«Leyla, es gibt gleich Abendessen«, sagte sie und sah mir dabei forschend ins Gesicht.
Ich vermutete, daß mittlerweile die ganze Familie wußte, was geschehen war; daß Colin mir verraten hatte, worüber zu sprechen man ihnen allen verboten hatte. Und jetzt suchte Martha, teilnahmsvoll, wie sie war, in meinem Gesicht nach Zeichen von Schmerz und Niedergeschlagenheit.
«Leyla. «Sie trat mit ausgestreckten Armen auf mich zu.»Es tut mir in der Seele leid, daß du die Wahrheit erfahren mußtest. Ich hatte gehofft — wir alle hatten gehofft, daß wenigstens ein Mitglied unserer Familie ein normales und glückliches Leben führen könnte, ohne die Belastung des drohenden Wahnsinns. Er wird mir so wenig erspart bleiben wie dir, Leyla, denn unsere Väter waren ja Brüder. Ach, es tut mir leid. Wenn Colin nur nicht so ein — «
«Nein, Martha, ihm ist kein Vorwurf zu machen. Ich habe ihn beinahe gezwungen, es mir zu sagen. Ich spürte von Anfang an, daß ihr mir alle etwas verbergen wolltet. Früher oder später hätte ich es auf jeden Fall erfahren.«
«Und jetzt, wo du es weißt — «sie drückte mir die Hände —»gehst du doch fort, nicht wahr? Damit du noch etwas von deinem Leben hast. «Ich sah sie verständnislos an.
Beim Essen fehlte nur Colin. Keiner gab eine Erklärung für seine Abwesenheit, und ich fragte auch nicht danach. Die Stimmung war gedrückt. Ich vermutete, daß Großmutter die Schuld daran trug. Die Tatsache, daß ich jetzt wußte, was sie mir alle hatten verheimlichen wollen, war kein Grund zu solcher Gedrücktheit. Auch wenn es ihnen aus Rücksicht auf mich lieber gewesen wäre, daß ich die Wahrheit über den Tod meines Vaters nie erfahren hätte, war doch noch lange kein Anlaß zu wortkarger Düsternis.
Es sei denn, ich wußte immer noch nicht alles.
Der Hammelbraten war köstlich, die Soße fein abgeschmeckt, die Kartoffeln gerade richtig gekocht. Aber obwohl alles bestens geraten war, blieb die Stimmung trübe.
Anna saß mit verschlossener Miene vor ihrem Teller und mied geflissentlich meinen Blick. Mechanisch führte sie ihre Gabel zum Mund. Henry schien innerlich mit irgend etwas stark beschäftigt und aß fast nichts. Martha war lieb wie immer, warf mir teilnahmsvolle Blicke zu und bemühte sich, auf meine Gefühle Rücksicht zu nehmen. Theo hingegen, dem das Essen offensichtlich genauso schmeckte wie mir, schien mehrmals nahe daran zu sein, etwas zu sagen; aber jedesmal vermied er es doch und begnügte sich damit, mich fragend anzusehen. Ich wußte, was sie alle dachten, und ich war bereit, ihnen zu antworten:
Für mich stand fest, daß ich bleiben würde. Als ich vor zwei Tagen nach Pemberton Hurst gekommen war, hatte ich vor allem eine Familie gesucht; mein Bedürfnis, die Jahre meiner Kindheit wiederzufinden, war zweitrangig gewesen. Im Lauf dieser wenigen Tage jedoch waren Dinge geschehen, die meine Bedürfnisse verändert hatten. Meine Vergangenheit war mir wichtig geworden; der Drang zu wissen, was sich damals in meiner Kindheit abgespielt hatte, wurde immer stärker. Ich erinnerte mich an Colins Worte, als wir an diesem Morgen den Stall verlassen hatten.»Geh fort von hier, Leyla. Geh zurück nach London und vergiß uns. «Und ich erinnerte mich auch meiner Reaktion auf diese Worte — ein zwingendes Gefühl, bleiben zu müssen. Die folgenden Stunden innerer Auseinandersetzung mit dem, was ich von Colin erfahren hatte, und das Gespräch mit meiner Großmutter hatten mich zu der Überzeugung gebracht — die nicht zu erklären war, die vielleicht auf einer verschütteten Erinnerung beruhte —, daß mein Vater unschuldig war.
