«Nein, Colin, ich glaube das einfach nicht.«
«Aber die anderen Pembertons glauben es, und darum haben wir vor langer Zeit beschlossen, diesem Elend ein Ende zu bereiten. Darum haben wir beschlossen, die Familie aussterben zu lassen.«
«Ich verstehe«, sagte ich.»Darum hat also keiner von euch geheiratet?«Er nickte.
«Aber, das ist doch verrückt. Es ist völlig unnatürlich und verstößt gegen den Willen Gottes, nicht zu heiraten und keine Kinder in die Welt zu setzen. Ihr habt kein Recht, euch eine solche Entscheidung anzumaßen.«
«Meinst du? Glaubst du denn, es ist Gottes Wille, daß Kinder geboren werden, die sich eines Tages in Ungeheuer verwandeln wie wir, ihre Eltern? Haben wir das Recht, solche Kinder in die Welt zu setzen? Kannst du, Leyla, ruhigen Herzens ein Kind zur Welt bringen, bei dem du von vornherein weißt, daß es dazu verdammt ist, genauso zu enden, wie dein Vater endete?«
«Den Fluch gibt es nicht!«
«Ich habe nicht erwartet, daß du mir jetzt zustimmen würdest. Aber du wirst deine Meinung noch ändern.«
Ich starrte schweigend ins Feuer, voller Groll plötzlich gegen Colin. Seine Worte hatten mich stark aufgewühlt. Ich wußte nicht, was ich denken sollte.
«Deshalb«, sagte ich schließlich,»war Onkel Henry gegen meine Heirat mit Edward.«
«Ja. Und mit Recht.«
«Nein! Ich heirate, wen und wann ich mag. Colin!«Ich sah ihn mit zorniger Herausforderung an.»Findest du das alles denn richtig?«Er erwiderte meinen Blick und meine Worte mit einem Ausdruck von solcher Traurigkeit, daß ich mich abwenden mußte.»Es muß eine Lösung geben«, erklärte ich grimmig entschlossen.»Und ich werde sie finden. Colin. Colin, du bist genauso kleinmütig wie die anderen, das hätte ich nicht von dir erwartet. Aber ich lasse mir den Mut nicht nehmen. Ich werde kämpfen und beweisen, daß ihr alle unrecht habt. Und ich werde mit Edward zusammen Kinder bekommen, die kräftig und gesund sind und ein ganz normales Leben führen werden.«
Ich hatte geglaubt, er würde mir darauf mit Vorhaltungen antworten und versuchen, mich zu entmutigen, aber er sagte gar nichts, sondern sah mich nur still an.
«Ich werde die Lösung finden«, flüsterte ich etwas weniger kämpferisch.»Gott helfe dir bei der Suche.
Kapitel 10
Ich schlief schlecht in dieser Nacht. Gertrude hatte mir zwar noch einen kleinen Imbiß und eine Tasse Schokolade gebracht, ehe ich zu Bett gegangen war, aber das hatte nichts geholfen. Die Aufregungen des Tages wirkten nach. Als ich schließlich doch eingeschlafen war, hatte Dr. Youngs späte Ankunft mich aus dem ersten Schlummer gerissen, und danach hatte ich Mühe, wieder Ruhe zu finden. Kein Wunder, daß ich mit leichten Kopfschmerzen erwachte, als das erste graue Licht des Tages ins Zimmer fiel.
Es war so kalt, daß ich noch eine Weile unter der Decke liegenblieb. Ich versuchte die Gefühle heraufzubeschwören, die mich am vergangenen Tag im Wäldchen bewegt hatten, aber der Nachmittag war mir so fern, als wären Monate vergangen. Colins Worte waren es, die mich vor allem bewegten, sein ruhiges Hinnehmen eines heimtückischen Schicksals, und vor allem seine und der anderen Entscheidung, keine Kinder mehr in die Welt zu setzen. Es war einfach furchtbar!
