Das konnte mir aber nur gelingen, wenn ich mich erinnerte. In mir verschüttet lag das Bild jener Szene im Wäldchen, die ich als Kind mitangesehen hatte. Was konnte ich tun, um es zurückzuholen? Damals war Vergessen Schutz gewesen, jetzt aber mußte ich mich erinnern, um mich zu schützen.
Als meine Kopfschmerzen nachgelassen hatten und der erste Schrecken vorüber war, bestärkte ich mich innerlich in meinem Entschluß, der Lösung des Rätsels auf die Spur zu kommen. Ich würde noch einmal ins Wäldchen hinuntergehen, ich würde alles tun, was in meiner Macht stand, um die Erinnerung an die Ereignisse jenes Tages heraufzubeschwören, und dann würde ich ihnen allen beweisen, daß mein Vater ermordet worden war. Damit wäre gleichzeitig erwiesen, daß der sogenannte Fluch nichts als eine Erfindung war, ein Hirngespinst, das jemand erdacht hatte, um die Wahrheit über die Verbrechen zu vertuschen. Das Mittagessen nahm ich in meinem Zimmer ein. Dann schlüpfte ich in mein Bett, um nach der schlechten Nacht ein wenig zu schlafen. Gegen vier Uhr nachmittags weckte mich Klopfen an meiner Tür. Als ich öffnete, stand Martha vor mir, offensichtlich aufgeregt, den unvermeidlichen Pompadour im Arm.»Großmutter möchte dich sehen, Leyla.«
«Jetzt?«
«Sie hat uns alle rufen lassen. Am besten kommst du gleich mit.«
Sie wirkte so erregt, daß ich sie durch eine Weigerung nicht noch mehr in Aufruhr versetzen wollte.»Gut«, sagte ich deshalb, eilte ins Zimmer zurück, um mir einen Schal zu holen.»Sie ist doch nicht krank?«fragte ich.»Großmutter ist niemals krank.«
Damit war unser Gesprächsstoff erschöpft. Schweigend gingen wir durch den Flur zu den Räumen meiner Großmutter. Wie vor den anderen Gesprächen mit ihr, kroch eisige Furcht an mir herauf, und gleichzeitig war ich wütend, daß ich es nicht schaffte, mich ihrer kalten Macht zu entziehen.
Die Tür stand offen, und wir traten ein, ohne anzuklopfen. Die anderen Familienmitglieder warteten schon. Meine Großmutter thronte wie immer in ihrem Lehnstuhl, das Gesicht im Schatten. Anna saß in einem Sessel vor ihr, auf der einen Seite neben sich Theo, auf der anderen Colin. Außer Henry war die ganze Familie anwesend. Keiner beachtete uns, als wir eintraten, alle hielten sie den Blick folgsam auf die mächtige Herrin gerichtet. Die Luft in dem düsteren Gemach knisterte förmlich vor Spannung. Martha trat zu ihrem Bruder, und ich blieb etwas abseits stehen. Dann begann meine Großmutter zu sprechen.
«Ihr wißt alle, warum ich euch gerufen habe. Darum will ich gleich zur Sache kommen. Unter uns befindet sich ein gemeiner Dieb, und ich verlange, daß er ausfindig gemacht wird. Ihr könnt unter euch ausmachen, was zu tun ist.«
Verwirrt blickte ich von einem zum anderen.»Was ist denn passiert?«fragte ich.
«Leyla Pemberton«, antwortete meine Großmutter kalt,»gerade du müßtest wissen, wovon ich spreche.«
«Aber ich weiß es nicht.«»Es geht um Theos Ring«, sagte Martha leise zu mir.»Er ist verschwunden.«
«Theos Ring?«
«Nicht verschwunden, Kind«, warf meine Großmutter ein.»Er wurde gestohlen. Und ich verlange, daß der Dieb oder die Diebin entlarvt wird.«
Da begriff ich. Es handelte sich um den Rubinring, den Theo von seinem Großvater geerbt hatte. Um den Ring, an den ich mich im Wäldchen erinnert hatte. Auf irgendeine Weise hatte er mit den Ereignissen von damals zu tun, aber ich konnte nicht ausmachen, wo die Verbindung lag.»Aber wer würde denn so etwas tun?«fragte ich.
