«Ja, es war wärmer als heute und nicht so stürmisch.«

«Dann lag es vielleicht wirklich am Wetter. Ich muß eben an einem schöneren Tag wieder herkommen. Es muß wahrscheinlich alles genau übereinstimmen. Ich werde so oft wieder hierher kommen, bis ich mich erinnern kann.«

«Ist es dir so wichtig?«

Ich sah ihn an. In seinen Augen war Besorgnis. Aber ich konnte nicht erkennen, um wen.»Ja, es ist mir sehr wichtig.«

«Und wenn es nun sehr lange dauert?«

«Dann mußt du mir eine Guinee bezahlen.«

«Ich muß dir —?«Plötzlich warf er den Kopf weit zurück und lachte. Es war ein gutes Lachen, voll und herzlich. Wie schön wäre es gewesen, gemeinsam mit Colin aufgewachsen zu sein. Er wäre mir ein großer Bruder gewesen, der mich beschützt und für Abenteuer und Heiterkeit gesorgt hätte. Ich hätte ihn in diesen Jahren so gut kennenlernen können, wie ich mir vorstellte, daß Martha ihn kannte, anstatt über sein unberechenbares Verhalten rätseln zu müssen, wie ich das jetzt tat. Ich stellte ihn mir neben Edward am großen Tisch im Speisezimmer vor — der unglaublich wohlerzogene, immer zuverlässige Edward neben meinem Vetter, der sich genau umgekehrt verhielt — und hätte beinahe laut herausgelacht.

Colin, der meine Heiterkeit bemerkte, sagte:»Du bist also gar nicht so bitter ernst, wie es manchmal den Anschein hat. Komm, Leyla, laß uns diesen unwirtlichen Ort verlassen.«

Wir machten kehrt und gingen ein paar Schritte bis zum Rand des Wäldchens.»Komm nicht zu bald wieder hierher«, sagte Colin.»Laß dir Zeit. Gönn dir ein bißchen Ruhe. Ich glaube, du forderst es zu stark heraus. Außerdem solltest du das nächstemal aus einer anderen Richtung kommen.«

Ich blieb stehen.»Warum sagst du das?«

Colins Gesicht war eine undurchdringliche Maske, als er erwiderte:»Nun, wenn du wirklich die Stimmung jenes Tages wiederherstellen willst, um dich erinnern zu können, was du gesehen hast, dann solltest du wenigstens an der richtigen Stelle stehen.«

Ich warf einen Blick über meine Schulter.»An der richtigen Stelle?«

«Ja. Dort, wo du heute standest, warst du damals nicht. Als du versteckt zwischen den Bäumen hocktest und deinen Vater und deinen Bruder beobachtet hast, warst du an einer ganz anderen Stelle.«

Kapitel 9

Als wir ins Haus zurückkamen, hörten wir, daß Henry sich, von heftigem Unwohlsein geplagt, in sein Zimmer zurückgezogen hatte, und daß meine Großmutter nach mir verlangt hatte. Weder das eine noch das andere berührte mich sonderlich. Mich beschäftigte, während ich die Treppe zu meinem Zimmer hinauflief, nur eine Frage: Woher wußte Colin, wo ich an jenem Tag vor zwanzig Jahren versteckt gewesen war? Im Zimmer warf ich Hut und Umhang auf das Bett und setzte mich vor den Spiegel über meinem Toilettentisch. Keine Blässe, keine farblosen Lippen und glanzlosen Augen wie in den Tagen zuvor; statt dessen rosige Wangen und Lippen und strahlende Augen. Es war, als wäre mein Körper plötzlich zum Leben erwacht.

Das Wiedersehen mit dem Wäldchen, sagte ich mir. Oder das Wetter, der Wind und die Kälte. Der lange Anstieg zum Haus hinauf. Vielleicht auch die Erinnerung an den Rubinring. In meinem Bestreben zu leugnen, daß mein Vetter Colin eine solche Wirkung auf mich haben konnte, dachte ich mir alle möglichen Dinge aus, um mir meine plötzliche Lebendigkeit zu erklären.

