«Mein Gott, hast du mich erschreckt«, sagte ich atemlos zu der Silhouette an der Tür.

Ein leises Lachen antwortete mir.

«Bist du das, Theo?«Ich griff hinter mich, nahm die Kerze und hielt sie hoch. Colins Gesicht tauchte aus dem Dunkel.

«Was hast du in Tante Sylvias Zimmer zu suchen?«fragte er in anklagendem Ton.

«Ich — ich habe einen Rundgang durch das Haus gemacht. Ich dachte, ich würde mich vielleicht an irgend etwas erinnern. Das Zimmer war nicht abgeschlossen.«

«Ziemlich taktlos, einfach ein fremdes Tagebuch zu lesen, meinst du nicht?«

Ich sah wieder auf das Buch. Meine Augen brannten.»Ich fühlte mich ihr plötzlich so nahe. Ich konnte mich beinahe an sie erinnern.«

«Und was hat es dir sonst noch gesagt?«Mit einem Ruck hob ich den Kopf.»Was meinst du damit?«

«Wirst du darin erwähnt? Hast du deshalb darin gelesen? Ich wette, du hast eine Enttäuschung erlebt, liebe Leyla. Tante Sylvia hat nie von dir gesprochen. So wenig wie wir anderen.«

«Nein — nein, von mir steht nichts in dem Buch. «In meinem Kopf schwirrte es. Wer hatte den Brief geschrieben?» Ich will dir etwas sagen, Leyla«, sagte Colin und kam einen Schritt näher.»Es ist nicht ganz ungefährlich allein durch dieses Haus zu streifen. Manche der Treppen, die nicht mehr benutzt werden, sind in schlechtem Zustand. Du hättest leicht stürzen können. Das nächstemal suchst du dir Begleitung.«

«Die anderen schlafen ja noch.«

«Aber jetzt bin ich da und kann dich herumführen. Theo und Henry sind ebenfalls aufgestanden, aber sie sind schon nach East Wimsley gefahren.«

«Fährst du nie hin?«

«Ich habe mit dem Geschäft nichts zu tun. Mein Onkel und mein Vetter halten mich beide für unfähig, obwohl es einmal eine Zeit gab, in der ich sehr häufig mit der Leitung der

Geschäfte zu tun hatte. Aber das ist lange her, und es war nur für kurze Zeit.«

«Wann war das?«

Sein Gesicht verschloß sich.»Nachdem deine Mutter mit dir fortgegangen war. Onkel Henry ging mit Tante Anna und Theo nach Manchester, um unsere dortige Fabrik zu leiten. Ich blieb mit meinem Vater hier und führte für Großvater die Geschäfte. Aber dann — «er stockte —»dann kamen meine Eltern bei dem Unfall ums Leben und Onkel Henry kam mit seiner Familie zurück. Er übernahm gemeinsam mit Theo die Leitung der hiesigen Fabrik, und so ist es geblieben. «Er lachte kurz auf.»Diese Fabriken sind mir gleichgültig. Ich bin kein Geschäftsmann. Ich bin der geborene Müßiggänger. Außerdem «seine Stimme wurde hart —»ist es nicht nach meinem Geschmack, Baumwollspinnereien zu leiten, in denen es stinkt, daß die armen Menschen, die dort schuften, kaum atmen können und alle möglichen widerwärtigen Krankheiten bekommen. Ich bin kein Reformer, aber ich finde die Bedingungen, unter denen diese Leute dort arbeiten müssen, ungeheuerlich.«

Ich war erstaunt über die plötzliche Leidenschaft in seiner Stimme. Seine Worte überraschten mich. Sie stimmten genau mit dem überein, was ich dachte.

«Und mein hochherziger Onkel Henry war tatsächlich gegen den Zehn-Stunden-Tag, liebe Leyla. Er behauptete, er würde den Arbeitern nur mehr freie Zeit geben, um sich ins Wirtshaus zu setzen. Da kann ich nur sagen, um so besser für sie! Ich sage dir eines, irgendwann wird der Acht-Stunden-Tag kommen und Kinderarbeit überhaupt verboten werden. Und wenn dieser Tag kommt — «Colin brach ab. Er wirkte beinahe verlegen.»Ja, sprich weiter! Stell dir vor — «

Er unterbrach mich mit einer Handbewegung. Das Feuer war erloschen. Plötzlich war er wieder der alte Colin, der sich nur um sich selbst kümmerte.

