«Sicher. Aber vielleicht verlor ich auch das Gedächtnis, weil ich fürchtete, daß noch etwas geschehen würde. Und daß es mir geschehen würde.«

Ihre Unterlippe bebte.»Wenn du deinen Vater sterben sahst, konntest du nicht fürchten, daß er auch dich töten würde.«

«Das ist richtig. Es sei denn, daß gar nicht mein Vater tötete sondern jemand anderer. «Nun war er ausgesprochen, der quälende Gedanke, der sich langsam in mir verdichtet hatte. Er hatte keinerlei wirkliche Grundlage, aber ich hatte ihn aussprechen müssen, um sie wissen zu lassen, was mich beschäftigte.

Mir klopfte das Herz.»Vielleicht sah das kleine Mädchen, das verborgen im Gebüsch stand, wie eine dritte Person ins Wäldchen kam und den Vater und den Bruder tötete. Das würde zweifellos ausreichen, um ein Kind mit solcher Angst zu erfüllen, daß es vergißt, was es gesehen hat. Wäre das möglich?«

Meine Großmutter war zornig.»Eine sinnlose Frage, Leyla. Wir wissen, daß dein Vater die Tat beging. Er war krank, geistig verwirrt — «»Ja, ich weiß. Der Wahnsinn der Pembertons.«

Sie starrte mich an.»Wer hat dir das erzählt? Und wer hat dir gesagt, daß du an dem Tag dabei warst? War es Colin?«

«Ich verstehe nicht, warum in diesem Haus um die Wahrheit ein solches Geheimnis gemacht wird, Großmutter. Du warst offensichtlich bis gestern völlig sicher, daß ich vom Verlauf meines letzten Tages hier nichts mehr wußte. Und dir lag offenbar daran, daß ich die Wahrheit nie erfahren sollte.«

«Das ist eine Unterstellung!«

«Warum wolltest du mir die Wahrheit über jenen Tag verschweigen? Zwanzig Jahre sind seit diesen schrecklichen Geschehnissen vergangen. So schmerzlich kann es heute doch nicht sein, darüber zu sprechen. Fürchtest du, ich könnte mich an etwas erinnern? Fürchtest du, daß ich mich jetzt, da Colin mir die Geschichte erzählt hat, plötzlich an alles erinnern werde? Daß ich vielleicht vor mir sehen werde, was ich damals gesehen habe?«

«Das ist ja lächerlich! Warum sollte ich das fürchten?«

«Nur aus einem Grund: Weil eine dritte Person da war — «

«Niemand war da!«Ihre Stimme war schrill.»Es war dein Vater. Der Wahnsinn hatte ihn gepackt, der Fluch, der auf allen Pembertons lastet. Keiner entgeht ihm, Leyla. Auch dein Vater konnte ihm nicht entrinnen.«

Ich meinte mich undeutlich zu erinnern, doch das Bild wurde nicht greifbar — es hatte jedoch mit den Händen meiner Großmutter zu tun.»Ich rate dir, dieses Haus zu verlassen. Am besten sofort. Du hast hier nichts zu erwarten. Wenn du Geld haben willst — «

«Ich will kein Geld.«

«Dann geh zurück zu deinem Architekten.«

«Du bist erstaunlich gut unterrichtet, Großmutter. Es würde mich interessieren, wer es ist, der dir die letzten Neuigkeiten zuträgt. Ist es Onkel Henry? Tante Anna? Theodore? Oder Martha?«

«Du bist unverschämt, Leyla. Ich will, daß du gehst. Du bist deiner Mutter zu ähnlich; ausgesprochen ermüdend. Und du bist auch deinem Vater ähnlich. Deine Augen, dein Kinn.«

«Willst du mich vor dem Wahnsinn warnen, Großmutter? Die Frage, ob ich an Kopfschmerzen leide, war doch nicht müßiges Interesse, oder? Fängt die Krankheit so an?«