Ich konnte den Ursprung dieses Gefühls nicht erklären, ich konnte es nicht in Worte fassen, doch es war so stark, daß ich nicht anders konnte, als mich nun in all meinem Handeln von ihm leiten zu lassen. Die Aura der Hoffnungslosigkeit, die ich von Anfang an bei Henry wahrgenommen hatte, war, wie ich nun wußte, nicht meiner Phantasie entsprungen, sondern hatte ihre Grundlage in seiner Überzeugung, zum Wahnsinn verdammt zu sein. Warum sollte da jetzt mein inneres Gefühl, daß mein Vater unschuldig war an den Verbrechen, die ihm zur Last gelegt wurden, nicht auch seinen Ursprung in einer vergessenen Wahrheit haben?
Aufgrund dieser Überzeugung, daß mein Vater nicht getan haben konnte, was alle von ihm behaupteten, stand für mich fest, daß ich in Pemberton Hurst bleiben mußte, bis ich mich an jenen letzten Tag klar und deutlich erinnern konnte.
So würde die Antwort auf die Fragen lauten, die, wie ich wußte, meine Verwandten beschäftigten: Ich glaubte nicht an die Schuld meines Vaters; ich wollte die Wahrheit in der Erinnerung suchen. Sollte ich mich tatsächlich plötzlich erinnern, was ich an jenem Tag im Wäldchen beobachtet hatte, so bedeutete das auch, daß ich mich auch des wahren Mörders erinnern würde. Wenn der Mörder einer jener Menschen war, die in diesem Augenblick mit mir beim Abendessen saßen, dann war ihre gedrückte und düstere Stimmung verständlich. Sie wollten nicht, daß ich mich erinnerte; sie wollten jemanden schützen.
Als das Dessert aufgetragen wurde, eröffnete Henry das Gespräch. Wie in den vergangenen zwei Tagen versuchte ich mir vorzustellen, es sei mein Vater, dem ich zuhörte. Wie stets sprach Anna nur über Belanglosigkeiten, um, wie ich wußte, ihre wahren Empfindungen und Gedanken zu verschleiern. Wie stets hielt Martha sich aus dem Gespräch heraus, als hätte sie nichts im Sinn als ihre Stickerei.
«Sag mal, Leyla«, wandte sich Theo in bemühtem Konversationston an mich,»ist es auf den Straßen in London jetzt eigentlich ruhiger, seit man das Steinpflaster durch Holz ersetzt hat?«
«Das Experiment ist völlig fehlgeschlagen, Theo. Es stellte sich nämlich heraus, daß das Holz bei Regen so glitschig ist, daß man ständig Gefahr läuft auszurutschen. London wird wohl immer laut bleiben; für dich sicher ein Grund mehr, es nicht zu besuchen.«
«Ach, daran liegt es weniger. Wir Pembertons sind nun mal keine reiselustige Familie. «Das gleiche hatte er mir schon einmal erzählt. Die Pembertons seien seßhafte Leute, denen am Reisen nichts läge, hatte er gesagt. Aber warum reisten sie nicht?
«Aber es entgeht einem doch vieles, wenn man immer nur zu Hause sitzt«, meinte ich.
«Wir haben hier auf Pemberton Hurst alles, was wir brauchen«, warf Henry ein.»Wir brauchen die große Welt nicht, um uns zu unterhalten.«
Sonderbare Leute, meine Verwandten. Sie waren ja richtig stolz auf ihre Unbeweglichkeit und Zurückgezogenheit. Sie kamen mir vor wie eine eingeschworene kleine Gemeinschaft, die sich hinter ihren eigenen Mauern verschanzte, um niemanden sehen zu müssen und nicht gesehen zu werden.