«Komm, Leyla, gehen wir, in diesem Zimmer findest du doch nichts. «Ich legte das Tagebuch wieder auf den Nachttisch und stellte die Frage, wer meiner Mutter den Brief geschrieben hatte, fürs erste zurück. Als wir wieder im Flur standen, nahm Colin mir die Kerze ab und hielt sie nahe an mein Gesicht.

«Du siehst deiner Mutter unglaublich ähnlich«, sagte er leise.»Und meinem Vater nicht?«

Er kniff die Augen zusammen.»Doch, deinem Vater auch. Man sieht dir an, daß du eine Pemberton bist, verflucht, wie alle Pembertons.«

«Hör’ auf mit dem Unsinn, Colin!«

«Ach, Leyla, wenn du wüßtest, wie lebendig durch deinen Anblick die Vergangenheit wird. Ich war damals zwar erst vierzehn, aber ich war alt genug, um einen Blick für Schönheit und Anmut zu haben. Ach, wie habe ich damals gehofft, wenigstens einmal einen Blick auf die zarten Fesseln deiner Mutter zu erhaschen! Sie war zwar meine Tante, aber ich brauchte sie nur zu sehen, um im Fieber der Leidenschaft zu entbrennen.«

«Ach, Colin!«Ich lachte.

«Und du, Leyla, du launisches Frauenzimmer. Damals hingst du mit abgöttischer Liebe an mir! Aber davon ist jetzt nichts mehr übrig, oder?«Er sah mich forschend an.

«Du mußt dich getäuscht haben, Colin. Ich habe dich bestimmt nur als älteren und klügeren Bruder gesehen, so wie jetzt. Es wäre doch unvorstellbar gewesen, daß ich mich in meinen Vetter verliebe.«

«Weißt du noch, daß ich dir oft vorgelesen habe?«Ich versuchte, mich zu erinnern.»Nein.«

«Und einmal habe ich dir zum Geburtstag eine Laterna Magica geschenkt. Ich bastelte wochenlang daran herum — «

«Colin!«Ich schrie fast seinen Namen und packte ihn aufgeregt beim Handgelenk. Nicht nur ein vages, undeutliches Bild, sondern eine klare, lebendige Erinnerung.»Ich glaube, ich erinnere mich. War ein Bild von einem kleinen Hasen darauf? Und das Häschen hatte ein Kleid an, das wie meines aussah. Das Häschen sollte ich sein, und wenn ich die Kurbel drehte, hopste es auf und ab. Colin, ich erinnere mich ganz genau!«

«Ich habe ewig gebraucht, um das Ding fertigzubekommen, Leyla, aber es lohnte sich. Du hättest sehen sollen, wie dein Gesicht strahlte, wenn du damit spieltest. Ich bin froh, daß du dich erinnerst.«

«Ja, ganz deutlich. «Unwillkürlich grub ich meine Finger tiefer in seinen Arm. Weitere bruchstückhafte Erinnerungen kamen zurück, wie Steine eines Mosaiks. Ich sah die Geburtstagsfeier im Speisezimmer, eine Torte und Leckereien auf dem Tisch, der mir in der Erinnerung riesig erschien. Ich sah wogende Röcke, um mich herum ein Farbenmeer von Rosarot und Blau. Ich erinnerte mich an die Laterna Magica und wie ich Colin vor Freude um den Hals gefallen war.»Täusche ich mich, oder wirst du rot, schöne Cousine?«Die Bilder verschwanden, ich sah Colin an.»Und meine Hand ist bereits völlig taub.«

Ich ließ seinen Arm los.»Mir ist plötzlich alles wieder eingefallen. Das ganze Geburtstagsfest. Aber ich konnte nur Hosenbeine und Röcke sehen, keine Gesichter.«

