Aus dem Zimmer kam ein Schrei Henrys, dessen Stimme von Qual verzerrt war.

«Er hat noch kein Fieber«, fuhr Anna hastig fort.»Aber es wird noch kommen, Jenny, du wirst sehen. Seine Zeit ist da. O Gott, mein armer, armer Henry. «Anna schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Sie war völlig aufgelöst und drohte unter der Belastung des anscheinend Unvermeidlichen zusammenzubrechen. Nicht in der Lage, ihr mehr zu geben als eine tröstliche Umarmung, entfernte ich mich von ihr und trat leise in das dämmrige Schlafzimmer, wo mein Onkel stöhnend auf seinem Bett lag. Sein Haar war feucht von Schweiß, das Gesicht aschfahl, die Lippen zeigten überhaupt keine Farbe. Ich näherte mich ihm vorsichtig, unsicher, was ich tun oder sagen konnte, um ihm zu helfen, nur am Rande Gertrude bemerkend, die am Fußende des Bettes stand. Die Augen fest zusammengekniffen vor Schmerz, stöhnte Henry immer wieder laut auf. Als ich das bleiche, eingefallene Gesicht sah, die Hände, die sich vor Schmerz in die Bettdecke krampften, überkam mich tiefes Mitgefühl. Mochte er gegen mich sein, oder nicht, er war der Bruder meines Vaters und ein leidender Mensch.

«Onkel Henry«, flüsterte ich und kniete neben dem Bett nieder.»Onkel Henry.«

Es dauerte einen Moment, ehe er den Kopf zur Seite drehte, um mich anzusehen. Seine Pupillen waren winzig klein.»O Gott«, hauchte er.»Jenny, ich sterbe.«

«Aber nein, Onkel Henry. «Ich legte ihm sachte die Hand auf die Stirn und spürte mit Erschrecken, wie kalt seine Haut war.»Das geht vorüber. Du wirst schon wieder gesund.«

«Nein! Nein!«flüsterte er beinahe heftig.»Erst mein Onkel Michael, dann mein Bruder Robert, dann mein Vater und jetzt ich. Die nächsten werden die Kinder sein, Theo und Colin, Martha und Leyla. Ja, auch die kleine Leyla. Wir sind alle Pembertons. O Gott!«Er drückte wieder die Augen zu, und sein ganzer Körper zuckte in einem heftigen Krampf.»Ich habe das Gefühl, daß mir der Kopf zerspringen will. O Gott, hilf mir doch, hilf mir doch!«

«Bitte, beruhige dich«, sagte ich tröstend.»Es wird doch wieder besser werden, Onkel Henry. Ganz bestimmt.«

Aber eigentlich wollte ich mit diesen Worten mehr mich selbst beruhigen, als ihn. Ich fühlte mich in einen Strudel der Aussichtslosigkeit hineingerissen, gegen den ich mich gewappnet geglaubt hatte. Außerdem glaubte ich nicht, daß er irgend etwas von dem, was ich sagte, hörte. Er schwebte in einer Zwischenwelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wo ihn meine Stimme nicht erreichen konnte. Als er die Augen wieder öffnete, sah ich darin einen irren Glanz und die nackte Angst.»Lieber Gott, bitte, laß mich nicht die Verbrechen begehen, zu denen mein Bruder getrieben wurde. Bitte, erspare mir diese Grausamkeit. Laß mich dieser Familie nicht zu einer weiteren Quelle des Schmerzes und des Kummers werden.«

Entsetzt sah ich Henry an. Während er seine zitternden Finger um die Bettdecke klammerte und mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit über sich starrte, verband nur noch ein dünner Faden klaren Denkens ihn mit der Wirklichkeit, ein Fünkchen Einsicht, das ihn angstvoll erkennen ließ, was geschehen könnte, wenn das Delirium eintrat.»Nein, Onkel Henry«, rief ich.»Das wird nicht geschehen. Mein Vater hat das nicht getan. Er war das Opfer, nicht der Mörder.«

«Du weißt es nicht, Jenny. Du warst nicht dabei.«

«Aber Leyla war dabei. Ich war dabei!«Ich schlug mir mit der Faust an die Stirn.»Ach, wenn ich mich doch nur erinnern könnte! Onkel Henry, wenn ich mich erinnern könnte, was ich damals im Wäldchen sah, könnte ich dich beruhigen: Mein Vater war kein Mörder, und du wirst auch keiner werden. Siehst du das denn nicht? Du hast dir eingeredet, daß — «

«Mein Gott!«schrie er laut und riß sich mit beiden Händen an den Haaren.»Diese Schmerzen! Es ist, als stocherte mir jemand mit einem heißen Schürhaken im Kopf herum. «Er warf sich so wild hin und her, daß ich Angst bekam.