Niemand antwortete mir.
Plötzlich begriff ich:»Was meinst du damit, daß gerade ich wissen müßte, wovon du sprichst? Beschuldigst du mich, den Ring gestohlen zu haben?«
«Das sind deine Worte«, antwortete meine Großmutter.»Aber das ist ja lächerlich!«
Anna mischte sich jetzt ein.»Du hast ihn neulich erst im Salon bewundert. Wir waren alle dabei.«
«Ich habe ihn nicht bewundert. Ich habe mich lediglich seiner erinnert.«
«Woher kennst du ihn?«fragte meine Großmutter.»Ich — ich weiß nicht. Es war nur eine flüchtige Erinnerung.«
«Ja, wer sollte ihn denn sonst genommen haben?«rief Anna heftig.»Tante Anna! Ich bin empört! Wie kannst du es wagen, mich als gemeine Diebin hinzustellen!«
«Leyla hat recht, Großmutter«, sagte Theo.»Das ist wirklich ungerecht. Es sind vorher schon Schmuckstücke verschwunden. Immer wieder. Ich bin der Meinung, wir sollten die Angestellten verhören.«
Während er mich in Schutz nahm, spähte ich durch die Düsternis zu ihm hinüber, und zum erstenmal sah ich ihn von einer menschlichen Seite. Groß und aufrecht stand er da und widersprach den anderen um meinetwillen. Colin hingegen, gelassen die Arme verschränkt, brachte nicht ein Wort zu meiner Verteidigung hervor. Ich war wütend auf ihn. Nach seinen letzten Worten sah Theo mich mit versöhnlichem Lächeln an, und ich dankte ihm ebenfalls mit einem Lächeln.»Gut, wir werden die Domestiken verhören«, entschied meine Großmutter.»Und wir werden mit aller Gründlichkeit nach dem Ring suchen. Gemeinen Diebstahl innerhalb der Familie lasse ich nicht zu. «Mit einer hoheitsvollen Handbewegung entließ sie uns. Ich war zornig und empört. Diese Zusammenkunft hatte stattgefunden, um mich zu demütigen; nur weil Großmutter aus irgendeiner Laune heraus beschlossen hatte, daß ich schuldig sein müsse. Doch ich ließ mir von meinen Gefühlen nichts anmerken. Ich war nicht bereit, mich von solchen Gemeinheiten, von Drohungen und Beschuldigungen zurückschrecken zu lassen. Im Gegenteil, sie bestärkten mich nur in meiner Entschlossenheit und meinem Kampfeswillen. Es ging um meine Rechte und um die Ehrenrettung meines Vaters.
Draußen im Flur trat ich zur Seite, um Anna vorbeizulassen. Sie warf mir einen Seitenblick zu, und im Schein des Gaslichts sah ich, wie eingefallen ihr Gesicht war und wie erschöpft sie aussah. Sie hatte vermutlich die ganze Nacht bei Henry gewacht, dem es offenbar sehr schlecht ging. Unter dieser Belastung war es verständlich, daß sie reizbar war und nicht fähig, klar zu denken.
Aber als Colin an mir vorüberging, sah ich ihn scharf an. Er schien es jedoch gar nicht zu bemerken. Mein Verdacht, daß er der besondere Vertraute meiner Großmutter war, verstörte mich; denn wenn er zutraf, war Colin nicht der selbstbewußte, eigenwillige Mann, für den er sich ausgab, sondern ein Feigling, der sich von einer alten Frau gängeln ließ. Theo blieb einen Moment neben mir stehen, als er herauskam, und sah mich lächelnd an. Ich sah Anteilnahme in diesem Lächeln und vielleicht eine Spur Reue darüber, wie man mich behandelt hatte. In diesem Moment, als unsere Blicke sich trafen, hatte ich die Hoffnung, daß wir vielleicht doch Freunde werden könnten.
