«Ich friere, Großmutter.«

«Komm näher, Kind, meine Augen sind nicht so gut wie deine.«

«Ich möchte lieber am Feuer bleiben, Großmutter, wenn es dir recht ist. Es ist wirklich schrecklich kalt hier drinnen.«

Sie zögerte kaum merklich, ehe sie sagte:»Dann hättest du bei diesem Wetter nicht ausgehen sollen. Wir hatten Sonnenschein, aber seit du hier bist, toben diese höllischen Winde. Der Satan ist dir auf den Fersen, Kind. Nimm dich in acht.«

«Ein Spaziergang an frischer Luft ist gesund, Großmutter.«

«Auch wenn er ins Wäldchen führt?«

Sie wußte es also. Sollte mich das überraschen? Angesichts der Tatsache, daß Theo nichts gewußt hatte, ja. Und wer hatte es ihr erzählt? Wer, außer Colin, wußte, daß ich im Wäldchen gewesen war? Obwohl wir natürlich auch von jemandem beobachtet worden sein konnten.

«Und du erinnerst dich an nichts«, fuhr sie fort, und es klang beinahe schadenfroh.

War es etwa doch Colin, der ihr Bericht erstattete?» Du irrst dich, Großmutter. Ich habe mich sehr wohl an etwas erinnert.«

Mit meiner Großmutter geschah eine Veränderung. Es war nichts Sichtbares; sie machte keine Bewegung, sagte nichts, und doch veränderte sich die ganze Stimmung im Raum. Er war plötzlich mit Feindseligkeit geladen. Die Schatten wurden dunkler, das Heulen des Windes hinter den Fenstern schien lauter zu werden.

«Woran kannst du dich schon erinnert haben? Gewiß nichts von Belang.«

«Das weiß ich nicht, Großmutter. Es wird sich zeigen. Es war nur ein flüchtiges Bild, aber es zeigte sich im Wäldchen, und ich glaube fest, daß das nur der Anfang war.«

Während ich sprach, wandte ich meinen Blick unwillkürlich zu ihren Händen. Hart und knochig waren sie, von Altersflecken übersät. Ich stellte mir vor, wie sie vor zwanzig Jahren gewesen sein mußten — kräftig, sehnig, wahrscheinlich mit Ringen geschmückt.

«Möchtest du mir nicht sagen, was das für eine Erinnerung war, Leyla?«

Ich hob den Blick. Das war ein neuer Ton, und er überraschte mich. Anstatt zu befehlen, hatte sie gebeten. Es machte mich mißtrauisch.»Ich kann dein Widerstreben verstehen, mein Kind, und ich wünschte, ich könnte dir den Aufenthalt hier angenehmer machen. Wir sollten uns nicht feindlich gegenüb erstehen, wir sind schließlich von einem Fleisch und Blut. Ich bin die Mutter deines Vaters. Wir sollten Freundinnen sein.«

«Das habe ich gestern abend versucht.«

«Du bist ein sehr eigensinniges Kind, Leyla, und das ist nur zum Teil mit deiner Jugend zu entschuldigen. Du denkst einzig an dich und versuchst gar nicht, den Standpunkt anderer zu sehen. Du bist voller Erwartungen und naiver Hoffnungen hierher gekommen und warst tief enttäuscht, als sie nicht erfüllt wurden. Du glaubtest, du würdest hier eine Familie finden, die dich mit offenen Armen aufnehmen würde, statt dessen kamst du in ein Haus voller fremder Menschen, die dein plötzliches Erscheinen aus der Fassung brachte. Und dir war nur eingefallen, dich schmollend zurückzuziehen und alle möglichen Phantastereien über uns zu verbreiten. Du hast uns mit deinen Anschuldigungen tief getroffen und verletzt, Leyla.«

Ich blieb einen Moment reglos am Feuer stehen und ließ ihre Worte auf mich wirken. Ich konnte nicht leugnen, daß sie ein bitteres Körnchen Wahrheit enthielten. Plötzlich lief ich zu ihr und fiel neben ihrem Sessel auf die Knie.

