Ich blätterte weiter. Es folgten Beschreibungen verschiedener seuchenartiger Krankheiten, die, wenn sie einmal ausbrachen, zahllose Opfer forderten. Ich las aufmerksam und genau, aber ich fand nichts, was mir von Belang erschien.

Als ich das Buch schon schließen wollte, fiel mein Blick auf folgenden Satz:»Es gibt jedoch noch eine andere

Fiberkrankheit, die in ihren Symptomen von der Pest abweicht; sie ist nämlich nicht seuchenartiger Natur.«

Diese letzte Feststellung machte mich hellhörig. Ich zog die Lampe näher heran und las auf der nächsten Seite weiter.

«Als dieses Fieber das erstemal auftrat, zeigte sich, daß es nicht zu heilen ist und unweigerlich zum Tode führt. Seine

Geschichte beweist, daß diese Krankheit, die wir als Gehirnfieber bezeichnen und die auf heimtückische Weise mit dem Auftreten außerordentlich bösartiger Symptome immer wiederkehrt, auf gewisse belastete Familien beschränkt ist. Eine besondere Beobachtung machte ich um die Sommersonnenwende am Sohne Sir Geoffreys von Pember Town, einer Gemeinde südlich von London. Mir wurde berichtet, daß der hochgeschätzte Sir Geoffrey das gleiche Schicksal erlitten hatte, das dem Sohn drohte, der nunmehr von den Symptomen des Fiebers gepeinigt wurde, nämlich Delirium, Wahnsinn, Raserei, Abgestumpftheit, Schläfrigkeit, Schwindelgefühle, Zittern der Gliedmaßen und krampfartige Zuckungen und verschiedene andere Störungen. Alle diese wiesen auf die schwere Verletzung des Gehirns. Nach dem Tod des Vaters und des Sohnes hatte ich Gelegenheit, die Gehirne beider zu untersuchen, da ich von Amts wegen die Genehmigung erhielt, die Natur der Pember Town Krankheit zu erforschen, und ich entdeckte eine Giftgeschwulst. Dieses Geschwulst wucherte im Gehirn und zerstörte die Blutgefäße, so daß keinerlei Mittel halfen und die Opfer von der Krankheit nicht befreit werden konnten. In dem Haus auf dem Hügel, wo Sir Geoffrey und sein Sohn der Krankheit erlagen, leben noch andere Mitglieder der heimgesuchten Familie, die das gleiche Schicksal erleiden werden, denn es ist Gottes Wille, daß der Tumor geboren wird und wächst, daß die Behandlungen der Ärzte nichts gegen ihn fruchten und das Gehirnfieber oder >Pember Town Fieber< sich den geläufigen Arzneien nicht beugt.«

Lange saß ich, das aufgeschlagene Buch auf meinem Schoß, reglos da und starrte auf die letzten Worte. Über diesen kurzen Bericht hinaus, der 1674 geschrieben war, erwähnte Thomas Willis nichts über das sogenannte Gehirnfieber. Die nächste Seite begann mit den Worten, >Ein häufiges Symptom bei

Fibererkrankungen ist Diarrhöe. <; das Folgende hatte mit der Krankheit der Familie Pemberton nichts mehr zu tun. Dieses kleine Beispiel war, wie die anderen in diesem Buch, knapp und eindrucksvoll und brauchte keine weiteren Erläuterungen. Thomas Willis, seinerzeit ein berühmter Arzt, war auf dem Gebiet der Fieber- und Gehirnerkrankungen eine Persönlichkeit gewesen und war nach Pemberton Hurst gerufen worden, um die hier ansässige Familie zu behandeln. Die Pemberton Krankheit war keine Seuche; sie traf immer nur diese eine Familie.

Mir traten Tränen in die Augen. Es stimmte also. Seit zweihundert Jahren oder mehr war die Familie mit dieser grauenvollen Krankheit geschlagen, und es gab kein Entrinnen.

