Ich erstarrte.

«Ja, es war noch jemand da, der, in den Bäumen versteckt, das schreckliche Verbrechen mit ansah. Du, Leyla, du hast gesehen, wie dein Vater erst Thomas tötete und dann sich selbst.«

Kapitel 5

Ich wandte mich von Colin ab und schlug die Hände vor mein Gesicht.»Wir drei fanden dich dort«, fuhr er fort.»Du standest mit völlig verwirrtem Gesicht vor den beiden Toten. Du hast nicht geweint, du hast überhaupt keinen Laut von dir gegeben. Du hast nur dagestanden und die beiden Toten mit starrem Blick angesehen. Onkel Henry nahm dich auf den Arm und trug dich zum Haus, während ich nach East Wimsley ritt, um den Arzt zu holen. Theo suchte deine Mutter und fand sie im Garten. Er holte sie ins Haus, damit man ihr sagen konnte, was geschehen war. «Colin legte mir wieder die Hände auf die Schultern, aber diesmal sachte und behutsam.»Du hast an dem Tag und auch am folgenden nicht ein einziges Wort gesprochen, Leyla; du hast nicht eine Träne geweint. Und du hast nichts gegessen. Du hast die ganze Zeit nur wie benommen in deinem Zimmer gesessen. Aber deine Mutter weinte; sie weinte so laut, daß es im ganzen Haus zu hören war. Es war furchtbar. Ich habe nie einen so schrecklichen Tag erlebt.«

«Und weiter?«fragte ich leise.

«Danach seid ihr verschwunden. Am frühen Morgen des dritten Tages hörten wir alle eine Kutsche in der Auffahrt, und später entdeckten wir, daß der Einspänner weg war. Deine Mutter hatte uns verlassen, ohne irgend jemandem etwas zu sagen, und dich hatte sie mitgenommen.«

«Ist uns denn niemand gefolgt?«Er schwieg.

Ich drehte mich mit einer heftigen Bewegung um.»Eine Frau, die vor Schmerz und Kummer außer sich war, und ein fünfjähriges Kind — und keiner ist uns gefolgt?«

«Leyla, bitte hör’ mir zu — «

«Und wir mußten in London in Not auf engstem Raum hausen, meine Mutter nur noch ein Schatten ihrer selbst, und ich ohne Erinnerung, während ihr hier in satter Selbstzufriedenheit und Überfluß weiterlebtet, als gäbe es uns gar nicht. «Meine Stimme war im ganzen Stall zu hören, so außer mir war ich.»Wie konntet ihr nachts überhaupt noch schlafen?«schrie ich.»Ihr Ungeheuer! Ihr gemeinen Ungeheuer!«

Ich trommelte Colin mit geballten Fäusten an die Brust, bis mir die Knie versagten, und ich schluchzend zusammensank. Augenblicklich nahm er mich in die Arme und hielt mich ganz fest, tröstete mich und gab mir endlich die Fürsorge, die ich zwanzig Jahre zuvor so dringend gebraucht hätte. Ich weinte noch einmal um meinen Vater und meinen Bruder und um meine Mutter, die soviel gelitten hatte. Aber diesmal weinte ich auch noch um ein fünfjähriges kleines Mädchen, das die Tragödie nur hatte überleben können, indem ihm alle Erinnerung daran verlorenging.

Lange standen wir so, Colin und ich, und das Revers seines Jacketts war bald völlig durchnäßt. Als die Tränen nachließen, schluchzte ich immer wieder:»Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich nicht erinnern.«

«Sei dankbar dafür, Leyla«, sagte Colin leise.»Es ist gut, daß du dich nicht erinnerst.«

Bei diesen Worten löste ich mich von ihm, trat einen Schritt zurück und sah ihm mißtrauisch ins Gesicht. In seinen Augen waren Traurigkeit und Schmerz, aber ich glaubte auch noch etwas anderes zu sehen. Es war nur sehr vage, kaum wahrnehmbar.

