«Schluß jetzt, Leyla!«befahl Henry scharf.»Henry!«rief Anna ängstlich.
«Ihr alle hier könnt es kaum erwarten, daß ich abreise. Warum? Ich war gerade fünf Jahre alt, als ich von hier fortging. Ich hatte erwartet, mit offenen Armen empfangen zu werden, daß wir gemeinsam Erinnerungen austauschen und alte Freundschaften wieder auffrischen würden. Aber das ist nicht geschehen. Ihr behandelt mich wie eine Aussätzige. Sagt mir endlich, was vor zwanzig Jahren geschehen ist!«
«Du weckst einfach schlimme Erinnerungen, das ist alles. «Alle Köpfe drehten sich, als Colin ins Speisezimmer trat. Die Hände in den Hosentaschen, stand er da, und blickte mit einem herausfordernd spöttischen Lächeln in die Runde. Er hatte offensichtlich an der Tür gelauscht.
«Und außerdem verdirbst du ihnen den Nachtisch. Schau hin! Keiner hat mehr als einen Bissen gegessen. Durch deine Anwesenheit werden sie an Dinge erinnert, an die sie sich nicht erinnern wollen.«
«Colin — «begann Henry.
«Ist dir aufgefallen, daß es nirgends im Haus ein Familienbild gibt? Ich kann dir sagen, warum. Weil niemand erinnert werden möchte.«
«Woran?«
Colin zuckte die Achseln und gab mir keine Antwort.»Bin ich für den Braten zu spät dran? Na ja, dann esse ich eben die doppelte Portion Nachtisch. Reich’ mir doch mal die Schale her, Schwesterherz. «Lässig setzte er sich und ließ sich von Martha den Nachtisch reichen. Ich konnte es nicht begreifen. Er hatte nichts mit dem Mann gemeinsam, der sich mir am Morgen im Stall gezeigt hatte. Ich mußte an Edward denken, der niemals launisch war, und ich war wütend auf die Sprunghaftigkeit meines Vetters. Er war nicht nur ungezogen, es war ihm auch völlig gleichgültig, wie sein Verhalten auf andere wirkte.»Colin«, sagte Martha leise.»Leyla hat beschlossen, hier zu bleiben. «Er sah nicht auf.»Ach, ja? Gertrude hat den Pudding wieder ohne Mandeln gemacht. Du mußt wirklich einmal mit ihr darüber sprechen, Onkel.«
Henry, Anna und Theo tauschten Blicke, während Martha sich in sich selbst zurückzog. Mir war es mittlerweile gleichgültig geworden, was diese Leute dachten; ich schuldete ihnen nichts, geradeso wie sie glaubten, mir nichts zu schulden. Zornig und verwirrt lief ich aus dem Speisezimmer in den Flur hinaus.
Dunkelheit umgab mich. Wie stumme Wächter standen die hohen Topfpflanzen in ihren Ecken, und die wuchtigen Möbel wirkten bedrohlich und überwältigend. Die gleiche Stimmung, die mich im Gespräch mit meiner Großmutter erfaßt hatte, überkam mich jetzt wieder. Ihr Geist schien überall in diesem Haus zu sein, allmächtig und allwissend. Unschlüssig lief ich in die Bibliothek und sank müde in einen Sessel vor dem Kamin. Nichts ergab einen Sinn. Nichts war so, wie ich es erwartet hatte.
Ich starrte gedankenverloren ins Feuer, als Martha eintrat. Sie setzte sich leise in einen Sessel, ihren bekümmerten Blick auf mich gerichtet. Sie war zwölf gewesen, als ich fortgegangen war; jetzt war sie zweiunddreißig, eine alte Jungfer, keusch und unberührt, als hätte sie den Schleier genommen.
«Ach, Leyla, es tut mir alles so schrecklich leid. «Sie rang die Hände.»Ich wollte, ich könnte dir helfen. Ich kann mir vorstellen, was du jetzt durchmachst.«
Ich hob den Kopf und sah sie an. Von allen Pembertons war Martha mir die liebste, oder vielmehr diejenige, von der ich mich am wenigsten brüskiert fühlte.