Im nächsten Augenblick war Anna an seiner Seite und legte ihm beruhigend den Arm um den Leib.»Beruhige dich, Liebster«, flüsterte sie unter Tränen.»Beruhige dich. Es wird ja wieder gut. Dr. Young ist schon unterwegs.«

Als mein Onkel etwas ruhiger geworden war, wandte sich Anna mir zu und sagte mit einer Heftigkeit, die mich erschreckte:»Du! Du hast ihn aufgeregt! Verschwinde und komm ja nicht wieder hier herein, solange er krank ist.«

«Aber ich möchte helfen — «

«Du hast genug angerichtet. Verschwinde!«

Ich wich vor meiner aufgebrachten Tante zurück und lief zur Tür hinaus. Ich kam mir vor wie in einer Geisterwelt, nichts als zuckende Schatten und gespenstische Finsternis um mich herum. Der Anblick Henrys, in dem ich eine Vaterfigur gesehen hatte und der jetzt nur noch ein stöhnendes Bündel von Schmerz und Wahn war, hatte mich aus der Fassung gebracht. Keines klaren Gedankens fähig, lief ich durch den Flur zu meinem Zimmer.

Von allen Seiten schien Tod mich zu umgeben. Der Geist meines Vaters und meines Bruders waren an meiner Seite; mein Großvater, der sich umgebracht hatte; mein Onkel Richard und meine Tante Jane, die durch einen Unfall ums

Leben gekommen waren; mein Großonkel Michael, der selbst Hand an sich gelegt hatte; und meine Mutter, die mich nach länger Krankheit verlassen und ein Stück von mir mitgenommen hatte.

Auf meiner blinden Flucht durch den Flur prallte ich unversehens mit Colin zusammen und hätte uns beinahe beide zu Boden gerissen. Doch er umfing mich rasch mit seinen Armen und hielt mich fest, bis wir das Gleichgewicht wiedergefunden hatten. Dann erst ließ er mich los.»Wohin denn so eilig, Leyla? Wovor läufst du denn weg?«fragte er ruhig.

Ich blickte über meine Schulter zurück, sah wieder das schmerzverzerrte Gesicht Henrys, die blassen Lippen, die weit aufgerissenen Augen.»Ich war bei Onkel Henry. Mein Gott, ihm ist so elend, Colin. Warum können wir denn nichts für ihn tun? Mit Laudanum — «

«Er bekommt schon die höchste Dosis, Leyla. Dr. Young wagt nicht, ihm mehr zu geben, sonst — «Colin breitete die Hände aus. Ja, ich kannte Laudanum, eine Mischung aus Morphium und Alkohol. Es linderte Schmerzen auf wunderbare Weise, aber es barg auch große Gefahren.

«Wir können nichts mehr tun.«

«Aber er leidet doch so. «Colin schwieg, doch sein Gesicht sagte alles.

«Ich glaube es nicht«, erklärte ich heftig und erbittert.»Es kann nicht wahr sein. Diese geheimnisvolle Krankheit der Pembertons gibt es nicht.«

«Und du glaubst nicht daran, daß wir ihr alle hilflos ausgeliefert sind?«

«Nein! Es ist ein unglückliches Zusammentreffen, oder vielleicht eine ortsgebundene Krankheit, aber es gibt eine sicherlich normale Erklärung dafür, und ich verstehe nicht, daß du das nicht siehst. Colin, wie kannst du nur so blind sein!«

Ich schrie ihn an und machte damit meinem ganzen Schrecken über Henrys Leiden und Annas Verzweiflung Luft. Und zugleich entlud sich die Spannung, die sich im Lauf dieses Tages in mir angestaut hatte — mit dem Fund des Tagebuchs in Tante Sylvias Zimmer, mit dem Besuch im Wäldchen, dem Gespräch mit meiner Großmutter, dem Anblick von Henrys Qual.

