Kapitel 8

Gertrude kam gleich, als ich sie rief. Zögernd blieb sie an der Tür stehen. Wir hatten bisher kaum miteinander gesprochen, doch ich hatte immer noch die Hoffnung, daß ich von ihr etwas erfahren würde. Aber, das hatte ich inzwischen gelernt, ich mußte vorsichtig zu Werke gehen. Gertrudes Blick sagte mir eindeutig, daß sie sich nicht bereitwillig öffnen würde.»Gertrude«, sagte ich, während wir nebeneinander im Zimmer standen,»wir haben noch gar keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen. Dabei haben wir uns doch soviel zu erzählen. Von früher, meine ich.«

«Ja, Miss Leyla, aber wissen Sie, mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut.«

«Meines auch nicht, das haben Sie sicher schon bemerkt. Aber ich möchte so gern die alten Erinnerungen auffrischen. Vielleicht können Sie mich dabei unterstützen.«

«Ich würde Ihnen bestimmt gern helfen, Miss Leyla, aber ich glaube nicht, daß ich es kann.«

«Wir könnten es wenigstens versuchen. Vor zwanzig Jahren waren wir doch sicher gute Freunde. Das habe ich im Gefühl.«

«O ja, das waren wir!«

Wir setzten uns beide auf das Sofa vor dem kleinen Tisch, auf dem Tee und Toast bereitstanden. Das klare Licht des frühen Morgens fiel durch das Fenster und warf helle Streifen auf den Teppich. Der Wind pfiff immer noch um das Haus, aber der Himmel leuchtete herrlich blau. Bemüht, ihr die Befangenheit zu nehmen, schenkte ich uns beiden ein. Die Jahre waren freundlich gewesen zu unserer alten Haushälterin, die rosige Haut ihres Gesichts hatte kaum Falten. Sie war vielleicht sechzig, rundlich und klein, eine gute Köchin, die gern von ihren eigenen Speisen probierte, wie mir schien.

«Ich hab’ viel zu tun, Miss Leyla. Die Familie steht bald auf.«

«Aber bis dahin ist doch noch ein bißchen Zeit. Sonst kommen wir ja gar nicht zum Plaudern. Und wir haben uns soviel zu erzählen.«

«Wenn Sie meinen, Miss Leyla.«

«Ich weiß es, Gertrude. Ich meine, Sie müssen mich als Kind doch sehr gut gekannt haben. Haben Sie nicht damals immer für uns Kinder gebacken? Und Ihre Spezialität waren Lebkuchen, nicht wahr?«

«Nein, Miss Leyla. Ihre Tante Sylvia hat die Lebkuchen gebacken. Von mir haben Sie und die anderen Kinder immer am liebsten Apfelstrudel gegessen.«

«Ach ja, natürlich. «Keinerlei Erinnerung regte sich.»Und im Winter mußte ich Ihnen immer heiße Schokolade machen. Die tranken Sie mit Vorliebe.«

«Ach, ja?«

Gertrude blieb steif und zurückhaltend. Zweifellos hatte sie genaue Anweisungen erhalten. Aber ich hoffte auf eine Gefühlsregung von ihr.»Hat mein Bruder auch so gern Ihre Schokolade getrunken, Gertrude?«

Sie setzte sich noch steifer hin. Offenbar hatte ich hier einen wunden Punkt getroffen.»Der kleine Thomas war wie alle anderen. Er liebte alles, was ich machte, Hauptsache, es war schön süß.«

«Ich kann mich nicht an ihn erinnern, Gertrude. Können Sie mir ein wenig von ihm erzählen?«

«Ich habe leider ein schlechtes Gedächtnis, Miss Leyla. Ich kann Ihnen nichts sagen.«

Der Wind pfiff durch die Fensterritzen und durch den Abzug des Kamins. Mich fröstelte. Ich setzte meine Teetasse ab und legte meine Hand auf ihren Arm. Bis jetzt hatte sie mich nicht ein einziges Mal angesehen.»Gertrude, bitte, verstehen Sie doch. Ich habe alle Erinnerung an meine ersten Kinderjahre verloren und ich möchte sie so gern zurückhaben. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen.«

Doch ihr Gesicht blieb unbewegt. Meine Hoffnung auf eine Gefühlsregung war fehlgeschlagen. Oder aber ich hatte ihren Pflichteifer unterschätzt. Von wem auch immer der Befehl zu schweigen gekommen war — von meiner Großmutter oder Henry —, sie würde sich fest daran halten.