«Das wirst du schon noch merken, genau wie die anderen vor dir. «Wieder blickten wir einander in stummem Kampf an. Wie sehr mich dieses Gespräch erschüttert hatte; wie niederschmetternd es war, feststellen zu müssen, daß meine eigene Großmutter nicht willens war, mich mit der Herzlichkeit und Wärme aufzunehmen, die ich so verzweifelt ersehnte. Tiefe Traurigkeit erfaßte mich. Die Frau, die hier vor mir saß, war die Mutter meines Vaters; sie hatte ihn geboren, sie hatte seine Kinderjahre mit ihrer mütterlichen Fürsorge begleitet, sie hatte zugesehen, wie er zu einem stattlichen Mann heranwuchs. Und sie hatte auch mich von meiner Geburt an gekannt, mich vielleicht liebevoll in ihren Armen getragen. So gern wäre ich zwanzig Jahre zurückgegangen, wieder zum Kind geworden, um die Liebe und Geborgenheit einer Familie genießen zu können.

Aber das war vorbei. Was immer auch in den vergangenen Jahren geschehen war — seit jenem verhängnisvollen Tag —, ich war hier nicht willkommen.

«Ich glaube nicht an diesen Fluch«, sagte ich,»und es wundert mich sehr, daß du daran glaubst. Wenn du soviel über mich weißt, Großmutter, und erkennen kannst, wie sehr ich meiner Mutter ähnele, dann mußt du auch wissen, daß ich eine eigensinnige und hartnäckige Person bin und dieses Haus erst dann verlassen werde, wenn ich gefunden habe, was ich suche.«

Ich sagte das alles sehr ruhig, doch meine Worte trafen. Die harten schwarzen Augen funkelten mich zornig an.

«Ich sehe schon, du bist starrköpfig. Da du eine Pemberton bist, kann ich dir den Aufenthalt in diesem Haus nicht verbieten. Es ist allerdings fraglich, ob du das, was du hier in deiner blinden Entschlossenheit suchst, auch finden wirst. Ich kann dich nur warnen, Leyla. «Ihre Stimme wurde laut und beschwörend.»Vergiß nicht, daß auch du das Erbe der Pembertons in dir trägst. Ich rate dir, dieses Haus unverzüglich zu verlassen, am besten noch heute, und deinen Architekten zu heiraten, solange dir noch Zeit bleibt, dein Glück an seiner Seite zu genießen. Aber ich weiß, daß du nicht auf mich hören wirst. Darum werde ich fürs erste — «

«Darum wirst du den anderen verbieten, mit mir über die Vergangenheit zu sprechen, Großmutter.«

«Du hast offensichtlich eine blühende Phantasie, Leyla. «Sie neigte sich zur silbernen Schale und nahm eines der Biskuits. Ein Bild ihrer Hände schoß mir blitzartig durch den Kopf. Sie sahen anders aus als in diesem Moment, nicht so knochig, aber ich wußte, daß es ihre Hände waren. Und an der einen Hand leuchtete ein Ring — ein Ring mit einem roten Stein.»Es ist ungezogen, den Tee, den einem die Gastgeberin anbietet, stehenzulassen.«

Das flüchtige Bild erlosch. Ich sah zu meiner Tasse hinunter. Ich hätte den kostbaren importierten Tee gern gekostet, aber ich hatte keinen Stuhl und mochte im Stehen nicht trinken. Ich durchschaute das Spiel meiner Großmutter und war nicht bereit, mich von ihr beeinflussen zu lassen.»Ich habe heute schon sehr viel Tee getrunken, Großmutter, und ich bin müde. Ich ziehe es vor, jetzt wieder in mein Zimmer zu gehen.«

«Es ist gleichermaßen ungezogen zu gehen, ohne vorher um Erlaubnis gebeten zu haben. Mir scheint, deine Erziehung war sehr mangelhaft.«

«Das wird wohl darauf zurückzuführen sein, daß meine Mutter von morgens bis abends hart arbeiten mußte, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen.«

Damit drehte ich mich um und ging zur Tür. Als ich die Hand schon auf dem Knauf hatte, hielt ihre Stimme mich zurück.

«Du bist ein ungezogenes, junges Ding, Leyla, und von einer unverzeihlichen Unverschämtheit. Wenn du länger hier bleiben willst, wirst du deine Manieren ändern müssen.«

Ich ging hinaus und zog die Tür hinter mir zu. In meinen Augen brannten Tränen. Am liebsten hätte ich laut geweint wie ein kleines Kind. Das, was ich gesucht hatte, Liebe und Wärme, würde ich bei dieser unbeugsamen alten Frau niemals bekommen.