Während ich mein Haar bürstete, hörte ich im Flur Stimmen und Schritte. Ich hörte Gertrude und Anna miteinander sprechen, dann Theo, alle offensichtlich bemüht um Henry, der wieder an seinen Kopfschmerzen litt. Aber ich kümmerte mich nicht um das, was vor meiner Tür passierte. Ich hatte anderes im Sinn.

Immer noch beschäftigte mich Tante Sylvias Brief. Und nun kamen noch Colins rätselhafte Worte im Wäldchen hinzu.

Woher wußte er, wo mein Versteck gewesen war? Wenn ich allein dort unten gewesen war, und sie mich erst später gefunden hatten, wie ich in völliger Verwirrung vor den beiden Toten gestanden hatte, dann konnte doch keiner außer mir wissen, wo ich mich versteckt gehalten hatte. Es klopfte laut.»Leyla?«rief Theo von draußen.»Ja, was möchtest du?«

Er steckte den Kopf zur Tür herein, das Gesicht ungläubig und verärgert.»Leyla, du weißt doch, daß Großmutter wartet.«

«Ja. Aber ich bürste mir gerade das Haar, wie du siehst. Es wird Großmutter schon nichts ausmachen, noch ein bißchen länger zu warten. «Theo vergaß alle guten Manieren und kam einfach in mein Zimmer.»Also, wirklich, Leyla! Du hast noch einiges zu lernen. Wir wissen, daß du anders erzogen worden bist als wir, aber du mußt dich anpassen. Wenn du zur Familie gehören willst, mußt du dich auch an unsere Regeln halten. Und Regel Nummer eins schreibt vor, Großmutter niemals warten zu lassen.«

«Entschuldige«, sagte ich kühl. Als ich aufstand, fiel meine Haarbürste zu Boden.»Und erlauben eure Regeln auch, einfach das Zimmer einer jungen Dame zu betreten, die allein ist? Ach, Theo, ich habe einen anstrengenden Nachmittag hinter mir. Ich möchte mich ein wenig ausruhen, eine Tasse Tee trinken und mich frischmachen, ehe ich zu Großmutter hinaufgehe.«

Er öffnete den Mund, um mir etwas zu erwidern, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.

«Außerdem hat Großmutter zwanzig Jahre in aller Seelenruhe auf mich gewartet, Theo. Da kann sie ruhig noch ein wenig länger warten.«

«Lieber Gott, was ist denn nur in dich gefahren?«

«Nichts. «Ich bückte mich und hob die Bürste auf.»Und wo bist du überhaupt gewesen? Was hast du heute getan?«Ich setzte mich wieder an den Toilettentisch und bürstete heftig und gereizt durch mein Haar.»Ich war im Wäldchen.«

«Was?«rief er heiser. Im Spiegel sah ich, wie er weiß wurde.»Leyla, ich — «Er griff sich mit der Hand an die Stirn. Ich wandte mich ihm wieder zu.»Was ist denn?«

Er sah sich nach einem Sessel um, setzte sich und schüttelte immer nur den Kopf. So außer Kontrolle hatte ich ihn noch nie erlebt. Als er mich endlich ansah, erschrak ich. Große Furcht und Unruhe spiegelten sich in seinen Augen. Einen Moment lang glaubte ich, es ginge ihm um mich und mein Wohlergehen, aber bei näherer Überlegung kam ich zu dem Schluß, daß Theo aus anderen Gründen beunruhigt war.

«Du hättest nicht hingehen sollen«, sagte er leise.»Warum denn nicht? Sag mir doch, was los ist, Theo!«

«Und — wie war es, Leyla? Hast du — hast du dich an etwas erinnert?«Ich sah auf den Rubinring an seinem Finger, den Ring, den ich im Sonnenlicht hatte aufblitzen sehen und der in irgendeiner Verbindung mit dem Wäldchen und der Vergangenheit stand. Aber auch zu Theo sagte ich:»Nein, ich erinnere mich an nichts.«

Er lehnte sich scheinbar erleichtert zurück, aber seine Stimme blieb angespannt.»Es hätte — furchtbar werden können für dich. Diese Erinnerung, meine ich. Sei froh, daß sie dir erspart geblieben ist. Mein Gott, es war grauenvoll.«

Lange sah ich Theo eindringlich an, beobachtete seine fahrigen Bewegungen, bemerkte die Furcht und die Unruhe in seinem Gesicht. Ich sah meinen Eindruck, daß Theo weniger um mein Wohl als um etwas anderes besorgt war, bestätigt und hatte das Gefühl, er fürchtete das, woran ich mich vielleicht erinnern würde.