«Nun ja«, sagte ich seufzend. Diesmal war die Enttäuschung leichter zu ertragen. Erst meine Tante und mein Onkel, dann meine beiden Vettern und meine Cousine, dann meine Großmutter und jetzt Gertrude. Alles vergeblich.»Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange von der Arbeit abgehalten, Gertrude. Ich hatte so gehofft, Sie könnten mir auf meiner Suche ein wenig helfen. Sie können gehen, wenn Sie möchten.«

«Die Familie möchte sicher das Frühstück — «

Wir standen gleichzeitig auf, und ich machte einen letzten Versuch. Ich drückte meine Hand an die Stirn, stöhnte ein wenig und murmelte:»O, mein Kopf.«

Gertrude fuhr erschrocken herum und sah mich an. Tiefe Bekümmerung sprach aus ihren Augen. So unrührbar war sie also doch nicht.»Haben Sie Kopfschmerzen, Miss Leyla?«

«Es ist nicht schlimm. «Ich hatte überhaupt keine Kopfschmerzen. Ich hatte nur zu dieser List gegriffen, um Gertrude vielleicht doch noch erweichen zu können.»Haben Sie öfter Kopfschmerzen?«

«Ja, ab und zu. Es fällt mir erst jetzt auf, wo Sie fragen. In den letzten Monaten kam es immer wieder mal. Woher wußten Sie das?«

«Arme kleine Leyla. Daran litt auch Ihr Vater. Er litt in den letzten Wochen seines Lebens unter grauenvollen Kopfschmerzen. «Plötzlich blitzte eine Erinnerung auf: Ich hörte das Stöhnen eines Mannes hinter verschlossener Tür.

«Er hat entsetzlich gelitten, Kindchen, und kein Arzt konnte ihm helfen. Wir gaben ihm die Arznei, aber es mußte jedesmal mehr sein und am Schluß half sie gar nicht mehr. Dann bekam er das Fieber und fiel ins Delirium. Ach, Kindchen, Sie sollten sich solche Erinnerungen nicht zurückwünschen. Sie sind zu traurig. Sie sind schlimm. «Aber ich hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. So sehr ich mir gewünscht hatte, daß meine kleine List Gertrude die Zunge lösen würde, achtete ich jetzt kaum auf ihre Worte. Etwas Neues formte sich nämlich in meinen Gedanken, etwas, das ich nicht ganz greifen konnte.»Sie sind noch so jung, Kindchen! Daß Sie jetzt schon diese Kopfschmerzen haben! Ihr Vater war im besten Alter, und Ihr Großvater war alt. Ich bete zu Gott, daß die Kopfschmerzen einen anderen Grund haben. Vielleicht kommen sie vom Kummer über den Tod Ihrer Mutter. «Gertrudes Worte rauschten an meinen Ohren vorüber. Ich wußte jetzt, was für ein neuer Gedanke durch ihre ersten Bemerkungen bei mir ausgelöst worden war. Die Kopfschmerzen, die immer stärkeren Dosen Opium — das erinnerte mich an Henry. Er litt jetzt genauso wie vor zwanzig Jahren mein Vater gelitten hatte.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf Gertrudes Gesicht. Ich wollte sehen, ob sie mir Theater vorspielte. Doch ihre Tränen waren echt, das sah man. Mein Vater hatte also wirklich an grauenvollen Kopfschmerzen und Fieberwahn gelitten. Dieser Teil der Geschichte war wahr, das sah ich an ihrem angstvollen Blick und ihren zitternden Händen. Mein Vater hatte in der Tat an einem unbekannten Fieber gelitten. Gertrude ging jetzt; ich wartete, bis sie an der Treppe war, ehe ich meine Zimmertür schloß. Es war vielleicht herzlos gewesen, was ich ihr angetan hatte, aber mir hatte es eine neue Erkenntnis gebracht. Mein Vater hatte offenbar tatsächlich an einer geheimnisvollen Krankheit gelitten. Gertrudes Bekümmerung war echt gewesen, und mir selbst war eine flüchtige Erinnerung an sein Leiden gekommen. In meinem Gedächtnis regte sich der Gedanke an ein verschlossenes Zimmer, das ich nicht betreten durfte, und an einen weinenden Mann hinter dieser verschlossenen Tür. Ich meinte zu spüren, daß dieser Mann mein Vater gewesen war, und ich spürte zugleich die Angst und die Verzweiflung des Kindes, das nicht zu ihm konnte. Wenn Gertrudes Anteilnahme echt gewesen, wenn meine schattenhaften Erinnerungen keine Täuschung waren, dann konnte ich daraus nur schließen, daß mein Vater vor seinem Tod tatsächlich schwer krank gewesen war.