Ich zwang mich nach meinen heftigen Worten zur Ruhe, umgab mich mit einer Fassade künstlicher Gelassenheit, während ich innerlich weiter raste. Colins grüne Augen sahen mich hart an und verbargen, was er wirklich dachte. Schweigend stand er vor mir, als warte er auf etwas.»Ich war vorhin bei Großmutter«, sagte ich so ruhig ich konnte.»Ja, und sie wußte, daß ich heute nachmittag im Wäldchen war.«

«Du hast aus deiner Absicht kein Geheimnis gemacht, Leyla.«

«Sie wußte auch, daß es vergeblich war; daß ich mich an nichts erinnert habe. In der kurzen Zeit zwischen meiner Rückkehr aus dem Wäldchen und meinem Besuch bei ihr hatte sie alles erfahren.«

«Tatsächlich?«Sein Gesicht verriet nichts.

«Ach, Colin, es sollte mich wahrscheinlich nicht wundern, und ich habe wahrscheinlich auch kein Recht, darüber zornig zu sein, aber mußt du denn zu Großmutter laufen und ihr alles erzählen? Mußt du für sie der Beobachter sein?«

Sonderbarerweise ließen ihn meine Worte völlig ungerührt. Sein verschlossenes Gesicht sagte nichts. Mich brachte das nur noch mehr in Zorn und Verwirrung.

«Was ist denn nur los mit dir? Mit euch allen!«Ich stampfte mit dem Fuß.»Die flüchtigen Bilder, die mir manchmal doch kommen, zeigen mir Gelächter und Fröhlichkeit in diesem Haus. «Mir sprangen die Tränen der Ohnmacht in die Augen.»Was ist mit euch allen geschehen? Warum habt ihr dieses

Haus in ein Mausoleum verwandelt?«Mit unerwartetem Mitgefühl nahm Colin meine Hand und sagte:»Komm mit, Leyla. Ich möchte dir etwas erzählen. «Ich ging mit ihm durch den Flur zur Treppe und hinunter in die Bibliothek. Hier unten war es still, und in der wohligen Wärme des lodernden Feuers entspannte ich mich allmählich. Oben, umgeben von Düsternis und Tod, hatte ich mich wie ein in der Falle gefangenes Tier gefühlt. Hier unten wurde ich ruhig.

Colin blieb vor mir stehen, während ich mich in einen Sessel am Kamin setzte.»Leyla, die Menschen in diesem Haus sind seit Jahrzehnten unglücklich und werden es wohl immer sein, auch im nächsten Jahrhundert, wenn es unsere Familie dann noch gibt. Du hast mich einmal gefragt, Leyla, warum Theo, Martha und ich nicht verheiratet sind. Du sagtest, daß Martha mit ihren zweiunddreißig Jahren hier die jüngste ist. Dir ist natürlich auch aufgefallen, auch wenn du niemals etwas darüber gesagt hast, daß es hier im Haus keine Kinder gibt. Seit Thomas’ Tod und seit deine Mutter mit dir fortgegangen ist, gibt es auf Pemberton Hurst keine Kinder mehr.«

«Wegen des Fluchs«, sagte ich mit Bitterkeit.

«Richtig. Wir können nicht zulassen, daß dieses Erbe immer weitergegeben wird. Es muß damit ein Ende haben. Wenn unsere Vorfahren schon vor langer Zeit diese Einsicht gehabt hätten, dann säßen wir heute nicht hier; dann wären wir heute nicht mit dem gleichen Schicksal konfrontiert, dem Onkel Henry preisgegeben ist. Nein, warte, Leyla«, sagte er rasch, als ich etwas einwerfen wollte.»Laß mich aussprechen. Ich weiß, daß du nicht an diese Erbanlage glaubst, aber das wird sich ändern. Ich habe gesehen, was mit deinem Vater geschah, wie es unserem Großvater erging, und ich sehe, was jetzt mit Onkel Henry geschieht. Theo und Martha, du und ich, wir werden alle zu gegebener Zeit den gleichen Weg gehen. Der Bruder unseres Großvaters war noch ein junger Mann, als er der Krankheit erlag. In den Dreißigern erst.«