«Und wie habt ihr euch mir gegenüber verhalten? Habt ihr euch denn die Mühe gemacht, meine Seite zu sehen? Könnt ihr euch überhaupt vorstellen, wie es ist, wenn man heimkehrt, sich nach nichts als Liebe sehnt und statt dessen mit Mißtrauen und Abwehr behandelt wird? Ich habe diese Anschuldigungen vorgebracht, weil ihr die gleichen gegen meinen Vater gerichtet habt. Ja, ich kam voller Hoffnung, weil ich glaubte, ein liebevolles Willkommen erwarten zu dürfen. Jahrelang habe ich mit meiner Mutter in Armut gelebt. Jahrelang sehnte ich mich nach einer Familie. Ich bin hier geboren, Großmutter. Ich gehöre hierher. Ich bin nicht aus eigenem Antrieb vor zwanzig Jahren von hier fortgegangen. Ich wurde fortgebracht; von allein wäre ich niemals gegangen. Und es war nicht meine Schuld, daß ich fort blieb. Ich hatte keine Wahl. Und bei der ersten Gelegenheit — nach dem Tod meiner Mutter — kam ich zurück nach Pemberton Hurst zu meiner Familie. Sag mir bitte, inwiefern ich euch Unrecht getan habe!«

Ich war überrascht, als ich die Tränen in den Augen meiner Großmutter sah. Sie sah mich nicht an, sondern starrte unverwandt geradeaus. Meine Worte hatten sie offenbar tief bewegt.

«Es war ein Werk des Teufels, daß du von uns fort mußtest, Leyla«, sagte sie.»Dein Vater — mein Lieblingssohn — war von Dämonen besessen und hatte Grauenvolles getan. Unsere Familie ist verdammt. Keinem Pemberton wird erspart bleiben, was er durchlitten hat.«

«Aber das stimmt doch nicht, Großmutter. Mein Vater war unschuldig. Der Teufel hatte nichts damit zu tun. Den Fluch der Pembertons gibt es nicht und auch nicht den Wahnsinn, dem wir angeblich alle verfallen werden. Ich weiß nicht, warum ihr alle das glaubt; ich fühle, daß es Lüge ist. Und ich möchte es beweisen. Wenn ich mich erinnern könnte, was ich damals sah — «

«Nein, Leyla!«Die Kraft ihrer Stimme erstaunte mich.»Laß es ruhen. Du hättest niemals zurückkehren sollen. Es ist nicht gut. Laß die Toten ruhen, kehre nach London zurück. «Plötzlich faßte sie mich mit einer ihrer knochigen Hände und hielt mich sehr fest.»Leyla, mein Kind. Verlasse dieses Haus. Sofort. Du bringst dich in die höchste Gefahr. Geh fort von hier und komme niemals zurück. Ich flehe dich an. «Mir liefen die Tränen über die Wangen, während ich sah, wie sie mich mit bebenden Lippen bat, fortzugehen. Ich stellte mir ihren Schmerz vor, als sie erfahren hatte, daß ihr Sohn und Enkel auf so grauenhafte Weise den Tod gefunden hatten. Welch schreckliche Erinnerungen mußte der Anblick des Wäldchens täglich in ihr wecken! Und ich hatte durch mein Erscheinen alles wieder lebendig gemacht.

«Bitte, verzeih’ mir«, sagte ich leise.»Aber ich habe keine Wahl. Ich schulde es meinem Vater — «

«Dein Vater ist tot.«

«Dann schulde ich es seinem Andenken und meiner Mutter, die zwanzig Jahre für das gelitten hat, was er, wie sie glaubte, getan hatte. Jetzt muß ich beweisen, daß das nicht stimmt. Nur dann kann ich mein eigenes Leben aufnehmen. Ich kann jetzt nicht dieses Haus verlassen und Edward heiraten. Ich müßte dauernd daran denken, daß ich meinen Vater und meine Mutter im Stich gelassen habe. Ich hoffte, du würdest das verstehen, Großmutter. Das Andenken deines Sohnes soll wieder rein werden.«