«Du hast mir immer noch nicht alles gesagt.«

Er wich meinem Blick aus.»Ich habe nichts weggelassen.«

«Lüge mich nicht an, Colin. Das verdiene ich nicht. Das Schreckliche, was hier geschehen ist, geht mich mehr an, als jeden von euch. Ich habe ein Recht auf die ganze Wahrheit, Colin.«

Als er mich wieder ansah, wußte ich, daß er mir nun alles sagen würde.

Und wenn es noch so schmerzlich war, ich mußte es wissen.

«Die ganze Wahrheit«, sagte Colin bedrückt,»betrifft deinen Vater.

Oder, genauer gesagt, die Familie Pemberton. Komm, Leyla, setzen wir uns.«

Er führte mich zu einer Holzbank, wischte sie ab, und dann setzten wir uns. Der Geruch nach Heu und Leder, das leise Schnauben der Pferde, das dämmrige Licht, gab dem Ort etwas Unwirkliches, so, als wären wir weit weit weg, von allen anderen getrennt.

Leise und monoton drang seine Stimme an mein Ohr, und während er sprach, stiegen Bilder vor meinen Augen auf.»Was du an jenem Tag gesehen hast und heute nicht mehr erinnerst, war etwas, das sich schon früher hier ereignet hat. Wir Pembertons sind mit einem schrecklichen Erbe belastet. Wir tragen alle den Keim einer Krankheit in uns, die sich in Form von Wahnsinn äußert. Dein Vater litt nicht an irgendeinem geheimnisvollen Fieber oder einer plötzlichen und unerklärlichen Krankheit. Er war ein Opfer des Pembertonschen Wahnsinns geworden. Die Geschichten von grausamen Morden und seltsamen Todesfällen reichen Generationen zurück. Einige der Schauermärchen, die man über Pemberton Hurst hört, beruhen auf wahren Ereignissen; sie haben ihren Ursprung in unserer Familiengeschichte, und sie sind der Grund, daß die Einheimischen uns meiden. Wir gelten als verflucht, und mit Recht, Leyla. Denn durch das schreckliche Erbe, das wir in uns tragen, ist jeder Pemberton zu einem Schicksal verdammt, das in seiner Grausamkeit kaum vorstellbar ist.«

Ich sah todmüde zu ihm auf. Ich war so erschöpft und schwach, als hätte ich eine endlos lange Reise hinter mir.»Jeder Pemberton?«fragte ich.

Er nickte.»Jeder und jede. Der Geschichte zufolge, die unser Großvater, Sir John, mir erzählte, ist keinem einzigen der Pembertons hier auf Pemberton Hurst das schreckliche Schicksal erspart geblieben. Alle endeten im Wahnsinn. Wir sind eine Familie, die rettungslos verloren ist. «Rettungslos verloren. Ohne Hoffnung dem Unvermeidlichen ausgeliefert. Das war also die bedrückende Ausstrahlung, die mir von Henry entgegengekommen war. Aufgrund einer undeutlichen Erinnerung aus meiner Kindheit vielleicht, hatte ich beim Anblick meines Onkels gewußt, daß er verloren war, ein Verdammter.»Das ist doch nicht möglich, Colin. Ich kann das nicht glauben.«

«Was glaubst du denn, warum deine Mutter dich von hier fortgebracht hat? Damit du dich nicht daran erinnerst, was du im Wäldchen gesehen hattest? Das auch vielleicht, ja. Aber ich bin überzeugt, daß sie dich von hier fortbrachte, weil sie hoffte, dir damit das Schicksal ersparen zu können, das dich erwartet.«

«Nein, nein, nein«, sagte ich mehrmals.»Das glaube ich nicht.«

«Unser Großvater nahm sich das Leben, indem er sich vom Ostturm stürzte. Sein Bruder Michael vergiftete sich. Und so ist es in der ganzen Familiengeschichte zu verfolgen, Leyla, du kannst zurückgehen so weit du willst. Meinem Vater wurde dieses Schicksal dadurch erspart, daß er bei einem Unfall ums

