Das hatte ich ganz vergessen!» Aber einer von euch hat ihr doch sicher gesagt.«
Anna machte sich an ihren weiten Chiffonröcken zu schaffen. Es begann mich zu ärgern, daß sie dauernd auszuweichen versuchte und nicht imstande war, das zu sagen, was sie wirklich beschäftigte.»Großmutter ist der Ansicht, daß einmal getroffene Verabredungen unter allen Umständen eingehalten werden müssen, ganz gleich, was geschieht. Du weißt doch, wie sie ist.«
«Nein, das weiß ich nicht. Erzähl’ mir etwas über sie, bitte. «Anna sprangen fast die Augen aus dem Kopf.»Du erinnerst dich nicht an Großmutter Abigail?«rief sie in einem Ton, als hätte ich ihr soeben erklärt, daß ich Jesus Christus vergessen hatte.»Aber ich dachte, du erinnerst dich an uns alle!«
«Cousine Leyla erinnert sich an weit weniger als sie zuzugeben bereit ist.«
Ich warf Colin einen zornigen Blick zu. Es schien ganz so, als sollte das Versteckspiel weitergehen, als hätte Theos Bericht nichts gelöst. Diesmal kam Martha mir zu Hilfe. Sie trat zu ihrem Bruder und drohte ihm mit dem Zeigefinger wie einem kleinen Jungen.»Du bist ein unverschämter Flegel, Colin. Du siehst doch, daß du Leyla unglücklich machst. Ich mache dir jetzt einen Vorschlag, lieber Bruder: Entweder du bist von jetzt an höflich, oder du verläßt den Raum.«
Mit einem entwaffnenden Lächeln zuckte er wieder die Achseln.»Was kann ich darauf sagen? Verzeih mir, Leyla. Wärst du bereit, mir zum Zeichen deiner Vergebung zu erlauben, dir morgen das Grundstück zu zeigen?«
Ich hatte schon ein scharfes >Nein< auf der Zunge, als ich den Blick auffing, den Anna und Martha wechselten. In beider Augen meinte ich Furcht zu sehen, und genau das veranlaßte mich, Colins Einladung anzunehmen. Colin mochte frech und unverschämt sein, aber er schien mir bisher der einzige Ehrliche in dieser Familie. Und wenn es über meinen Vater und meinen Bruder noch mehr zu erfahren gab, so wollte ich keine Zeit verlieren.
In diesem Augenblick kam Theodore ins Zimmer, wie immer sehr elegant und sehr gepflegt. Er begrüßte zuerst seine Mutter, dann Martha und zuletzt mich und entschuldigte sich für seine Abwesenheit.
«Ich war bei Großmutter. Ihr wißt ja, wie schwierig es ist, sie zu beschwichtigen. Ich denke, das Wetter setzt ihr zu. Der Wind und die plötzliche Kälte. Sie möchte dich morgen zum Tee sehen, Leyla. Ich habe ihr erklärt, warum du heute nicht zu ihr gekommen bist.«»Danke.«
«Bißchen kühl hier, nicht wahr?«
«Ich finde es angenehm«, erwiderte ich, da ich dem Feuer am nächsten saß.
Theo ergriff meine Hand, um die Temperatur festzustellen, und als ich lachend abwehrte, fiel mein Blick auf den großen Rubinring am Mittelfinger seiner rechten Hand. Impulsiv hielt ich die Hand fest.»Dieser Ring«, sagte ich verwirrt.»Was ist mit ihm?«
«Ich — ich. «Die Erinnerung wollte nicht greifbar werden. Ich ließ Theos Hand los.»Ach, nichts wahrscheinlich. Ich hatte den Eindruck, ich kenne ihn von früher. Er erschien mir plötzlich so vertraut, aber das war gleich wieder vorbei.«
«Solche Ringe gibt es viele. «Er hob die Hand nahe vor sein Gesicht und kniff die Augen zusammen.»Der Stein ist nicht lupenrein, glaube ich. In London hast du so etwas sicher schon einmal gesehen.«
«Ja, wahrscheinlich.«
«Der Ring gehörte Großvater«, warf Colin ein.»Und er vererbte ihn an Theo, als er starb.«
«Dann erinnere ich mich vielleicht doch an ihn. Ich habe ihn sicher an Großvaters Hand gesehen, als ich noch ein Kind war. Es ist nur ein Bruchstück einer Erinnerung, aber es bedeutet mir sehr viel. An Menschen und Gesichter kann ich mich überhaupt nicht erinnern; aber bei so kleinen Dingen rührt sich manchmal etwas.«
«Und sonst erinnerst du dich an nichts?«fragte Henry.»Nein«, gestand ich.