«Es ist zu schmerzhaft«, stöhnte sie.»Ich kann es nicht ertragen. «Ich zog mein Taschentuch heraus und wischte mir die Tränen ab. Dann stand ich auf.»In gewisser Weise ist es wohl alles meine Schuld«, sagte ich.»Wäre ich niemals zurückgekommen, so wärt ihr hier ungestört geblieben. Verzeih mir, Großmutter. Aber ich bin gekommen, und ich werde den Weg, den ich eingeschlagen habe, bis zum Ende gehen. «Ich war selbst erstaunt, wie gefaßt ich war, als ich zur Tür ging. Dort blieb ich noch einmal stehen.

«Und wie wird dieses Ende aussehen?«fragte meine Großmutter hinter mir.

Eine schwarze Wand stand direkt vor meinem Gesicht. Ich wußte, daß es die Tür war, die in den Flur hinausführte. Gleichzeitig jedoch schien es mir meine Zukunft zu sein, die da vor mir stand, so dunkel und abschreckend wie meine unbekannte Vergangenheit.»Das Ende wird die Vereinigung der Vergangenheit mit der Gegenwart sein, Großmutter.«

«Wozu? Wir wissen alle, was die Zukunft bereithält. «Ich drehte mich noch einmal nach ihr um, sah sie an, wie sie da im schützenden Dunkel saß wie eine Eremitin, die in einer vergangenen Zeit verharrt und sich weigert, einen Schritt in die

Zukunft zu tun. Hatte sie seit jenem schrecklichen Tag vor zwanzig Jahren so gelebt? Oder war sie erst mit dem Tod von Colins Vater zur Einsiedlerin geworden? Oder aber hatte der Selbstmord ihres Mannes vor zehn Jahren sie dazu gemacht?

«Ich glaube nicht an diese Zukunft. Es gibt keinen Fluch. Die Pembertons sind nicht verdammt.«

«Nein?«kam die Stimme dünn aus der schattendämmrigen Vergangenheit.»Dann sag dir das nur ganz fest, wenn du deinen Onkel Henry besuchst. Denn es geschieht schon wieder.«

Das es, vermutete ich, bezog sich auf das Syndrom, das mit dem Wahnsinn einherging: Kopfschmerzen, Fieber, Delirium und schließlich der Tod. So war angeblich Sir Johns Bruder Michael vor fünfundvierzig Jahren gestorben. So war, wie man mir berichtet hatte, mein Vater gestorben. Und das gleiche Schicksal hatte später meinen Großvater ereilt. Henry, so schien es, sollte das nächste Opfer werden. Aufregung empfing mich, als ich in den unteren Flur hinunterkam. Gertrude rannte, gefolgt von zwei Mädchen, an mir vorbei; die eine trug ein Kissen, die andere ein Teetablett. Anna stand völlig außer sich vor dem Schlafzimmer, das sie mit Henry teilte, und rief immer wieder:»O Gott, o Gott, hilf uns doch!«

Als ich zu ihr eilte und meine Hand auf ihren Arm legte, starrte sie mich an, als kenne sie mich nicht.»Ach, Jenny, ich bin so durcheinander. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

«Wegen Onkel Henry?«

Sie nickte mehrmals.»Wir haben nach Dr. Young geschickt. Er wäre gleich gekommen, aber in der Spinnerei hat es einen Unfall gegeben. Der Junge sagte, er würde heute im Lauf des Abends kommen. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich tun soll. Hoffentlich kommt er bald. «Ich wollte ins Zimmer gehen, aber sie hielt mich zurück.»Es ist schlimmer, Jenny, schlimmer als je zuvor. Es ist genau wie bei Robert. Du weißt doch noch, erst hatte er nur ab und zu Kopfschmerzen, dann kamen sie immer häufiger und wurden so grauenvoll, daß sie nicht mehr zu ertragen waren.«