«Sie sagen, Miss Sylvia erwartet Sie?«fragte sie noch immer irritiert. Sie sprach mit einem leichten deutschen Akzent.»Aber sicher, ich werde erwartet.«

Das Geräusch schneller Schritte durchbrach die Stille. Mit den Worten,»wer war denn an der Tür?«kam eine zweite Frau auf mich zu; offensichtlich war sie keine Hausangestellte. Als sie mich sah, blieb sie wie angewurzelt stehen.»Jenny!«flüsterte sie.

«Nein, ich bin nicht Jenny. Ich bin ihre Tochter Leyla. «Der Blick der zweiten Frau huschte zur Haushälterin, und mir war, als flögen unausgesprochene Worte zwischen ihnen hin und her.»Leyla?«wiederholte die Frau dann.»Du bist Leyla?«Ich hatte selten jemanden so überrascht gesehen. Dabei hatte Tante Sylvia doch gewiß im Namen der ganzen Familie geschrieben, und man mußte schon seit einiger Zeit meinen Besuch erwartet haben. Aber nein, der Brief war ja an meine Mutter gerichtet gewesen, und daher war es meine Mutter, die man hier erwartet hatte.»Ja, ich bin Leyla, Jennys Tochter. Ihr habt gewiß nicht damit gerechnet, daß ich an ihrer Stelle kommen würde. Verzeiht mir, das war sehr gedankenlos von mir — «

«An ihrer Stelle?«Die zweite Frau zwinkerte ungläubig.»Mein liebes Kind, wir haben weder dich noch deine Mutter erwartet. Das ist wirklich ein Schock«, sagte sie und griff sich mit theatralischer Geste ans Herz.»Das tut mir leid. Wirklich.«

«Wir dachten, wir würden dich nie wiedersehen! Leyla, Leyla! Mein Gott, ist das eine Überraschung.«

Etwas höflicher und wohlerzogener als die Haushälterin, die mich mit ihren blauen Augen immer noch wie ein Gespenst anstarrte, kam die Frau auf mich zu und bot mir die Hand. Ein dünnes Lächeln spielte um ihre Lippen, und ihre Stimme war warm. Doch die Augen blieben hart.

«Bitte verzeih’ meine Unhöflichkeit.«

«Bist du Tante Sylvia?«Wieder huschte ihr Blick zur Haushälterin.

«Nein, Kind. Ich bin nicht deine Tante Sylvia. Gott, was für eine Überraschung. Nach all diesen Jahren. Was ist aus der kleinen Leyla geworden.«

Ich hatte mich also getäuscht. Sie war nicht überrascht, mich anstatt meiner Mutter zu sehen; sie wäre genauso überrascht gewesen, wenn meine Mutter selbst gekommen wäre. Es war mir ein Rätsel, warum Tante Sylvia den anderen nichts von ihrem Brief gesagt hatte. Wir umarmten einander höflich, als spielten wir eine Szene in einem Theaterstück, dann trat ich einen Schritt zurück, um diese unbekannte Verwandte zu mustern, die in mir ein Gefühl diffusen Unbehagens auslöste.

Sie hatte ein reizloses, aber durchaus sympathisches Gesicht mit leicht vorstehenden Augen und trug ein rehbraunes Samtkleid nach der neuesten Mode mit Volants und eng zulaufender Taille. Das Haar war in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden;

Korkenzieherlöckchen, die über die Ohren herabfielen, nahmen der Frisur ein wenig die Strenge. Das Grau in ihrem Haar, die Falten um die Augen und die schlaffen Wangen verrieten mir, daß sie nicht mehr jung war; ich schätzte sie auf Mitte fünfzig. Da ich niemanden von der Familie Pemberton kannte, wußte ich nicht, mit wem ich es zu tun hatte.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, bot sie mir nochmals die Hand und sagte:»Ich bin Anna Pemberton, deine Tante und die Schwägerin deiner Mutter. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht an mich.?«

