Martha wischte sich mit der Hand die Augen.»Du hast den Ring wahrscheinlich wirklich nicht genommen«, sagte sie schniefend,»aber davon mußt du Großmutter erst einmal überzeugen.«
Ich wurde wieder ärgerlich.»Mein Wort sollte eigentlich genügen. Bitte, entschuldige mich jetzt, Martha.«
Zornig und traurig zugleich zog ich mich in mein Zimmer zurück. Die Anschuldigung vor allen anderen, ohne daß mir außer Theo jemand zu Hilfe gekommen wäre, war demütigend und empörend gewesen. Nun aber fragte ich mich, was es mit diesem Ring eigentlich auf sich hatte. War es Zufall gewesen, daß er verschwunden war, unmittelbar nachdem ich mich draußen im Wäldchen, wenn auch nur flüchtig, seiner erinnert hatte? Spielte er vielleicht an jenem Tag eine viel wichtigere Rolle, als mir bewußt war? Aber, warum hatte man den Ring gestohlen? Ich spürte, daß zwischen Theos Ring und den Geschehnissen im Wäldchen vor zwanzig Jahren ein direkter Zusammenhang bestand, und daß sein plötzliches Verschwinden kein Zufall sein konnte. Wenn jemand fürchtete, ich würde den Ring mit der Ermordung meines Vaters in Verbindung bringen, dann hatte man den Ring vielleicht verschwinden lassen, damit durch seinen Anblick nicht klarere Erinnerungen bei mir ausgelöst werden würden.
Das war eine Erklärung, gewiß, aber sie war unzulänglich. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß mehr hinter dem Diebstahl steckte. Das Dickicht schien immer undurchdringlicher zu werden. Nach dem, was im Zimmer meiner Großmutter geschehen war, wollte ich das Abendessen nicht mit der Familie einnehmen und ließ es mir statt dessen auf mein Zimmer bringen. Dann machte ich es mir auf dem Sofa am Kamin gemütlich, nahm mir den Führer durch den Cremorne Park vor und flüchtete mich für eine Weile in Erinnerungen an glückliche Tage mit Edward. Nochmals zu versuchen, ihm zu schreiben, hatte keinen Sinn. Ich hielt es im übrigen auch nicht mehr für nötig. Ich war überzeugt, daß es mir auch allein gelingen würde, das Geheimnis dieses Hauses zu lüften.
Es war schon spät, als ich zu Bett ging, und erst, als ich meine Kerze löschen wollte, bemerkte ich das Buch. Es lag neben den beiden anderen Büchern, die ich aus London mitgebracht hatte, auf dem Nachttisch. Nachdem ich es einen Moment lang verwundert angesehen hatte, nahm ich es und zog die Kerze näher heran. Mit einer Mischung aus Überraschung und Argwohn drehte ich das Buch in den Händen. Es war ein altes Buch, sehr schön, in schwarzes Leder gebunden. Der Titel, der in verblaßter Goldschrift auf dem Rücken stand, lautete: >Die gesammelten Werke Thomas Willisc.
Ich runzelte verwirrt die Stirn. Ich fragte mich, aus welchem Grund man mir das Buch auf den Nachttisch gelegt hatte. Meine Kerze flackerte im Luftzug, der durch die Fensterritzen drang. Die Uhr über dem Kamin, in dem kein Feuer mehr brannte, tickte ruhig und gleichgültig. Dann schlug ich das Buch auf. Mr. Willis persönlich sah mich mit ernstem Blick an, ein charaktervolles, kluges Gesicht in ovalem Rahmen mit der Inschrift >Thomas Willis, Medic Professor Collegii Med, London et Societ Reg Sociusc. Die klaren Augen über den ausgeprägten Wangenknochen und der hervorspringenden Nase waren von buschigen Brauen überschattet. Der schmallippige Mund unter dem kleinen Bärtchen zeigte ein feines Lächeln. Der Mann war in einer Weise gekleidet, die an die Zeit Cromwells erinnerte und die von seinem Rang und seinem Ansehen Zeugnis ablegte. Unter dem ovalen Porträt standen die Worte,»Thomas Willis (1621–1675) im Alter von 45 Jahren, Kupferstich von Isabella Piccini. Frontispiz entnommen aus Opera omnia 1694«. Dem Titelblatt entnahm ich, daß diese Sammlung von Willis’ Werken von Sir Anthony Cadwallader, Professor in Oxford, zusammengestellt und 1822 von Mortimer and Sons in London veröffentlicht worden war. Noch immer höchst verwundert und ohne die geringste Vermutung, wer mir dieses Geschenk gemacht hatte, und warum, blätterte ich weiter zum Inhaltsverzeichnis. Und da begriff ich endlich.