«Das wird schon noch kommen.«

Er sah mich schweigend an, und während ich von seinem Blick gefangen war, versuchte ich, ohne zu wissen warum, mir Edwards Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Und konnte es nicht.»Ich dachte, du möchtest nicht, daß ich mich erinnere.«»Doch, Leyla, an die glücklichen Zeiten schon. Sie gehören dir. Aber nicht an die schlimmen Tage. Das würde dir wehtun.«

«Ich muß trotzdem hin, Colin. Ich muß ins Wäldchen. Ich gehe heute hinunter und — «

Jetzt packte Colin mich beim Arm, und so heftig, daß ich zusammenzuckte.»Das kann nicht dein Ernst sein, Leyla. Geh nicht!«

«Aber ich muß! Colin, du tust mir weh.«

«Das ist doch Wahnsinn! Es kann dir passieren, daß du dich an überhaupt nichts erinnerst und dennoch das Grauen fühlst und die Angst jenes Tages.«

«Bitte, laß mich los!«

Zornig stieß er mich von sich. Wie rasch bei diesem Mann die Stimmung wechselte. Seine plötzlichen Ausbrüche, seine Unberechenbarkeit ängstigten mich.»Leyla, bitte — «

«Ich gehe, Colin.«

«Dann laß mich mitgehen. Erlaube mir, daß ich dich begleite. Vielleicht brauchst du mich, wenn — du dich wirklich erinnern solltest. «Seine Fürsorge tat mir gut.»Komm mit. Ich gehe heute nachmittag.«

«Gut. Wenn du jetzt noch mehr vom Haus sehen willst, dann laß mich dich führen.«

Gertrude fiel mir plötzlich ein.»Nein, danke, Colin. Ich bin ein bißchen müde und möchte mich noch ein Weilchen hinlegen. Wir sehen uns später, wenn es dir recht ist.«

Er begleitete mich zu meinem Zimmer, wartete, bis ich die Tür geschlossen hatte, und ging dann den Flur entlang, vermutlich die Treppe hinunter. Ich hatte nicht ganz die Unwahrheit gesagt, als ich erklärte, müde zu sein. Die Erkenntnisse dieses Morgens hatten mich nicht nur tief getroffen, sondern auch recht mitgenommen, insbesondere das

Geheimnis um Tante Sylvias Brief. Ich setzte mich auf das Sofa am Kamin und las ihn wohl zum zwanzigstenmal.

>Liebe Jennyc, stand da, >verzeih dieses plötzliche Schreiben nach so vielen Jahren des Schweigens. Ich verspüre eine starke Sehnsucht, Dich zu sehen. Ich kann mir vorstellen, daß Du kaum gute Erinnerungen an Pemberton Hurst hast, und ich kann es verstehen. Aber das ist alles lange her, und so vieles hat sich seither verändert. Ich möchte Dich und Leyla gern sehen, aber ich kann nicht nach London kommen. Ich bin jetzt eine alte Frau und möchte in meiner Familie sein, wenn der Herr mich ruft. Kannst Du nicht für einige Tage hierher zurückkommen und Leyla mitbringen? Dann könnte mein Herz Frieden finden. In Liebe, Tante Sylvia<

Ein schlichter Brief, der aber eindeutig nicht von Sylvia Pemberton geschrieben war. Doch wer in diesem Haus hatte meine Mutter und mich hierhaben wollen? Und warum hatte der Betreffende nicht im eigenen Namen geschrieben, sondern sich hinter Tante Sylvia versteckt, die damals kurz vor dem Tod gestanden haben mußte?

Von allen Rätseln, die mir hier begegnet waren, schien mir dies das unergründlichste.

Ich war dem Ruf dieses Briefes gefolgt, doch alle im Haus waren, so hatte es jedenfalls den Anschein, über mein Kommen höchst überrascht gewesen. Und alle schienen sie meine baldige Abreise zu wünschen. Das konnte nur eines bedeuten: Jemand sagte die Unwahrheit.