«Nein. Müßte ich das denn?«

Ihr kleines Auflachen klang gezwungen, aber der Ton war angenehm. Die füllige Haushälterin in ihrer Schürze starrte mich immer noch fassungslos an. Es sah aus, als würde sie sich ohne ausdrücklichen Befehl nicht von der Stelle rühren. Dennoch war es weniger das Verhalten dieser Frau, als das Verhalten von Tante Anna, das mich stutzig machte und beunruhigte: Dieses Lächeln der schmalen, rotgefärbten Lippen war nicht herzlich, es war eine Maske. Trotz des Lächelns, der Umarmung, der freundlichen Worte war Tante Anna überhaupt nicht erfreut, mich zu sehen, das fühlte ich.

«Gertrude, bringen Sie uns den Tee in den Salon. «Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, und die Haushälterin eilte davon.»Laß deine Tasche hier. Einer unserer Angestellten kann sie in dein Zimmer hinaufbringen. Du mußt dich erst einmal ein wenig ausruhen. Gott, wie kalt es draußen geworden ist.«

So sehr mich die Aussicht auf ein warmes Zimmer und eine Tasse Tee lockten, ich wollte erst meiner Pflicht Genüge tun.»Kann ich nicht zuerst Tante Sylvia sehen?«

Mir schien es, als ob Anna zurückfuhr. Sie wußte offensichtlich nicht, was sie sagen sollte. Stumm standen wir einander gegenüber, zwei Fremde. Ich konnte mir vorstellen, daß Anna gern gewußt hätte, warum ich hier war, da sie offenbar von Sylvias Brief keine Kenntnis hatte. Gleichzeitig spürte ich, daß sie über Sylvia nicht sprechen wollte; das schien ein heikles Thema zu sein.

«Bitte«, sagte sie schließlich leise,»gehen wir in den Salon. Du wirst von der Reise sicher müde sein. Bist du mit der Eisenbahn gekommen?«

Ich bejahte.»Ich bin mit dem Zug nach Brighton bis East Wimsley gefahren. Von dort habe ich mir eine Droschke genommen. «Anna schauderte.»Schrecklich, die Eisenbahn. Ich bin selbst nie damit gefahren und werde es auch nie tun. Ich sage immer, wenn es Gottes Wille gewesen wäre, daß wir uns auf diese Weise fortbewegen, hätte er uns mit Rädern ausgestattet.«

Ich mußte lächeln, obwohl mir eigentlich gar nicht danach zumute war. Ich folgte ihr aus der Halle in einen Flur, der durch die Gaslampen an der Decke nur trübe erleuchtet war. Anna ging langsam, und ein Blick auf ihr Gesicht verriet mir, daß sie völlig aus dem Gleichgewicht geworfen war. Während ich neben ihr herging, schaute ich mich um, suchte nach Erinnerungen, aber der düstere Flur blieb mir so fremd wie das elegante Zimmer, in das Anna mich führte.

Lichterglanz und heller Feuerschein empfingen uns, schwere, geschnitzte Möbel und hochgepolsterte Sessel und Sofas. An einer Wand stand ein Klavier. Tischchen mit Blumenvasen, Kerzenleuchtern und dekorativen kleinen Kästchen nahmen den größten Teil des freien Raums ein, so daß ich mich vorsichtig bewegen mußte, um mit meinem ausladenden Rock nicht eine kleinere Katastrophe heraufzubeschwören. Auf dem Kaminsims, umgeben von Nippes und Staffordshire Figurinen stand eine Uhr, deren Zeiger auf kurz vor fünf zeigten.

