«Ach ja, schneidern wir doch ein paar neue Kleider für dich, Leyla«, rief Martha.»Das würde mir Spaß machen.«

Colin beobachtete mich gespannt. Ich konnte mir ganz gut vorstellen, was er dachte: Die gute Cousine ist in den Schoß der Familie zurückgekehrt, um an ihrem Wohlstand teilzuhaben und ein luxuriöses Leben zu führen.

«Das ist wirklich lieb von dir, Martha, aber wenn ich heirate, lasse ich mir sowieso eine neue Garderobe machen.«

«Ach, natürlich!«Martha wurde noch lebhafter.»Und die Hochzeit findet hier, in Pemberton Hurst, statt.«

«Was?!«rief Henry scharf.

«O nein«, protestierte ich.»Das hatte ich nicht vor. Ich wollte nur eine kleine Feier in der Kirche mit ein paar Freunden — «

«Aber, Leyla! Feiern wir doch hier. Meinst du nicht auch, Tante Anna? Wir haben hier schon seit Ewigkeiten keine

Hochzeit mehr gehabt. Es wäre so schön. Nicht wahr, Onkel Henry?«

«Ich nehme an, Leyla und ihr Verlobter haben bereits ihre eigenen Pläne«, sagte Henry steif. Er sah mich nicht an, während er sprach, und ich hatte den Eindruck, daß er das Thema meiner bevorstehenden Hochzeit am liebsten vermieden hätte.

Das sollte mir nur recht sein. Ich hatte die Absicht, Pemberton Hurst vorher zu verlassen.

«Gehen wir?«Colin stand auf, ohne auf Etikette und guten Ton Rücksicht zu nehmen.

«Also wirklich, Colin!«tadelte Anna.

«Leylas Tasse ist seit zehn Minuten leer, und sie hat sich nicht nachgeschenkt. Das kann nur bedeuten, daß sie mit dem Frühstück fertig ist. Wir haben heute viel vor.«

«Du hast recht, Colin«, sagte ich.»Ich laufe nur hinauf und hole meinen Umhang.«

«Gut. Ich warte hier auf dich.«

Henry und Theo standen auf, als ich aus dem Zimmer ging. Ich eilte rasch die Treppe hinauf, packte Umhang, Hut und Handschuhe und lief schon wieder nach unten. Ich war sehr gespannt auf diesen Rundgang. Aber als ich mich dem Salon näherte, hörte ich erregte Stimmen und blieb stehen.

«Ich werde ihr zeigen, was mir Spaß macht«, sagte Colin hitzig.»Und was sie sehen möchte.«

«Das wirst du nicht tun. «Das war Henrys Stimme. Er schien wütend zu sein.»Du wirst sie nicht dorthin führen, sonst verbiete ich den Rundgang.«

«Leyla hat ihren eigenen Kopf, Onkel«, entgegnete Colin ungerührt.»Über kurz oder lang wird sie allein dorthin gehen. Da ist es doch besser, einer von uns begleitet sie.«

«Aber nicht heute, Colin. Ich verbiete es dir.«

Ich wollte nicht länger lauschen. Ich raffte meine Röcke, rief schon draußen vor der Tür» ich bin fertig «und eilte atemlos in den Salon. Henry und Colin standen sich am Tisch gegenüber wie zwei Kampfhähne.

«Colin?«rief ich, und als er sich umdrehte, sah ich den blitzenden Zorn in seinen Augen. Was konnte das für ein Ort sein, den Henry mich nicht sehen lassen wollte?» Ich bin jetzt fertig.«

«Gut.«

Er schob seinen Stuhl zurück und kam auf mich zu. Nachdem er mir den Umhang abgenommen hatte, warf er einen letzten zornigen Blick in die Runde, dann ging er mit langen Schritten aus dem Zimmer. Ich lief ihm nach und holte ihn im Vorsaal ein.»Ist etwas nicht in Ordnung, Colin?«