Martha und ich kehrten gemeinsam zu unseren Zimmern zurück, ich voll innerer Erregung, sie nervös und unablässig mit den Schnüren ihres Pompadours beschäftigt. Es wunderte mich nicht, daß sie stehenblieb, als wir mein Zimmer erreichten. Ich hatte gespürt, daß sie etwas auf dem Herzen hatte.
«Leyla, Großmutter glaubt wirklich, daß du den Ring aus Theos Zimmer gestohlen hast. Ich habe sie nie so zornig erlebt.«
«Sie ist alt und eigensinnig, Martha. Was sollte ich mit dem Ring wollen?«
«Nun ja, du bist doch. «Sie hielt die Lider gesenkt.»Großmutter sagt, du seist völlig mittellos. Sie sagt, daß du nur des Geldes wegen nach Pemberton Hurst gekommen seist. Und als dir niemand freiwillig welches anbot, hättest du dich aufs Stehlen verlegt.«
«Das ist Unsinn, Martha«, entgegnete ich trocken.»Der Mann, den ich heiraten werde, lebt in guten Verhältnissen. Dann brauche ich das Familienvermögen nicht. Ihr könnt eure Baumwollspinnereien und Ländereien und kleinlichen Zänkereien gern behalten. Ich möchte von hier nur eines, und das ist meine Vergangenheit. Wenn ich sie wiedergefunden habe, gehe ich von hier fort und komme nie zurück. «Erst jetzt sah sie zu mir auf. Obwohl sie zweiunddreißig Jahre alt war, war ihr Gesicht zart und jung. Äußerlich ähnelten wir einander, aber vom Naturell her waren wir sehr unterschiedlich. Martha war eine stille, äußerst zurückhaltende Frau.»Ich beneide dich«, sagte sie leise.»Du beneidest mich? Worum denn?«
«Du kannst von hier fortgehen und heiraten und Kinder bekommen.«
«Das kannst du doch auch, Martha.«
Sie schüttelte den Kopf, daß die Korkenzieherlöckchen, die ihr Gesicht umrahmten, tanzten.»Jeder, der von hier weggeht, wird von Großmutter enterbt. Sie hat uns verboten, jemals zu heiraten, und wird uns keinen Penny vermachen, wenn wir ihr zuwiderhandeln sollten. Auf dich wartet Edward, und du sagst, daß er wohlhabend ist. Ich wüßte nicht, wohin ich mich wenden sollte, wenn ich hier fortginge. Ich bin gefangen hier. Wir alle sind hier gefangen.«
Ihr Ton war ganz sachlich, aber in ihren Augen war eine verzweifelte Sehnsucht.
«Im Grunde macht es mir nichts aus«, fügte sie hinzu.»Aber manchmal frage ich mich, wie es ist, wenn man — mit einem Mann zusammen ist. «Sie wurde rot.»Entschuldige. Ich weiß, so etwas sagt man nicht.«
«Ach, Unsinn. Jede Frau wünscht sich die große Liebe. Jede Frau möchte den richtigen Mann heiraten und mit ihm zusammen Kinder haben. Du bist nicht anders als alle Frauen.«
«Doch, ich bin anders. Ich muß es sein, weil ich eine Pemberton bin. Es wäre eine Sünde, wenn ich mich entschlösse, Kinder zur Welt zu bringen, denen eines Tages das gleiche Schicksal droht, was mich und dich erwartet. Großmutter hat recht; die Familie muß aussterben. «Martha liefen die Tränen über das Gesicht, und ich hätte am liebsten mit ihr geweint.»Und trotzdem — weißt du, manchmal sehe ich in East Wimsley einen hübschen Mann, und dann stelle ich mir vor.«
«Natürlich, Martha. Das kann ich verstehen.«
«Ich weiß ja nicht einmal, wie es ist, wenn man von einem Mann einen Kuß bekommt.«
Ich dachte an Edward und die kühlen Küsse, die er mir auf die Wange zu geben pflegte.
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