Henry schien sich völlig in eine eigene Welt zurückzuziehen. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Laudanum er genommen hatte und warum, aber ich wußte, daß es ein sehr starkes Schmerz-und Betäubungsmittel war.

Ich bekam eine Erklärung, als er stöhnend die Hand an die Stirn drückte und sagte:»Diesmal ist es schlimmer als je zuvor.«

«Was ist schlimmer, Onkel Henry?«

«Die Kopfschmerzen. Ach, diese Kopfschmerzen. Sie sind zermürbend, Leyla.«

Ich sah Henry leicht beunruhigt an.»Wieviel Laudanum hast du genommen, Onkel?«

Sein Blick glitt an mir vorbei.»Deine Tante Anna hat es mir mit dem Tee gegeben. Aber diesmal brauche ich mehr. Dieser gräßliche Wind bläst durch alle Ritzen. Daher kommen die Kopfschmerzen.«

«Hat mein Vater auch Kopfschmerzen gehabt, Onkel?«

«Wie? Oh, ich muß gehen. Mutter erwartet, daß ich noch einmal nach ihr sehe, ehe sie zur Ruhe geht.«

«Großmutter kann ruhig einen Moment warten — «Er lachte laut und gequält.»Wie wenig du weißt, Bunny. Niemand läßt Abigail Pemberton warten. «Unsicher stand er auf und legte mir eine Hand auf die Schulter.»Geh nach London zurück, Leyla, solange du kannst.«

«Das werde ich nicht tun, Onkel. Jedenfalls jetzt nicht. «Während er leicht taumelnd neben mir stand, schweiften seine Augen von neuem durch das Zimmer, und ich sah, wie sein

Blick auf meinem Brief an Edward haften blieb.»Du schreibst einen Brief?«

«Nein«, log ich.»Ich habe mir nur ein paar Notizen für mein Tagebuch gemacht.«

Henry lachte ein wenig.»Entschuldige, Bunny, aber ich muß jetzt gehen. Mir zerspringt der Kopf. Wir können uns morgen weiter unterhalten, wenn es dir besser geht.«

«Aber es geht mir gut.«

«Würdest du mich zur Tür bringen? Ich bin ein bißchen unsicher auf den Beinen.«

Ich mußte ihn führen wie einen Betrunkenen. Offenbar hatte er seinen Tee mit dem Laudanum unmittelbar ehe er zu mir gekommen war, getrunken; jetzt erst schien sich seine Wirkung zu entfalten. An der Tür blieb er stehen.»Schlaf gut, Bunny.«

«Gute Nacht, Onkel Henry. «Ich küßte ihn auf die Wange, aber er schien es gar nicht zu bemerken. Während ich ihm nachblickte, wie er torkelnd durch den dämmrig erleuchteten Flur zu seinem eigenen Zimmer ging, überkam mich eine Welle der Verzweiflung. Henry war wahrhaftig eine tragische Gestalt. Er war ein schwacher Mensch, von dem ich keine Unterstützung zu erwarten hatte.

Zurück in meinem Zimmer lehnte ich mich mit schwerem Herzen an die Tür und fragte mich, wie ich das, was auf mich zukam, aushalten sollte. Meine Großmutter hatte mich zurückgestoßen. Henry hatte mich enttäuscht. Martha war mir böse, und auf Colin war kein Verlaß. Wer blieb da noch? Anna? Nein, sie würde sich dem Willen meiner Großmutter noch eher beugen als ihr Mann. Theo? Der würde sich auf die Seite seiner Eltern stellen. Wer dann?

Wie in Trance bewegte ich mich im Zimmer, sah in die verlöschende Glut im Kamin und ging zum Fenster. Ich kam mir vor wie in einem Käfig, wie eine Gefangene, die aus einer

Welt, die sie nicht verstehen kann, in eine Welt des gesunden Menschenverstands hinausblickt. Wieviel vernünftiger wäre es für mich gewesen, nach London zurückzukehren und meinen Platz an Edwards Seite einzunehmen. Aber Liebe, Haß und Schmerz kennen keine Vernunft.