Er antwortete mir nicht, hielt mir nur schweigend den Umhang hin, legte ihn mir um die Schultern. Während ich meinen Hut aufsetzte und die Handschuhe überzog, stand er, offenbar tief in Gedanken mit gerunzelter Stirn neben mir und wartete. Als er sah, daß ich fertig war, zog er, immer noch ohne ein Wort, die Haustür auf, bedeutete mir vorauszugehen und ließ die Tür dann krachend hinter uns zufallen. Ein eisiger Wind blies uns ins Gesicht, zerzauste Colins Haar und ergriff meinen Umhang, daß ich Mühe hatte, ihn zu bändigen. Lange standen wir so auf der Treppe, Colin mit finsterem Gesicht, ich geduldig wartend, daß er sich meiner erinnere.

«Wohin wollen wir zuerst gehen?«fragte er unvermittelt.»Hast du einen bestimmten Wunsch?«

«Nein, gar keinen.«

«Dann fangen wir mit den Stallungen an.«

Er ging so schnell, daß ich Mühe hatte, Schritt zu halten. Ich befürchtete, daß diese Besichtigung von Pemberton Hurst bei weitem nicht so angenehm und unterhaltsam werden würde, wie ich geglaubt hatte. Colins Miene blieb grimmig und verschlossen, während wir, gegen den Wind ankämpfend, über den Vorplatz eilten; ihm ging vermutlich immer noch der Streit mit Henry durch den Kopf. Da Henry das Oberhaupt der Familie war, mußte man seinen Anweisungen natürlich Folge leisten, aber ich hatte mehr und mehr den Eindruck, daß Colin nicht bereit war, sich durch Henrys Befehle einschränken zu lassen.

Die Stallgebäude befanden sich links vom Haus, etwas zurückgesetzt. Neben der Remise, zu der eine eigene Zufahrt führte, war der Pferdestall, in dem sich vier Pferde befanden und wo ein Stalljunge wohnte. Nachdem wir die Tür hinter uns zugedrückt hatten, mußte ich erst einmal Atem holen und meinen Hut wieder zurechtrücken, während Colin ziemlich erfolglos sein zu Berge stehendes Haar glattzustreichen suchte.

Es war still im Stall, dämmrig und warm. Ein paar erschrockene Mäuse huschten an unseren Füßen vorüber zu ihren Löchern. Ab und zu schnaubten die Pferde.

«Das ist es«, sagte Colin.»Nicht sehr eindrucksvoll, aber zweckmäßig.«

Ich trat einen Schritt vor, Colin jedoch blieb an der Tür stehen.»Colin«, sagte ich, einer plötzlichen Regung folgend und beobachtete dabei aufmerksam sein Gesicht.»Bitte, geh’ mit mir zum Wäldchen.«

«Zum Wäldchen?«Er zog die Augenbraue hoch.»Wozu denn das?«

«Du hast mir erzählt, daß wir als Kinder dort gespielt haben. Ich möchte es so gern sehen. Vielleicht kommen dann meine Erinnerungen zurück.«

Mir schien, als sei Colin nahe daran, in Gelächter auszubrechen.»Du weißt nicht, was du verlangst.«

«Wieso?«

«Onkel Henry möchte nicht, daß wir dorthin gehen. «Jetzt wußte ich es.»Warum nicht?«fragte ich, den Blick weiterhin unverwandt auf Colin gerichtet.»Mit dem Wind werden wir schon fertigwerden.«

«Es ist nicht der Wind, Leyla. Ich glaube, du weißt, warum er nicht möchte, daß du dorthin gehst.«

«Wegen meines Vaters und meines Bruder, meinst du? Ich weiß, daß ihr euch um mein Wohlergehen sorgt, aber das werde ich schon aushalten.«

Er schüttelte langsam den Kopf.»Du weißt wirklich nicht, warum du besser nicht dorthin gehen solltest?«

«Nein, aber dann erzähle du es mir doch!«

«Das kann ich nicht.«

«Ich habe ein Recht darauf, alles zu wissen.«

Da nahm Colin mich plötzlich bei den Schultern und sah mich mit einem Blick an, bei dem mir selbst in der Wärme des Stalls eiskalt wurde.