Als ich auf Henrys Einwurf nichts erwiderte, fragte Anna, ohne mich dabei anzusehen:»Wann wirst du denn nun abreisen?«
«Tante Anna!«rief Martha.»Das ist aber wirklich nicht nett.«
«Ja, Leyla«, schloß Theo sich den Worten seiner Mutter an,»wie sehen deine Pläne aus, jetzt, da du alles weißt?«
«Jetzt, da ich was weiß?«Dies war die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte.
«Nun, du wirst doch jetzt sicher von hier fort wollen, seit du erfahren hast, woran du dich nicht mehr erinnern konntest«, sagte Martha. Ich sah sie an. Auch sie wünschte meine Abreise.»Du meinst, die Sache mit meinem Vater?«Sie nickte.
«Ja, ich würde vielleicht schon morgen von hier abreisen, wenn ich die Geschichte glauben würde. Aber ich glaube sie nicht. Darum habe ich beschlossen, so lange zu bleiben, bis ich mich in aller Einzelheit erinnern kann, was damals vorgefallen ist.«
«Wie meinst du denn das?«Anna drückte wieder einmal dramatisch ihre Hand aufs Herz.»Willst du behaupten, daß wir lügen?«
«Nein, durchaus nicht. Es ist möglich, daß ihr diesen Tag anders seht, ohne es zu wissen. Aber ich habe das Gefühl, Tante Anna, daß mein Vater nicht getan hat, was ihr alle glaubt. Er ist unschuldig, das fühle ich.«
«Aber das ist doch absurd«, sagte Theo.
«Woher willst du das wissen?«fragte ich heftig. Jetzt verteidigte ich nicht nur meinen Vater, sondern auch meine Mutter und mich.»War denn einer von euch dabei? War denn außer mir einer von euch an dem Tag im Wäldchen und hat den Mord mitangesehen? Nein. Also, wie könnt ihr dann so sicher sein? Als ich hierher kam, hoffte ich, daß die Erinnerungen durch diese Umgebung von selbst wieder in mir geweckt werden würden. Aber das ist jetzt anders geworden. Ich bin nicht mehr bereit, tatenlos darauf zu warten, daß ich hier ein Stückchen und dort ein Stückchen Erinnerung erhasche. Ich werde alles daran setzen, mir die ganze Wahrheit ins Gedächtnis zu rufen. Verstehst du das, Onkel Henry?«
«Du wirst dir selbst wehtun, Bunny. Du wirst dich an ein grauenvolles Ereignis erinnern, und die Bilder werden dich bis ans Ende deiner Tage verfolgen. Erspare dir das, Leyla.«
«Aber da doch sowieso der Fluch der Pembertons auf mir lastet, dem wir alle preisgegeben sind, werde ich diese zusätzliche Bürde wohl auch noch ertragen können.«
Henry verstand nicht, was ich meinte. Er beugte sich weit über den Tisch und sagte flehentlich:»Laß es ruhen, Bunny.«
«Ich kann es nicht ruhen lassen. Versteht ihr das denn nicht? Ich glaube nicht, daß mein Vater ein Mörder war. Ich glaube nicht, daß meine Mutter wegen böser Erinnerungen Hals über Kopf von hier geflohen ist. Ich glaube, sie hat mich fortgebracht, um mich vor etwas oder jemandem zu schützen.
Im übrigen glaube ich auch nicht an den Pemberton Fluch. Wir befinden uns im Jahr 1857, in einer Zeit der Aufklärung und des wissenschaftlichen Fortschritts. Gespenster und Verwünschungen gibt es nicht.«
«Aber es war doch der Fluch, der auf dieser Familie lastet, der deinen Vater zu seiner Tat getrieben hat.«
«So ein Unsinn!«Ich sprang zornig auf.»Meiner Meinung nach ist der Fluch nur eine Erfindung, eine Phantasterei, die sich jemand ausgedacht hat, um meinem Vater alle Schuld zuzuschieben und den wahren Mörder zu decken.«
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