Wenn ich Edward dazu bewegen könnte, hierher zu kommen, würde ich den Kampf nicht allein zu führen brauchen. Aber bis dahin mußte ich jemanden haben, mit dem ich sprechen konnte, der mir meine Fragen beantwortete.

Da fiel mir Gertrude ein, die Haushälterin. Ihr Gesicht an dem Abend, als sie mich das erstemal gesehen hatte, stand deutlich vor meinen Augen. Ihren Ausdruck wußte ich jedoch nicht zu deuten. War es Schrecken gewesen? Furcht? Oder nur Überraschung? Wie betrachtete sie meine Heimkehr? Ich konnte mir vorstellen, daß Gertrude in meiner Kindheit eine wichtige Rolle für mich gespielt hatte; vielleicht hatte sie gelegentlich das Kindermädchen vertreten. Wenn das zutraf, dann dachte sie vielleicht mit Wehmut an jene Zeit zurück, dann war sie vielleicht bereit, mir Auskunft zu geben.

Doch das mußte heimlich geschehen, das war wichtig. Der Brief an Edward ging mir jetzt leicht von der Hand. Der Besuch meines Onkels hatte mich in meinem Beschluß bestärkt, die ganze Wahrheit herauszufinden, gleich, um welchen Preis. Ich schrieb einfach das nieder, was ich fühlte und empfand. Während der letzten Worte hoffte ich aus tiefstem Herzen, er würde meine Verzweiflung erkennen und unverzüglich zu mir eilen.

Nachdem ich den Umschlag versiegelt hatte, beschloß ich, ihn am folgenden Morgen von einem der Mädchen nach East Wimsley bringen zu lassen. Von dort aus würde er in zwei Tagen in London sein. Wenn Edward dann gleich aufbrach, konnte ich hoffen, ihn in spätestens sechs Tagen zu sehen.

Erleichtert und ermutigt, machte ich mich bereit zum Schlafengehen. Das Zimmer war kalt und dunkel, aber nicht mehr so fremd wie zuvor. Als ich mich mit Behagen in das weiche Bett sinken ließ, dachte ich mit Unruhe daran, was der folgende Tag bringen würde. Ich war überzeugt, daß im Wäldchen alle Erinnerung wiederkehren würde. Alles würde sich offenbaren. Und ehe ich einschlief, dachte ich, werde ich auch dieses Haus erforschen und nach Erinnerungen aus meiner Kindheit suchen.

Kurz vor Tagesanbruch erwachte ich frisch und ausgeruht, das erstemal, seit ich in diesem Haus war. In aller Eile machte ich Toilette und schlich, während alle noch schliefen, die Treppe hinunter.

Die Hausangestellten saßen bereits in der Küche vor dem großen Herd, in dem schon Feuer brannte. Sie grüßten höflich, als ich eintrat. Ich gab einem Mädchen, das ich schon kannte, den Brief und eine Pfundnote, und betonte nachdrücklich die Dringlichkeit der Besorgung. Ohne ein Wort, aber sichtlich erfreut über das Geld, griff sie hastig nach einem Mantel und eilte davon. Die anderen betrachteten mich stumm, alle noch zu jung, als daß sie vor zwanzig Jahren schon hätten im Haus gewesen sein können.

«Wo ist Gertrude?«fragte ich.

«Noch nicht da, Madam«, antwortete ein Mädchen.»Sie kommt immer erst um sechs, Madam. Soll ich sie ‘raufschicken, Madam?«