«Martha«, sagte ich müde,»warum gibt es hier im Haus keine Porträts der Familie?«
«Großmutter wünscht es nicht. Sie möchte nicht an den Fluch erinnert werden.«
«Ich glaube nicht an den Fluch.«
«Aber es ist wahr, Leyla! Sir John, unser Großvater, stürzte sich vor zehn Jahren im Wahnsinn vom Ostturm. Die Geschichte des Fluchs reicht weit zurück.«
«Wie weit denn? Weißt du das?«
«Hm. «Sie kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn.»Warte mal. Soviel ich weiß, reicht sie Generationen zurück, aber die älteste Geschichte, die mir in Einzelheiten bekannt ist, ist die von Großvaters Bruder Michael. Er hat im Wahnsinn seine Mutter vergiftet und dann sich selbst. Über frühere Vorfahren habe ich nie etwas Genaues gehört.«
«Und wer hat dir die Geschichten erzählt?«
«Großmutter natürlich.«
«Ah, ja. «Mein Blick glitt wieder zum Feuer, und in den Flammen sah ich das Gesicht Abigails, die mit unumschränkter Macht in diesem Haus zu herrschen schien.
«Gibt es eine Familienbibel oder einen Stammbaum, den ich mir einmal ansehen könnte?«
Marthas Blick schweifte über die Borde voller Bücher, die uns umgaben. Es war offensichtlich, daß sie nicht viel las.»Nicht daß ich wüßte.«»Macht nichts. Ich habe viel Zeit. «Ich überlegte einen Moment.»Was kannst du mir über Tante Sylvia erzählen?«
«Tante Sylvia? Oh, sie war sehr alt, wenn auch nicht so alt wie Großmutter. Und sie hat nie geheiratet. Sie zog vor vielen Jahren mit ihrer Schwester hier ins Haus und blieb.«
«Ist sie auch am Wahnsinn zugrunde gegangen?«
«Aber nein. Tante Sylvia war eine Vauxhall, keine Pemberton. Nur die Pembertons haben diese Veranlagung — du, ich, Onkel Henry, Theo. Großmutter und Tante Anna sind keine Pembertons. Sie sind frei davon.«
«Als ich fünf Jahre alt war, Martha«, sagte ich,»wer lebte da in diesem Haus?«
Sie zögerte einen Moment, ehe sie antwortete.»Sir John und Abigail. Dann Tante Sylvia. Onkel Henry, Tante Anna und Theo. Meine Eltern mit Colin und mir. Und deine Eltern und du.«
«Und Thomas.«
«Ach ja, und dein Bruder Thomas.«
«An dem Tag damals waren also vierzehn Menschen hier im Haus. Und heute, zwanzig Jahre später, sind es nur noch sieben.«
«Ja. Aber zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, und einige von ihnen waren alt.«
«Aber nicht deine Eltern.«
Martha blickte auf ihre gefalteten Hände nieder.»Sie kamen bei einem Unfall ums Leben.«
«Martha. «Ich beugte mich vor. Ein wenig Hoffnung hatte ich noch. Wenn ich klug war und vorsichtig genug zu Werke ging, gelang es mir vielleicht, meine Cousine auf meine Seite zu ziehen.»Martha, verzeih mir, daß ich schlimme Erinnerungen ausgrabe, aber ich war zwanzig Jahre fort von hier und weiß so vieles nicht. Bitte, hab’ Geduld mit mir, Martha. Du hast deine Mutter und deinen Vater verloren. Ich habe genau wie du meine Eltern und dazu meinen Bruder verloren. Ich habe den Eindruck — «ich sprach jetzt langsam und bedächtig —»daß der Kreis der Erben ganz beträchtlich eingeschränkt — «
«Leyla!«rief sie und sprang so hastig auf, daß sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte.»Leyla, wie kannst du so etwas sagen!«
«Martha! Bitte!«Ich warf einen Blick zur Tür.