Nachdem Anna mir den Umhang und den Hut abgenommen hatte, setzten wir uns auf ein Sofa und unterhielten uns über das unfreundliche Wetter. Ich bemerkte, daß Anna mich mit hastigen Blicken von Kopf bis Fuß musterte — die abgetragenen Lederstiefeletten, das schmucklose Kleid mit den altmodisch engen Ärmeln, die schlichte Haartracht. Ich kam ihr wahrscheinlich vor wie eine arme Kirchenmaus, in der Mode von gestern gekleidet. Aber vor allem schien sie mein Gesicht zu fesseln. Ich hatte das Gefühl, daß sie in meinen Zügen etwas ganz Bestimmtes suchte; während sie über das Wetter plauderte, musterte sie es sehr genau — meine dunklen Augen mit den dichten Wimpern, die etwas zu große Nase, den geschwungenen Mund, das feine Grübchen am Kinn. Und während sie mich aufmerksam betrachtete, beobachtete ich sie, wartete auf eine Reaktion, die mir zeigen würde, daß sie entdeckt hatte, was sie suchte.

«So, du bist also gekommen, um uns zu besuchen?«fragte sie, als der Tee gebracht wurde.»Sahne und Zucker?«

Das prachtvolle silberne Service war offensichtlich sehr alt. Ich fragte mich, ob ich früher schon einmal aus diesen Tassen getrunken hatte.»Weißt du, wir haben so selten Gäste hier, wir sind gar nicht darauf eingerichtet. Wenn wir nur gewußt hätten nun, du hattest vielleicht keine Zeit zu telegrafieren. Du hättest vom Bahnhof aus keine Droschke zu nehmen brauchen. Wir hätten dir gern einen Wagen geschickt. Dann hätten wir dich auch in passenderer Weise empfangen können. Du weißt gar nicht, welche Überraschung dein Besuch ist. «Ihr silberner Teelöffel schlug klirrend an den Tassenrand.»Das Haus birgt sicher viele Erinnerungen für dich, Leyla. «Beim Teetrinken schien Anna gelöster und lebhafter zu werden.»Wie aufregend muß dieser Besuch für dich sein. Nach so langer Zeit!«

«Ja, sehr aufregend«, sagte ich langsam.

An den Wänden hingen keine Porträts, keine gerahmten Daguerrotypien, die mir einen Hinweis hätten geben können, wie die anderen Angehörigen meiner Familie aussahen.

Tatsächlich wußte ich nicht einmal, wie viele Menschen unter diesem Dach lebten, ob sie mich kannten, sich meiner erinnern würden. Ein inneres Gefühl warnte mich davor, Anna wissen zu lassen, daß ich hier fremder war als sie ahnte. Zumindest vorläufig, bis ich sie — und die anderen — besser kannte, wollte ich das für mich behalten.

«Du warst ein entzückendes Kind«, plauderte sie weiter.»Und wie ähnlich du deiner Mutter bist. Wirklich, als ich dich vorhin in der Halle sah, glaubte ich, du wärest Jennifer.«

«Oh — danke. «Ich war wirklich geschmeichelt. Meine Mutter war eine Schönheit gewesen.

«Aber sag doch — «Sie rührte gedankenverloren in ihrem Tee.»Wie geht es deiner Mutter überhaupt?«

Ich senkte den Kopf. Zwei Monate waren vergangen, aber immer noch war es so schmerzhaft, als wäre es gestern gewesen.»Meine Mutter ist tot.«

«Tot? Oh, das tut mir aber leid!«Schwang da nicht Erleichterung in ihrer Stimme.»Dein Vater und mein Mann waren Brüder. Ich fühlte mich mit ihr immer wie mit einer Schwester verbunden. Wir haben viele vergnügte Stunden zusammen verlebt, deine Mutter und ich.«

Ich sah diese redselige Frau erstaunt an. Niemals, so weit ich zurückdenken konnte, hatte meine Mutter Anna Pemberton erwähnt.»Dein Onkel Henry wird sich sehr freuen, wenn er dich sieht. Er und Theo — dein Vetter Theodore — haben dich immer mit einem Spitznamen gerufen. Erinnerst du dich? Sie nannten dich Bunny, weil du immer herumgehüpft bist wie ein kleines Häschen. Damals warst du fünf Jahre alt, Leyla. Ja, es ist lange her.«