«Warum mußtest du zurückkommen, Leyla? Du glaubst, alles zu wissen, aber du weißt gar nichts. Geh wieder fort! Reise noch heute ab — «

«Nein!«

«— kehre zu deinem Architekten zurück. Vergiß die Pembertons. Wir machen dich nur unglücklich.«

«Colin, bitte sag mir, was mir alle verschweigen. Ich spüre es an ihrem Verhalten. Ich weiß, daß ihr, du und Theo, Onkel Henry und Tante Anna, Geheimnisse vor mir habt. Ich möchte die Wahrheit wissen. Ich habe ein Recht darauf.«

«Du hast kein Recht.«

«Ich habe das gleiche Recht wie ihr alle, denn ich bin auch eine Pemberton. Ich bin in diesem Haus geboren. Dein Vater und mein Vater waren Brüder. Ich habe ein Recht darauf, alles zu wissen, was diese Familie betrifft, auch wenn es noch so beschämend oder schändlich ist. Ich habe ein Recht zu wissen. Darum bin ich zurückgekommen. Nicht wegen des Geldes oder schöner Kleider!«

Er musterte mich mit diesem forschenden Blick, der mir nun schon so vertraut war.

«Also gut«, murmelte er.»Ich werde es dir sagen. Aber versprich mir eines, nämlich, daß du, wenn ich dir alles erzählt habe, daß du mich dann nicht dafür verachten und hassen wirst, daß ich es dir gesagt habe!«

«Colin — «

Die Düsternis um uns schien dichter zu werden, und der Wind draußen heulte mit tausend Stimmen. Colin begann mit tonloser Stimme zu sprechen.

«Als deine Mutter vor zwanzig Jahren dieses Haus verließ, tat sie es nicht nur, weil sie den Schmerz nicht ertragen konnte; sie verließ es auch, um dich wegzubringen, um dich von einem Ort zu entfernen, an dem Schlimmes geschehen war, Leyla. Ich kann mir vorstellen, daß du dir Gedanken darüber gemacht hast, warum du dich nicht an die Zeit vor deinem sechsten Geburtstag erinnern kannst; ich weiß den Grund dafür, und die anderen wissen ihn auch. Wir alle teilen die Erinnerung, die für dich nicht erreichbar ist. Ja, es hat mit dem Wäldchen zu tun und mit dem Tod deines Vaters und deines Bruders dort. Aber es hat auch noch mit etwas anderem zu tun.«

Colin holte tief Atem. Seine Hände lagen fest auf meinen Schultern.»Wir waren an dem Tag alle hier in Pemberton Hurst: Sir John und Großmutter Abigail, Großtante Sylvia, mein Vater und meine Mutter, Onkel Henry und Tante Anna, Theo und Martha. Und natürlich du und deine Mutter. Wir waren alle zu Hause. Es — «Er brach ab und sah mir mit tiefem Zweifel ins Gesicht.»Leyla, es fällt mir ungeheuer schwer, die Worte auszusprechen, weil ich weiß, was sie dir antun werden. Wenn du niemals zurückgekommen wärst, hättest du in ruhiger Unwissenheit weiterleben, Edward Champion heiraten können, ohne je nach Pemberton Hurst zurückblicken zu müssen. Aber du bist zurückgekommen, und jetzt muß ich dir die Wahrheit sagen, und dein Leben wird dann nie wieder so sein wie vorher.«

Wieder hielt er inne, um Atem zu schöpfen, und seine Finger gruben sich tiefer in meine Schultern.

«Es geht um deinen Vater und deinen Bruder und die Art, wie sie den Tod gefunden haben. Das, was Theo dir erzählt hat, stimmt alles, aber er hat eine Tatsache weggelassen. Er hat dir nicht gesagt, daß an dem Tag noch jemand im Wäldchen war.«