«Es wird gewiß nicht so furchtbar werden, wie du glaubst«, entgegnete ich ruhig.»Ich habe in London schreckliche Dinge gesehen — der Tod ist mir nicht fremd, ebensowenig der

Anblick von Blut. Ich habe einmal mitangesehen, wie bei einem Unfall ein Mann die Beine verlor — «

«Das ist nicht das gleiche, Leyla. «In flehentlicher Gestik breitete er die Hände aus.»Natürlich ist es schrecklich, einen Unfall mitanzusehen, aber einen Mord — das ist das reine Entsetzen. Und dann noch beim eigenen Vater und Bruder. Ich begreife einfach nicht, daß du das alles noch einmal erleben willst, Leyla. Ich verstehe es nicht. «Ich stand auf und ging zur Tür.»Doch, ich glaube schon, daß du es verstehst, Theo. Denn du weißt genau, warum ich wissen möchte, was ich an jenem Tage gesehen habe, und ich glaube, dir liegt sehr viel daran, mich davon abzuhalten, daß ich mich erinnere.«

Er sprang zornig auf.»Jetzt reicht es aber wirklich. Du hast mit deinem Gerede schon Martha aus der Fassung gebracht. Aber ich lasse mir das nicht bieten. Außerdem war dein Besuch im Wäldchen ja ohnehin vergeblich.«

«Diesmal, ja, aber ich war ja nicht das letztemal dort. «Ich sah zu seinem Ring hinunter.»Vielleicht wird die Barriere mit jedem Besuch ein Stück weiter eingerissen. Oder vielleicht kommt einmal ein Tag, an dem das Wetter genau so ist, wie es damals war, an dem die Stimmung und selbst das Licht im Wäldchen so sind, wie vor zwanzig Jahren. Und dann, Theo, dann werde ich mich an alles erinnern.«

Damit wandte ich mich ab und ging zur Tür hinaus. Ich hätte mir gern ein anderes Kleid angezogen, ehe ich meiner Großmutter gegenübertrat, aber Theo hatte mich mehr aus der Ruhe gebracht, als ich ihm gezeigt hatte, und ich hatte nur den Wunsch, ihm zu entkommen. Seine Art, niemals zu sagen, was er wirklich dachte, konnte ich nicht lange ertragen. Außerdem ärgerte mich sein dominantes Verhalten. Zornig und traurig zugleich ging ich zu meiner Großmutter hinauf und kam in ziemlich aufgewühltem Seelenzustand vor ihrem Zimmer an, gewiß nicht in der rechten Verfassung für ein Rencontre mit ihr. Aber ich wollte es nicht länger aufschieben. Nachdem ich mir noch einmal über das Haar gestrichen hatte, klopfte ich kurz.»Herein«, sagte sie scharf.

Alles war so wie am Abend zuvor. Das Zimmer war düster, nur von niedrig brennenden Ölflammen und flackernden Kerzen beleuchtet. Sie thronte wieder in ihrem Lehnstuhl, die schmalen Füße auf einer Fußbank, die Hände auf den Armlehnen des Sessels. Und wieder fiel Schatten auf ihr Gesicht, so daß ihre Züge nicht zu erkennen waren, sie jedoch ihr Gegenüber genau beobachten konnte. Diesmal jedoch würde ich mich nicht einschüchtern lassen; ich kannte sie inzwischen ein wenig besser und hatte eine klare Vorstellung davon, was sie von mir erwartete. Anstatt wie am Abend zuvor direkt vor sie hinzutreten, daß mir der Schein der Öllampe aufs Gesicht gefallen wäre, stellte ich mich an den Kamin, wo sie mich nur als Silhouette wahrnehmen konnte. Augenblicklich drehte sie den Kopf nach rechts, zornig, wie mir schien.»Warum stehst du da drüben? Ich kann dich nicht sehen.«