Leben kam. Sonst wäre er den gleichen Weg gegangen wie alle Pembertons.«

«Ich fühle mich elend, Colin. Bring mich ins Haus zurück. «Schwankend standen wir beide auf. Das, was er befürchtet hatte, daß ich ihm böse sein würde, weil er mir die Wahrheit gesagt hatte, war jetzt eingetreten. Colin hatte mir Schlimmes zugefügt; er hatte mein Leben in einen Alptraum verwandelt, und in diesem Augenblick richtete sich mein ganzer Zorn gegen ihn.

Er schien es zu spüren, vielleicht an meinem veränderten Ton, vielleicht an der Tatsache, daß ich seinen Blick mied; denn er sagte tief bekümmert:»Ich wollte dir das alles nicht erzählen. Ich wußte, daß es dich nur unglücklich machen würde. Aber du wolltest es unbedingt wissen. Du hast darauf bestanden, es zu erfahren. Meine einzige Hoffnung ist jetzt, daß du unverzüglich Pemberton Hurst verläßt, Leyla, zurück nach London gehst, und dort ein neues Leben mit deinem zukünftigen Ehemann anfängst. Vergiß uns. Denk nie wieder an uns.«

Wir traten aus dem Stall in den peitschenden Wind und kehrten schweigend zum Haus zurück. Colin stützte mich, als wir die Treppe hinaufstiegen und ins Haus traten, das still und düster war, wie von dunklen Vorahnungen erfüllt. Als wir vor meiner Zimmertür standen, stieß ich ihn weg, um ihm zu beweisen, daß ich allein stehen konnte, und sagte bitter:»Ich werde Pemberton Hurst niemals verlassen.«

«Aber es macht dich doch nur unglücklich, wenn du bleibst. «Ich schüttelte heftig den Kopf. Ich hätte es nicht erklären oder in Worte fassen können, aber ich wußte tief im Innern, daß ich noch bleiben mußte.

Als er sich zum Gehen wandte, sagte ich:»Du kannst Großmutter ausrichten, daß ich wie verabredet zum Tee zu ihr kommen werde.«

Ich stand in meinem Zimmer vor dem großen Spiegel über dem Toilettentisch und straffte die Schultern wie ein Soldat, der Haltung annimmt. Vor mir lag möglicherweise einer der bedeutsamsten Augenblicke meines Lebens. Großmutter Abigail war offensichtlich eine sehr bedeutende Persönlichkeit, und ich vermutete, daß sie — und nicht Henry — über die Familie und das Vermögen herrschte. Und wenn meine Vermutung richtig war, daß Abigail Pemberton wie eine Königin Pemberton Hurst regierte, dann hatte sie auch die Antworten auf die vielen Fragen, die ich ihr vorzulegen gedachte. Fragen, die meine Vorfahren betrafen, meine eigene Vergangenheit, meine Eltern und meinen Stand innerhalb der Familie. Ehe ich Edward heiratete und meine eigene Familie gründete, mußte ich alles wissen.

Schlimme Stunden hatte ich verbracht, seit ich mich von Colin getrennt hatte; Stunden, in denen ich glaubte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. In weniger als achtundvierzig Stunden hatte sich meine ganze Welt so dramatisch verändert, daß ich Schwierigkeiten hatte, mich innerlich auf diese Veränderungen einzustellen. Die seligen

Kindheitserinnerungen, die ich hier auf Pemberton Hurst zu finden gehofft hatte, hatten sich als grauenhafte Alpträume entpuppt. Aber nun, da ich mich mit dem schrecklichen Wissen auseinandergesetzt hatte, war ich bereit, meiner Großmutter Abigail gegenüberzutreten.