«Nein, nein, nicht nötig. Danke.«

Bis zu meinem Gespräch mit Gertrude blieb mir also noch eine Stunde Zeit, und die Familie würde sicher nicht vor sieben aufstehen. Einen besseren Zeitpunkt für die Erforschung des Hauses meiner Kindheit, gab es nicht, zumal ich hellwach und voller Optimismus war. Die Flure waren dunkel und kalt. Die beiden Seitenflügel des Hauses waren verschlossen, da sie nicht mehr bewohnt wurden. Aber ich stellte mir vor, daß es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der die Familie groß gewesen war und häufig Gäste beherbergt hatte, so daß jedes Zimmer genutzt worden war. Jetzt, da nur sieben Menschen hier lebten und Besuch selten war, wurde nur noch der Mittelteil des Hauses bewohnt. Ich stieß auf viele verschlossene Türen, vor allem im zweiten Stockwerk, wo viele Zimmer leerstanden. Während ich über den staubigen Teppich ging und die modrige Luft atmete, bemühte ich mich, mit offenen Sinnen auf alles zu achten, um auch nicht den kleinsten Anstoß zu einer Erinnerung zu übersehen. Aber es kam nichts. Im zweiten Stockwerk, wo wir alle unsere Zimmer hatten, waren zwei lange Flure, die noch nicht so lange unbewohnt zu sein schienen wie die Seitenflügel. Hier und dort war sogar noch Öl in den Lampen. Vorsichtig drehte ich einen Türknauf nach dem anderen, aber die Zimmer waren alle abgeschlossen. Bis auf eines.

Dieser Raum mußte noch bis vor kurzem bewohnt gewesen sein. Der Tisch neben der Tür war noch nicht von Staub bedeckt, die Topfpflanze schien vor kurzem noch gegossen worden zu sein. Langsam schob ich die Tür weiter auf, leuchtete mit der Kerze und sah, daß ich mich in einem Schlafzimmer befand. Ohne die Tür hinter mir zu schließen, trat ich weiter ins Zimmer, bis ich alles erkennen konnte. Der reingefegte Kamin, das Fehlen von Lampen und Kerzen verrieten, daß das Zimmer nicht mehr benutzt wurde. Aber die Möbel standen alle richtig an ihrem Platz. Ich fragte mich, wer in diesem Zimmer gelebt hatte. Als ich näher zum Bett trat, überkam mich plötzlich das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Dieses Zimmer kannte ich, oder hatte es früher einmal gekannt; seine Atmosphäre war angenehm, freundlich. Auf dem Nachttisch lag ein Buch, in Leder gebunden und ohne Titel. Ich stellte die Kerze nieder und schlug es auf.

Es war Sylvia Vauxhalls Tagebuch von 1856. Die Seiten waren in einer schön geschwungenen Schrift beschrieben. Während ich las, was sie diesem Buch anvertraut hatte, stieg ein Strom von Gefühlen in mir auf, von Liebe und Sehnsucht, der mir die Tränen in die Augen trieb. Ich fühlte mich Tante Sylvia plötzlich unglaublich nahe, dieser Frau, an die ich mich nicht erinnern konnte und von der ich doch wußte, daß ich als Kind sehr an ihr gehangen hatte.

Wie traurig, daß es mir nicht vergönnt gewesen war, sie wiederzusehen. Wie wunderbar wäre dieses Wiedersehen geworden! Die anderen hätten mich nicht zu kümmern brauchen, denn Tante Sylvia wäre ja hier gewesen, um mir die Wärme und die Liebe zu geben, die ich ersehnt hatte. Glücklich und traurig zugleich, wischte ich mir eine Träne von der Wange und erstarrte. Mein Blick lag wie gebannt auf den Seiten des Tagebuchs. Mit einem Schlag wurde alle Wehmut von eisigem Entsetzen weggefegt. Die Handschrift auf diesen Blättern, die fein geschwungenen Bögen, diese weiche, flüssige Schrift war nicht die gleiche wie die in Tante Sylvias Brief.

Ich war völlig verwirrt. Das war ihr Tagebuch, aber die Schrift war eine andere. Der Brief an Mutter war in einer festen, energischen Handschrift geschrieben gewesen, mehr kantig, als weich und schwungvoll. Aber in wessen Schrift?

Ich stand da und betrachtete das Tagebuch. Plötzlich hörte ich hinter mir die Tür ins Schloß fallen. Mit einem unterdrückten Aufschrei fuhr ich herum.