«An gar nichts?«Anna starrte mich ungläubig an.»Du erinnerst dich an gar nichts?«
«Für mich ist es, als hatte mein Leben erst mit meinem sechsten Geburtstag angefangen.«»Aber du warst doch so glücklich hier«, sagte Anna mit gepreßter Stimme.
«Sie hat hier aber auch sehr Schlimmes erlebt«, warf Colin ein.»Es ist schon merkwürdig, daß Leyla keinerlei Erinnerungen hat. Was meint ihr, woher das kommt?«
«Viele Menschen haben keine Erinnerungen an ihre frühe Kindheit«, behauptete Henry, der breitbeinig, die Hände auf dem Rücken, vor dem Kamin stand.
Ich sah keinen Grund, es ihnen länger zu verheimlichen.»Das war einer der Gründe, warum ich schließlich hierher gekommen bin — um die Erinnerung an meine frühen Jahre wiederzufinden. Ich glaubte, das Wiedersehen mit euch und dem Haus würde mir dabei helfen.«
«Und hat es geholfen?«fragte Anna beinahe ängstlich.»Nicht sehr. Das Haus ist mir gänzlich unvertraut. Und auch ihr seid mir fremd.«
«Aber an mich hast du dich erinnert.«
«Ja, Martha, als du in die Bibliothek kamst, sah ich dich plötzlich, wie du vor zwanzig Jahren warst.«
«Zwölf Jahre alt und zu groß für mein Alter.«
«Ja, aber du warst damals schon so hübsch wie heute.«
«Und sonst erinnerst du dich an keinen von uns?«fragte Anna. Ich vermied es, Henry anzusehen.»Nein, an keinen. Ab und zu blitzt mal etwas auf. Es ist als ob ein Vorhang sich öffnet und gleich wieder zufällt. Nie wird der Eindruck greifbar.«
«Ich wette, wenn du morgen bei Großmutter bist, wirst du dich an einiges erinnern. Du hattest immer große Angst vor ihr.«
«Wer hat die nicht?«fragte Colin.
Anna neigte sich etwas näher zu mir.»Hast du denn deine Mutter nie nach der Vergangenheit gefragt?«
«Doch, sehr oft sogar, zumindest am Anfang. Aber sie antwortete entweder gar nicht oder nur ausweichend. Nach einer Weile begriff ich, daß ich nicht fragen sollte, und tat es nicht mehr. Ich bin froh, daß ich sie nicht gedrängt habe; es hätte sie nur gezwungen, mir noch mehr Lügen zu erzählen. Sie wollte mich schützen.«
«Und was glaubst du, wovor sie dich schützen wollte?«fragte Colin in herausforderndem Ton. Er fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Zum Glück kam in diesem Moment Gertrude mit dem Tablett ins Zimmer. Anna half ihr, den kleinen Tisch zu decken, der neben meinen Sessel geschoben wurde. In stillschweigender Übereinstimmung zogen die drei Männer sich aus dem Salon zurück; Martha zog eine Stickerei aus ihrem Pompadour und war bald in ihre Arbeit vertieft, während Anna nachdenklich an meiner Seite sitzenblieb.
Es wurde ein ruhiger, friedlicher Abend. Die nagenden Zweifel, die mir immer wieder in den Sinn kamen, unterdrückte ich. Ich hatte nur den Wunsch, wieder zu dieser Familie zu gehören, wie ich offensichtlich früher zu ihr gehört hatte.