«Wie kannst du so etwas Gemeines sagen? Meine Eltern sind bei einem Unfall umgekommen. Dein Vater hat Selbstmord verübt, und deine Mutter ist in London an einer Krankheit gestorben. Wie kannst du diese Todesfälle mit einem hinterlistigen Plan in Verbindung bringen!«Marthas Stimme wurde immer lauter und schriller. Ich hätte sie eines solchen Ausbruchs nicht für fähig gehalten.
«Was du denkst, ist abscheulich. Wir sind eine harmonische Familie. Du bist doch der Eindringling hier. Du bist die Fremde. Wir hatten dich vergessen bis zu dem Tag, an dem du plötzlich vor der Tür standst. Großmutter hat recht. Wenn es jemand auf das Erbe abgesehen hat, dann bist du es!«
«Das ist nicht wahr, Martha!«Jetzt sprang auch ich auf, versuchte, sie zu beschwichtigen.
«Was du gesagt hast, ist häßlich und gemein, Leyla. Mit dir kann man nicht befreundet sein.«
Als sie zur Tür wollte, faßte ich sie beim Arm. Doch ehe ich etwas sagen konnte, sagte Colin von der Tür her:»Laß sie los, Leyla. Du hast genug angerichtet.«
Ich warf ihm einen zornigen Blick zu.»Klopfst du eigentlich nie an?«
«Ich sagte, du sollst meine Schwester loslassen.«
Martha schob sich zwischen uns hindurch zur Tür hinaus. Ich hörte ihre Schritte auf der Treppe. Wohin wollte sie? Zu Großmutter, um ihr alles zu erzählen?
«Dich geht das überhaupt nichts an«, fauchte ich wütend.»Na hör mal, schöne Cousine. «Er gab der Tür einen Tritt, daß sie zuschlug, und ging langsam zum Kamin.»Alles, was die Pembertons angeht, geht auch mich an. Ich habe dir doch gesagt, daß die Familie eng verbunden ist.«
«Aber, warum — «ich stellte mich trotzig vor ihm auf —»will mir niemand meine Fragen beantworten?«
«Setz dich erst einmal hin.«
Wie ein trotziges Kind ließ ich mich in einen Sessel fallen.»Ist es dir denn so wichtig, dich an die Vergangenheit zu erinnern? Was versprichst du dir davon?«
«Ich weiß es nicht. Aber ich habe das Gefühl, daß ich die Vergangenheit verändern kann. Und die Gegenwart auch.«
«Bist du denn mit der Gegenwart nicht zufrieden?«
«Nein, im Augenblick nicht. Ehe ich hierher kam, hatte ich eine völlig andere Vergangenheit — da glaubte ich, mein Vater und mein Bruder wären an der Cholera gestorben. Aber diese Vergangenheit hat sich jetzt verändert und dadurch auch die Gegenwart.«
«Wieso bist du so sicher, daß dein Vater unschuldig war?«
«Colin, tief in mir steckt eine Erinnerung, die ich nicht fassen kann. Aber ein Schatten, eine Ahnung davon ist mir zu Bewußtsein gekommen und sagt mir, daß das, was ich über den Tag im Wäldchen gehört habe, nicht wahr ist. Auch wenn ich mich nicht erinnern kann, was tatsächlich geschah, habe ich das ganz deutliche Gefühl, daß das, was man mir gesagt hat, nicht die Wahrheit ist. Kannst du das verstehen?«Als ich mein vom Feuer heißes Gesicht hob und ihn anblickte, sah ich wieder den Colin, den ich am Morgen kennengelernt hatte — einen ernsthaften, teilnahmsvollen und starken Mann.
Aber schon entzog sich mir diese Seite seines Wesen wieder, als er mit einem spöttischen Lächeln sagte:»Ein bißchen melodramatisch, findest du nicht?«»Colin! Ich komme mir vor wie in einem Alptraum. Ich weiß genau, daß hier etwas nicht stimmt, und ich muß es herausfinden. Sag, hat Tante Sylvia jemals von mir gesprochen?«
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