Ich weiß nicht, wann ich endlich vom Sofa aufstand und zu Bett ging. Ich weiß nur noch, daß schon das Morgenlicht durch die Ritze zwischen den Vorhängen fiel und die besondere, durchdringende Kälte des frühen Morgens mich frösteln machte. Ich hatte die ganze Nacht gelesen. So hoffnungslos, wie ich mich in meinem Leben noch nie gefühlt hatte, kroch ich unter die Decke und lag lange Zeit wie versteinert. Vor meinen Augen stand das Bild von Thomas Willis, dem Mann, der die Pemberton Krankheit entdeckt und beschrieben hatte, und ich wußte nicht, ob ich ihn dafür verfluchen oder segnen sollte. Immerhin wußte ich nun, dank seiner Darstellung, den Grund für die Angst in dieser Familie. Ich hatte jetzt die Erklärungen, nach denen ich gesucht hatte. Es gab tatsächlich den Wahnsinn der Pembertons, und er nistete in einem Gehirntumor, dessen Keim jeder Nachfahre Sir Geoffreys von Pember Town bereits in sich trug.

Auch mein Vater war also ein Opfer dieser Krankheit gewesen. Und im Delirium hatte er zuerst seinem eigenen Sohn und dann sich selbst das Leben genommen. Der Tumor hatte meinen Großonkel Michael und meinen Großvater umgebracht und hätte auch Colins Vater getötet, wäre dieser nicht vorzeitig durch einen Unfall ums Leben gekommen. Und jetzt hatte die schreckliche Krankheit ihre Hand nach Henry ausgestreckt.

Ich hatte Beweise gewollt, und nun hatte ich sie. Wissenschaftliche Beobachtungen, die von einem glaubwürdigen Mann niedergeschrieben worden waren.

Begann auch in meinem Kopf der Tumor schon zu wachsen, oder lag der Keim des Todes noch im Schlaf? Würde er schon bald wuchern wie ein übles Gewächs der Verderbnis, oder würden mir vielleicht noch viele Jahre bleiben, ehe das Schicksal zuschlug?

Und Martha, und Theo. Wieviel Zeit hatten sie noch? Würden sie, wie Sir Johns Bruder Michael, der Krankheit schon in ihren Dreißigern erliegen, oder würde sie es erst später treffen?

Und Colin? Ich begann zu schluchzen. Lieber Gott, auch Colin war verloren; auch in seinem Gehirn keimte der heimtückische Tumor, der ihn eines Tages in den Wahnsinn und in den Tod treiben würde. Colin.

Kapitel 11

Gertrude weckte mich aus tiefem, traumlosem Schlaf. In schwarze Abgründe versunken, hörte ich ihr Klopfen nicht, sondern kam erst langsam zu Bewußtsein, als sie mich sachte schüttelte.

«Miss Leyla«, murmelte sie leise.»Die Familie macht sich Sorgen. Sie sind nicht zum Frühstück gekommen. Möchten Sie zum Mittagessen nicht aufstehen?«

Ich blinzelte verwirrt.»Zum Mittagessen? Wie spät ist es denn?«

«Halb eins, Miss Leyla. Sind Sie krank?«

Ich setzte mich auf. Meine Bettdecke war so glatt, als hätte ich mich im Schlaf überhaupt nicht gerührt.»Nein, nein. Ich bin nicht krank. «Meine Glieder schmerzten, und mein Nacken war steif. Eigentlich hätte ich hungrig sein müssen, aber ich empfand nur Leere, als wäre in mir für immer etwas erloschen.»Ich komme gleich hinunter, Gertrude. Danke.«

Sie zögerte, sichtlich besorgt.

«Wirklich, es geht mir gut. Sagen Sie der Familie, daß ich gleich hinunterkommen werde.«

«Ja, Miss.«

Sie wandte sich zum Gehen, und mein Blick fiel, als ich ihr nachsah, auf das Buch, das neben dem Sofa auf dem Teppich lag.»Gertrude!«

«Ja, Miss Leyla?«

«Wie geht es meinem Onkel?«

Sie drückte beide Hände auf ihren üppigen Busen.»Er ist sehr krank, Kindchen. Sehr, sehr krank.«