So schnell wie möglich, um nur ja keinem der anderen zu begegnen, lief ich in mein Zimmer und schob den Riegel vor. Aber so warm und behaglich es war, es war nicht mein Zimmer. In diesem fürstlichen alten Gemach fand ich keinen Trost.

Rastlos lief ich hin und her. Das Gespräch mit meiner Großmutter war niederschmetternd verlaufen. Es war mir so wichtig gewesen, von ihr angenommen zu werden, aber darauf konnte ich jetzt nicht mehr hoffen. Ich hatte mich dazu hinreißen lassen, ihr Zorn und Verachtung zu zeigen, das würde sie mir niemals verzeihen. Und mit der Hoffnung, ihre Zuneigung zu erwerben, war auch alle Hoffnung dahin, den anderen in diesem Haus nahezukommen. Ich war nun ganz allein.

Kapitel 6

Nach endlosen Wanderungen durch mein Zimmer setzte ich mich müde und mutlos ans Fenster und starrte hinaus zu den sturmgeschüttelten Bäumen. Tausend Fragen bedrängten mich. Diese erste Begegnung mit meiner Großmutter hatte mich tief erschüttert. Warum wollte sie mich unbedingt von hier fortschicken? Von wem war sie, die kaum je ihr Zimmer verließ, so eingehend über mich und alles, was vorgefallen war, unterrichtet worden? Colin konnte nicht ihr Vertrauter sein; meine Bemerkung über mein Gespräch mit ihm hatte sie überrascht.

Selbst jetzt konnte ich das, was er mir im Stall erzählt hatte, kaum glauben. War ich wirklich im Wäldchen gewesen an jenem schrecklichen Tag und hatte die Geschehnisse mit angesehen? Und wie war ich plötzlich auf diesen Gedanken gekommen, es könnte noch eine dritte Person im Wäldchen gewesen sein? War er völlig aus der Luft gegriffen oder hatte er seinen Ursprung in einer Erinnerung, die ich nicht mehr fassen konnte? Glaubte ich selbst überhaupt an diese Möglichkeit? Was war an der Behauptung, daß die Pembertons verflucht seien, jeder von ihnen zum Wahnsinn verdammt? Gab es eine Grundlage für dieses Schauermärchen?

Während ich über dies nachdachte, stellten sich noch weitere Fragen: Warum hatte Sylvia Pemberton, meine Tante, als einzige dieser Familie meine Rückkehr gewünscht? Was hatte sie veranlaßt, den Brief zu schreiben, der mich hierher geführt hatte? Aus welchem Grund hatte sie meiner Mutter geschrieben, ohne die anderen einzuweihen? Es war ein Rätsel, für das ich keine Lösung finden konnte. Nichts ergab einen Sinn.

Um mich zu trösten, dachte ich an Edward, an unsere Spaziergänge im Cremorne Park mit seinen romantischen Fußwegen, die vom Duft der blühenden Akazien erfüllt waren. Ich liebte Edward sehr. Er war so zuverlässig und aufmerksam, ein Mann, auf den jede Frau stolz gewesen wäre. Schon im nächsten Frühjahr würde ich seine Frau sein, und dann konnte ich Pemberton Hurst auf immer vergessen. Meine Gedanken wechselten zu Colin, meinem Vetter, der die Manieren eines Stallknechts hatte und niemals auf die Gefühle anderer Rücksicht nahm. Wie kam es, fragte ich mich, daß er nicht verheiratet war? Ein Klopfen an meiner Zimmertür riß mich aus meinen Gedanken. Martha trat ins Zimmer. An sie konnte ich mich immer klarer erinnern: Sie war ein stilles Mädchen gewesen, das einfache kleine Weisen auf dem Klavier gespielt und stundenlang über ihren Handarbeiten gesessen hatte. Sie hatte wie ich die dichten dunklen Wimpern der Pembertons, die etwas zu große Nase, das kleine Grübchen am Kinn. Eine hübsche Frau, die sich mit Geschmack zu kleiden verstand und viele häusliche Talente besaß. Und wieso war sie nicht verheiratet? fragte ich mich.