Hier waren alle in diesem Band enthaltenen Werke aufgeführt, jedes mit einer kurzen Beschreibung versehen:
>Pharmaceutice rationalis oder eine Untersuchung der Wirksamkeit von Medizinen im menschlichen Körper< — >De febribus oder Fibererkrankungen und — epidemien< — >Anatomie des Gehirns samt seiner genauen Darstellung des Nervensystems und des Nervenkreises an der Gehirnbasis (Circulus genannt Willisi)< und zum Schluß >Medizinische Praxis<, ein Werk, in dem er >heimtückische und seuchenartige Fibererkrankungen< beschrieb.
Es war nicht schwer zu erkennen, daß mir das Buch zur Aufklärung über die erbliche Krankheit der Familie Pemberton dienen sollte. Weshalb sonst hätte man es mir ins Zimmer legen sollen? Doch war ich weder sonderlich an der Medizin interessiert, noch sammelte ich alte oder seltene Bücher. Wer immer sich heimlich in dieses Zimmer geschlichen und mir dieses Buch auf den Nachttisch gelegt hatte, mußte damit gerechnet haben, daß ich mir das Inhaltsverzeichnis ansehen und dabei auf eine ganz bestimmte Passage in diesem Buch stoßen würde. Und was konnte diese Passage anderes enthalten, als irgendwelche Belehrungen über eine Krankheit, die dem angeblichen Leiden der Pembertons glich? Ich betrachtete das Buch mit Bitterkeit. Was sollte das? Einer meiner Verwandten hatte mir heimlich — vielleicht, weil er meine Reaktion fürchtete, wenn er es mir persönlich gegeben hätte — das Buch ins Zimmer gelegt und hoffte nun, daß ich die richtige Stelle finden würde. Warum aber? Wozu? Um mir zu zeigen, wie bedauernswert diese ganze Familie war, und um mich dadurch versöhnlich zu stimmen? Um mir zu beweisen, daß die Krankheit der Pembertons keine Erfindung war, und um mich dadurch zu veranlassen, meinen Zorn auf die Familie zu bereuen?
Was auch der Grund sein mochte, ich war nicht bereit, mich rühren zu lassen. Dieses Buch war eine List, und das verärgerte mich nur noch mehr. Ganz gleich, was dieser Thomas Willis zu berichten hatte, auf meine Anteilnahme konnten die Pembertons nicht zählen. Sie hatten mich verletzt, waren grausam und egoistisch. Mochte dieser wahrscheinlich einst berühmte Arzt über eine Krankheit geschrieben haben, die der der Pembertons ähnlich war, mich interessierte das nicht. Daß man mir dieses Buch zur Kenntnis bringen wollte, war nichts als Taktik. Ich würde mich davon nicht einfangen lassen.
Zornig warf ich das Buch zu Boden, löschte die Kerze und zog mir die Bettdecke zurecht. Aber so müde ich auch war, ich konnte nicht einschlafen. Statt dessen mußte ich unablässig an das Buch denken. Was konnte dieser vergessene alte Wissenschaftler, nach dem man ein Netz von Arterien benannt hatte, schon geschrieben haben, das für mich von Bedeutung war?
