Flur gegeben. Es ist recht komfortabel. Es hat ein Himmelbett und eine dieser neuen Sitzbadewannen aus Paris. Das war Großmutters einziges Zugeständnis an die heutige Zeit — daß man sich jetzt im Schlafzimmer baden kann und nicht mehr in die Küche muß. Ich finde es sehr angenehm. Du nicht auch?«Ich nickte nur.

«Wir haben jetzt auch Seife. Gott, wie die Zeiten sich ändern. So, da sind wir.«

Anna erzählte immer noch weiter, während wir in das Gästezimmer traten, und ich begann mich zu fragen, ob das endlose Gerede nicht dazu dienen sollte, unangenehme Themen zu vermeiden. Das Zimmer war sehr schön, mit einer alten Kassettendecke und hohen Fenstern. Spiegel gab es gleich mehrere; ein Toilettentisch stand an der Wand links vom Fenster. Das Himmelbett war bereits aufgeschlagen, und im Kamin brannte ein helles Feuer. Der Porzellankrug auf der Kommode war mit Wasser gefüllt, frische Handtücher lagen daneben. Meine Reisetasche stand auf dem Stuhl neben dem Toilettentisch. Bemüht, die aufmerksame Gastgeberin zu sein, aber dennoch unverkennbar in großer Eile, ging Anna wieder zur Tür und sagte:»Ich schicke Theo in die Bibliothek. Geh zu ihm hinunter, wenn du fertig bist. Dann könnt ihr euch gleich kennenlernen. Wenn du etwas brauchst, dann läute einfach. Der Klingelzug ist neben dem Bett. Bis nachher, mein Kind. «Sie schickte sich an, die Tür zu schließen.»Ach und — du denkst doch daran, nicht wahr? Colin, meine ich. Wenn du ihm zufällig begegnen solltest — aber nein, das wird nicht geschehen. «Ihre Hände flatterten unruhig.»Zuerst wirst du Theo kennenlernen. Dafür will ich schon sorgen. «Geräuschlos schloß sie die Tür hinter sich. Das war nicht der Empfang, den ich erwartet hatte, auch wenn man berücksichtigte, daß niemand im Haus von meinem Kommen gewußt hatte. Annas Nervosität konnte ihrem Alter zuzuschreiben sein oder vielleicht meiner starken Ähnlichkeit mit meiner Mutter. Von einem Moment auf den anderen um zwanzig Jahre zurückversetzt zu werden, konnte wohl jeden aus der Fassung bringen.

Das seltsam beklemmende Gefühl abschüttelnd, das meine redselige Tante bei mir ausgelöst hatte, begann ich auszupacken und versuchte, mir das Zimmer so persönlich und wohnlich wie möglich einzurichten. Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich unsere gemeinsame Wohnung aufgegeben, die Möbel verkauft oder verschenkt und nach Pemberton Hurst nur meine Garderobe und einige persönliche Dinge mitgenommen, von denen ich mich nicht hatte trennen wollen. Diese kleinen Dinge verteilte ich jetzt in dem fremden Zimmer.

Die Daguerrotypie meiner Mutter stellte ich neben das kleine Schmuckkästchen aus Muscheln auf den Kaminsims. Auf den Nachttisch legte ich drei Bücher: >Stolz und Vorurteil< von Jane Austen, >Tancred< von Benjamin Disraeli und die Bibel. Auf den Toilettentisch mit dem hohen Spiegel legte ich den Führer durch den Cremorne Park, eine Erinnerung an sehr glückliche Tage, und neben den Wasserkrug stellte ich den kleinen Flakon Rosenwasser, ein Geschenk von Edward Champion, dem Mann, den ich liebte und bald heiraten wollte.

Nachdem ich dem Zimmer auf diese Weise etwas persönliches Flair gegeben, nachdem ich meine Kleider aufgehängt, mich gewaschen und mein Haar gründlich gebürstet hatte, fühlte ich mich gleich viel besser. Ja, die Reise mit der Eisenbahn war anstrengend gewesen, aber bei weitem nicht so strapaziös wie sie mit der Droschke gewesen wäre. Ich war müde und hungrig, vor allem aber war ich glücklich, endlich wieder eine Familie zu haben, in das Haus zurückgekehrt zu sein, wo ich geboren war, einem neuen Leben entgegenzusehen. Hätte ich gewußt, wie sehr ich mich täuschte!

Als ich etwas später die Treppe hinunterstieg, fiel mir die tiefe Stille des Hauses auf. Es war fast sieben Uhr, draußen war es stockfinster und hier drinnen so ruhig wie in einem Museum. Leise raschelnd streifte der Saum meiner Röcke über die dicken Teppiche, die meine Schritte verschluckten. Hätte ich jetzt sprechen müssen, so hätte ich sicher geflüstert.

Und wieder kam mir deutlich zu Bewußtsein, daß nirgends in diesem Haus ein Bild eines Familienmitglieds hing. Ich kam zum Salon, warf einen Blick hinein und sah, daß er leer war. Mit einiger Mühe, vorsichtig Raum um Raum inspizierend, gelangte ich schließlich in die Bibliothek, in der es nach altem

Leder roch. Das Feuer im offenen Kamin spendete willkommene Wärme und Gaslampen drängten die Schatten in die Ecken. Als ich eintrat, sah ich sogleich, daß ich nicht allein war.

In einem Sessel beim Feuer saß lässig, die Beine in den Schaftstiefeln lang ausgestreckt, die Arme über der Brust verschränkt, ein Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren. Als ich mich näherte, sah er auf, schien aber von meinem Erscheinen weder überrascht noch gestört. Ich hatte sogar den Eindruck, daß er mich erwartet hatte. Ich holte einmal tief Atem und ging direkt auf ihn zu.»Hallo, Theo«, sagte ich so gewinnend wie möglich.»Ich bin Leyla. Tante Anna sagte mir, daß ich dich hier treffen würde, und riet mir«- ich lächelte spitzbübisch —»eine Begegnung mit dem exzentrischen Colin unter allen Umständen zu vermeiden. Offenbar befürchtete sie eine Katastrophe. «Er stand auf, groß und gerade, und sagte trocken:»Guten Tag, Leyla. Ich bin allerdings nicht Theodore, sondern Colin.«