Nach meinem Abendessen kehrten die Männer in den Salon zurück, und Martha spielte für uns etwas auf dem Klavier. Ehe wir uns danach alle zurückzogen, erinnerte mich Colin an mein Versprechen, ihn am folgenden Tag bei einem Rundgang über das Grundstück zu begleiten. Ich bedauerte jetzt, zugesagt zu haben, aber mit Henry oder mit Theo, dessen tadellose Wohlerzogenheit sehr abweisend auf mich wirkte, wäre ich auch nicht lieber gegangen.
Ich nahm den Führer durch den Cremorne Park mit zu Bett und gab mich Gedanken an Edward hin. Ich rief mir unsere erste Begegnung ins Gedächtnis, die vielen schönen Stunden, die wir seitdem miteinander verbracht hatten. Edward war ein wunderbarer Mann, ich konnte mich glücklich preisen, daß er mich gewählt hatte. Doch in der Nacht träumte ich von Colin Pemberton.
Als ich am folgenden Morgen erwachte, heulte ein derartiger Wind ums Haus, daß die Bäume unter seiner Gewalt ächzten und seufzten. Beim Frühstück war die ganze Familie versammelt, es herrschte eine Atmosphäre allgemeinen Wohlwollens, die mir guttat und mich dem traurigen Nachdenken über das Schicksal meines Vaters und meines Bruders entriß.
Martha und Anna wollten zusammen mit Henry, der die Fabrik aufsuchen wollte, nach East Wimsley fahren. Sie machten diese Fahrt gewöhnlich zweimal im Monat, um dem Pastor ihre Aufwartung zu machen und ihm Kleider für die Armen zu spenden. In East Wimsley gab es, wie ich ihren Gesprächen entnahm, sehr viel Armut und eine große Arbeitersiedlung.
«Wenn die Pembertons nicht wären«, bemerkte Henry bei Toast und Marmelade,»hätten diese Leute nicht einmal Arbeit. Sie würden wie so viele andere dem allgemeinen Exodus in die Großstädte und die übervölkerten Elendsviertel folgen. Wir müssen dafür sorgen, daß die Bauern auf dem Land bleiben können, dort, wo sie hingehören.«
«Es kommt nur von der Eisenbahn, Vater«, bemerkte Theo, der stets ängstlich darauf bedacht schien, genau das Richtige zu sagen.»Vor der Dampfmaschine konnten die Bauern gar nicht weg. Jetzt können sie jederzeit für einen Penny die Meile mit der ganzen Familie und ihrer Habe gehen, wohin sie wollen. Darum ist es auch in London so schlimm geworden.«
«So schlimm ist es in London gar nicht«, warf ich ein.»Natürlich ist es dort schrecklich laut, immer mehr Menschen drängen in die Stadt. Aber wir haben die besten Krankenhäuser der Welt.«
«Ach, was! Die würden wir gar nicht brauchen, wenn die Städte sauberer wären. «Damit war mein Einwand für Henry erledigt. Es lag auf der Hand, daß die Meinung einer Frau für ihn nicht zählte.»Leyla, mein Kind«, mischte sich Anna ins Gespräch,»hast du denn für dieses schreckliche Wetter auch die richtige Kleidung mitgebracht? Ich denke, du hast etwa Marthas Größe, und ich — «
«Danke, Tante Anna. Ich habe Garderobe genug. Ich habe gelernt, bei Kleidung mehr auf Nützlichkeit als Eleganz zu achten.«
«Man kann beides haben. «Sie betrachtete mein Kleid, und ich sah ihr an, daß sie es recht armselig fand.»Ich komme schon zurecht, vielen Dank.«
Zum erstenmal schaltete sich Colin ein.»Ich glaube, Tante Anna meint, daß du jetzt, da du wieder zur Familie gehörst, du dich auch kleiden solltest wie eine Pemberton.«
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