Ungeduldig warf ich mich auf die andere Seite und versuchte, die richtige Lage zum Einschlafen zu finden. Während ich mit fest geschlossenen Augen dalag und draußen der Wind in den Bäumen seufzte, ging mir unaufhörlich Cadwalladers Buch durch den Kopf, wobei mich angesichts des angeblichen Leidens meiner Familie besonders beschäftigte, welche
Erkenntnisse wohl jenen Kapiteln über die >Anatomie des Gehirns< und die >heimtückischen und seuchenartigen Fibererkrankungen< zu entnehmen waren.
Ich öffnete die Augen. Ich würde ja doch nicht einschlafen können, das wußte ich jetzt, ehe ich jene Passage in Willis’ Werk entdeckt hatte, die sich auf die Pembertons beziehen ließ. Wer immer mir das Buch auf den Nachttisch gelegt hatte
— Anna, Theo, Colin oder Martha —, wußte genau, daß die Neugier mir keine Ruhe lassen und mich dazu treiben würde, so lange in dem Buch zu suchen, bis ich die entscheidende Stelle gefunden hatte.
Ich gab meiner Neugier also doch nach, stieg aus dem Bett, schlüpfte in meinen Schlafrock, zündete ein kleines Feuer im Kamin an und setzte mich im Schein einer Öllampe mit Thomas Willis’ >Gesammelten Werken< aufs Sofa.
Die Biographie des Mannes war interessant. 1621 wurde er in Great Bredwyn in Wiltshire geboren. Er studierte die Medizin in Oxford und ließ sich dort auch als Arzt nieder. Später erhielt er die Doktorwürde; 1660 wurde er Professor und lehrte an der Universität von Oxford Naturphilosophie; er war Mitbegründer der Royal Society. 1667 ließ er sich in London nieder, wo er großes Ansehen genoß, wurde in das Royal College of Physicians aufgenommen und schließlich zum königlichen Leibarzt berufen. Er zeichnete sich als genauer klinischer Beobachter und Verfasser bemerkenswerter Abhandlungen aus. Im Jahre 1675 starb Thomas Willis und wurde in der Westminster Abbey bestattet. Thomas Willis, dachte ich mir, war offenbar ein hochgelehrter Mann gewesen, dessen Befunden man zweifellos vertrauen konnte. Der erste Teil des Buches war der längste und mühsamste, und ich entdeckte darin nichts, was mit der Familie Pemberton in irgendeinem Zusammenhang hätte stehen können. Die folgenden Kapitel waren so wissenschaftlich, daß ich nichts verstand und rasch zum letzten >Medizinische Praxis< überging, jenem Kapitel, in dem unterschiedliche Fieberkrankheiten beschrieben wurden.
Während die Uhr gleichmäßig tickte und der Wind an meinen Fenstern rüttelte, begann ich, mich durch die in veraltetem Stil niedergeschriebene Abhandlung zu arbeiten.
«XIV. Kapitel — von seuchenartigen und heimtückischen Fiberkrankheiten
Da wir nunmehr die Natur der Seuche aufgezeigt haben, sollten wir, der Ordnung unserer Abhandlung gemäß, zu jenen Krankheiten fortschreiten, die ihr dem Wesen nach am nächsten sind, nämlich vor allem solche Fiberkrankheiten, die man als seuchenartig und heimtückisch bezeichnet. Es ist allgemein bekannt, daß Fiberkrankheiten zuweilen weit um sich greifen und an Heftigkeit der Symptome, an Tödlichkeit und Ansteckungskraft der Seuche kaum nachstehen; jedoch, da sie nicht mit solcher Sicherheit wie die Seuche die Erkrankten hinwegraffen und auch nicht in so hohem Maße ansteckend sind, verdienen sie nicht den Namen der Seuche, sondern werden als seuchenartiges Fiber bezeichnet. Daneben gibt es Fiberkrankheiten anderer Art, deren Bösartigkeit und Ansteckungskraft geringer zu sein scheinen.«
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