Ich stand schließlich doch auf, zog die Vorhänge zurück und blickte in einen grauen, unfreundlichen Tag hinaus. In der Auffahrt standen große dunkle Pfützen, die kahlen Zweige der Eschen und Akazien glitzerten, als wären sie mit Girlanden winziger Diamanten geschmückt. Ein Mädchen kam herauf, um mir beim Ankleiden zu helfen. Sie bürstete mein Samtkleid aus, schnürte mir das Korsett und ordnete die Unterröcke über der Krinoline. Sie half schweigend, ohne mich anzusehen, und ich fragte mich, was die Hausangestellten wohl über diese exzentrische Familie dachten.
Als ich ins Frühstückszimmer hinunterkam, stellte ich mit Überraschung fest, daß ich ganz allein war. Gertrude berichtete mir, daß Anna und Theo bei Henry wachten, dem es zusehends schlechter ging, während Martha es vorgezogen hatte, auf ihrem Zimmer zu bleiben und zu sticken. Colin war schon in aller Frühe ausgeritten.
Nachdem ich meinen Tee getrunken hatte, dem ich gegen die Kopfschmerzen ein wenig Brandy beigegeben hatte, beschloß ich, einen Rundgang durch das Haus zu machen. In London hatte ich immer einen Spaziergang im Hyde Park gemacht, wenn mich Probleme gequält hatten. Ich bildete mir ein, an der frischen Luft klarer denken zu können. Aber da das Wetter an diesem Tag so wenig verlockend war, beschloß ich, meinen Spaziergang ins Haus zu verlegen.
Mein erster Weg führte mich in den Salon. Ich wollte mich ans Klavier setzen und ein bißchen spielen, aber ich war innerlich so ruhelos, daß ich schon nach den ersten Takten wieder aufsprang. Flüchtig inspizierte ich ein paar andere, seltener benutzte Räume im Erdgeschoß; einen weiteren Salon, ein Arbeitszimmer, den Wintergarten, einen Tanzsaal, dessen Lüster von einer dicken Staubschicht blind und grau geworden waren. Meine Schuhe klapperten auf polierten Holzfußböden. Und überall umgab mich die gleiche strenge Stille. Mir war, als spürte ich in allen Räumen den starren Geist meiner Großmutter, die mit harter Hand über diese Familie herrschte und eisern an der Vergangenheit festhielt, als ob sie die Zeit zum Stillstand bringen wollte.
Nach einem ausgedehnten Rundgang durch das Erdgeschoß, wo ich nur ab und zu einem der Angestellten begegnete, die mich jeweils höflich grüßten, kehrte ich in die Bibliothek zurück, die mir in diesem Haus der liebste Raum war. Ich wanderte von Bord zu Bord und las die Titel der vielen Bücher, die sich hier im Lauf der Jahre angesammelt hatten; vielleicht, dachte ich, würde ich auf einen guten Roman stoßen, in den ich mich eine Weile verlieren konnte.
Doch nach einiger Zeit wurde mir kalt und ich ging zum Kamin, um mich aufzuwärmen. Ich richtete den Blick in die Flammen und ließ mich von ihrem Spiel gefangennehmen. Mein Kopf entleerte sich aller Gedanken, und ich trieb in eine angenehme Welt, wo ich an nichts dachte und nichts fühlte. Mein Blick fiel zufällig auf ein Stückchen Papier am Rand des Feuers. Gedankenlos blickte ich darauf, ehe meine Neugier erwachte. Ich beugte mich ein wenig tiefer und sah, daß das Fetzchen von einem Briefbogen stammte, der beschrieben war. Ich bückte mich und hob es auf und las die wenigen noch erkennbaren Worte. Plötzlich traf es mich wie ein Schlag: Was ich da in den Händen hielt, war ein Überrest meines Briefes an Edward.