«Ach Gott. Danke, Gertrude, daß Sie mich geweckt haben. «Ich wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, ehe ich aus dem Bett glitt und durch das kalte Zimmer zum Waschtisch lief. Während ich mir das Gesicht mit eiskaltem Wasser wusch und dann trocknete, fiel mein Blick auf das zierliche Fläschchen mit Rosenwasser, das Edward mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Mit Schrecken dachte ich daran, was ich ihm beinahe angetan hätte. Aber er würde verstehen, verstehen müssen, daß ich jetzt nicht mehr seine Frau werden konnte. >. die wir als Gehirnfieber bezeichnen. auf gewisse belastete Familien beschränkt. führt unweigerlich zum Tode.<

Ich öffnete den Flakon und roch daran, um mich mit dem süßen Duft zu füllen. Ich war eine Pemberton, ich war ein Mitglied dieser verfluchten Familie, und darum mußte ich dafür sorgen, daß sie sich nicht fortpflanzte. Ich wollte keinen Sohn gebären, den das gleiche Schicksal erwartete, das mein Vater erlitten hatte; keine Tochter, die leiden würde wie ich jetzt litt. Ich mußte es Edward sagen, ich mußte ihm erklären, daß ich an einer erblichen Krankheit litt und daß es grausam wäre, sie an unschuldige Kinder weiterzugeben. >. die Krankheit ist nicht zu heilen.. <

Ich wußte schon jetzt, wie er die Nachricht aufnehmen würde mit ernster Teilnahme, aber ohne wahrhaftiges Mitgefühl. Edward war stolz auf seine vornehme Erziehung, die ihn Mäßigung in allem gelehrt hatte, und ich wußte, er würde mich mit unbewegtem Gesicht betrachten und so zustimmend nicken, als genehmige er einen neuen Grundriß. Um dieser Eigenschaften willen hatte ich Edward einmal geliebt. Ich hatte seine Objektivität, seine kühle Selbstsicherheit und seine Leidenschaftslosigkeit bewundert. Ich hatte ihn so unglaublich kultiviert gefunden, so höflich und wohlerzogen. Aber jetzt, während ich an dem Rosenwasser roch und mich erinnerte, wie kühl und sachlich sein Heiratsantrag gewesen war, begann ich Edward so zu sehen, wie er wirklich war — steif, langweilig und blasiert.

Ich stellte das Fläschchen nieder und beendete meine Morgentoilette. Dann bürstete ich mein Haar kräftig durch, scheitelte es in der Mitte und flocht es im Nacken zu einem dicken Zopf. Jetzt begann ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Mit der, die ich gestern noch gewesen war, hatte ich nichts mehr gemeinsam. Jetzt wußte ich, daß ich hierher gehörte, in dieses Haus, zu diesen Menschen; daß ich kein Recht hatte, ein sogenanntes gewöhnliches Leben zu führen. Jetzt wußte ich, was es hieß, eine Pemberton zu sein.

>. In dem Haus auf dem Hügel, wo Sir Geoffrey und sein Sohn der Krankheit erlagen, leben noch andere Mitglieder der heimgesuchten Familie, die das gleiche Schicksal erleiden werden.. Ich legte mir einen Schal um, ehe ich aus dem Zimmer ging, und warf einen letzten Blick in den Spiegel. >. Denn es ist Gottes Wille, daß der Tumor geboren wird und wächst, daß die Behandlungen der Ärzte nichts gegen ihn fruchten und das Gehirnfieber >oder Pember Town Fieber< sich den geläufigen Arzneien nicht beugt.<

Alle außer Henry waren im Speisezimmer, als ich hinunterkam. Ich spürte sofort die niedergedrückte Stimmung; sie paßte gut zu meiner eigenen. Seit ich die Wahrheit über unsere Familie erfahren hatte, war mir, als wäre jeder Funke von Lebendigkeit in mir erloschen, als wäre von mir nur noch eine leere Hülle ohne Kraft und ohne Gefühl übrig. Ich war nicht traurig und nicht verzweifelt; ich war wie taub. Nur Colin sah auf, als ich mich an den Tisch setzte. Er beobachtete mich aufmerksam, aber sein verschlossenes Gesicht verriet nichts von dem, was in ihm vorging. Ich mied seinen Blick, senkte meinen Kopf und tat so, als sei ich sehr hungrig.