Doch das deutliche Gefühl, daß er an der grauenvollen Tat im Wäldchen unschuldig war, blieb. Ein Teil des Bildes fehlte, und da Gertrude, in die ich meine letzte Hoffnung gesetzt hatte, mir nicht geholfen hatte, konnte ich die letzte Antwort auf meine Fragen nur an einem Ort finden.

Am späten Nachmittag ging ich, wie ich es geplant hatte, zum Wäldchen hinunter. Anna legte sich nach dem opulenten Mittagessen zur Ruhe, Martha saß irgendwo und stickte, Henry und Theo waren immer noch in East Wimsley. Das ganze Haus war totenstill. Nachdem ich Hut und Cape angelegt hatte, verließ ich leise mein Zimmer und huschte an den Räumen meiner Familie vorbei, um sie nicht zu stören. Der Besuch im Wäldchen würde wahrscheinlich zu einem Wendepunkt in meinem Leben werden, mir alle Erinnerungen zurückgeben und die zahllosen Fragen beantworten, die mich bedrängten. Im Wäldchen würde ich meine Kindheit wiederfinden, denn durch das Aufdecken jener einen bösen Erinnerung, würden mir auch die guten wiedergegeben werden. Im Wäldchen würde ich erfahren, wer meinen Vater und meinen Bruder getötet hatte, wer den mit Sylvias Namen gezeichneten Brief geschrieben hatte, wer die Geschichte vom Wahnsinn der Pembertons in die Welt gesetzt hatte und wer auf Pemberton Hurst mein Feind war. Das Haus war wie ausgestorben. Niemand begegnete mir. Und auch Colin fand ich nicht. Entweder hatte er unsere Verabredung vergessen oder er hatte es sich anders überlegt; ich würde also allein ins Wäldchen gehen müssen. Es störte mich nicht, da dies ja meine ursprüngliche Absicht gewesen war.

Der Wind war wieder heftiger geworden; eisig blies er durch die Äste der Bäume und trieb dicke graue Wolken über den Himmel. In der Ferne war ein mächtiges Donnern zu hören. Am Abend würde es wohl ein richtiges Gewitter geben. Ich wußte, daß ich mich beeilen mußte, wenn ich genügend Zeit im Wäldchen haben wollte.

Mit beiden Händen Umhang und Röcke festhaltend, lief ich um das Haus zu dem Weg, der zu den Ställen führte. Von hier aus konnte ich die weite Grünfläche sehen, die sich den Hang hinabzog und am Fuß des Hügels vor einem dichten Wald endete. Die Bäume sahen grau und spröde aus, wie sie im Sturm gegeneinander schlugen. Immer dichter ballten sich die finsteren Wolken zusammen, wuchsen zu einem bedrohlichen schwarzen Meer. Ihre Schatten bedeckten die Grünfläche jetzt ganz, ließen nur hier und dort einige Sonnenstrahlen durchscheinen. Mein Ausflug würde wohl von kurzer Dauer sein.