Eisiger Schrecken packte mich.»Nein!«flüsterte ich.»Lieber Gott, nein!«
Mir zitterten plötzlich die Knie, und ich ließ mich schwer in einen Sessel fallen. Schweiß trat mir auf die Stirn, und die Kopfschmerzen kehrten wieder.
Mein Brief an Edward war abgefangen worden. Jemand hatte ihn gelesen und dann ins Feuer geworfen. Aber wer? Wem hatte das Mädchen, dem ich die Besorgung anvertraut hatte, den Brief gegeben? Ich drückte mir die Hände an die Schläfen. Nur meine Großmutter konnte solche Macht besitzen. Aber, nein. Auch Henry konnte dahinterstecken. Oder Anna. Vielleicht besaß auch Theo genug Einfluß auf die Dienerschaft, um den Leuten befehlen zu können, jegliches Schreiben, das ich abschicken sollte, unverzüglich zu ihm zu bringen. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Dort in den Flammen brannte mein Brief an Edward. Mein Hilferuf hatte ihn nie erreicht. Meine einzige Verbindung zur Außenwelt war einfach abgeschnitten worden. Einer aus meiner Familie hatte den Brief abgefangen, gelesen, was ich geschrieben hatte — o Gott, und was ich alles geschrieben hatte! — und hatte das Schreiben dann vernichtet. Warum?
Die Antwort lag auf der Hand: Der Täter wollte nicht, daß Edward etwas von den Geschehnissen hier erfuhr; wollte nicht, daß er hierher kam; wollte verhindern, daß ich Hilfe erhielt.
Hieß das auch, daß ich in diesem Haus eine Gefangene war? Ich fragte mich, ob die Person, die den Brief vernichtet hatte, auch das Schreiben unter Sylvias Namen abgeschickt hatte. Einer aus meiner Familie — vielleicht auch alle — hatten mich hierher gelockt, um zu erreichen, daß ich dieses Haus niemals wieder verlassen würde, daß ich niemals wieder zu Edward zurückkehren würde.
Natürlich, das war es. Ich stand langsam auf. So war zumindest Henry von Anfang an gegen meine Heirat mit Edward gewesen. Wollten sie etwa, daß ich auch für immer hier blieb, unverheiratet und kinderlos? Aber erklärte das Sylvias Schreiben? Was hätte meiner Familie daran liegen sollen, auch meine Mutter zurückzuholen? Es ergab keinen Sinn. Ich hatte plötzlich rasende Kopfschmerzen; ich wollte nur noch hinauf in mein Zimmer, mich hinlegen und versuchen, endlich Klarheit zu bekommen.
Regen schlug gegen mein Fenster, die Luft war feucht und klamm. Das Feuer konnte wenig ausrichten gegen die Kälte, die wie eisiger Atem durch alle Ritzen drang. Ein gemütliches Zimmer war dies heute wahrhaftig nicht, aber wenigstens war ich hier allein und ungestört. Und ich mußte jetzt allein sein. Ich mußte nachdenken, die vergangenen vier Tage in allen Einzelheiten an mir vorüberziehen lassen, um festzustellen, wann der Alptraum begonnen hatte. Aber ich erkannte bald, daß er schon in dem Moment begonnen hatte, als ich draußen an die Tür geklopft und Gertrude mich empfangen hatte. Ich fühlte mich wie in einem Netz gefangen, unfähig, irgend etwas zu verstehen. Nicht den kühlen Empfang und die Heimlichtuerei; nicht die Geschichten über das Ende meines Vaters und die unvermeidbare Krankheit, der angeblich keiner von uns entrinnen konnte; nicht Großmutters abweisende Reaktion auf meine Rückkehr und die Furcht aller davor, daß ich mich an die ausgelöschten fünf Jahre erinnern könnte; nicht Sylvias Brief und die Vernichtung meines Briefes an Edward. Ich hatte nur den verzweifelten Wunsch, mich aus diesem Netz zu befreien.
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