Er öffnete mir die Tür und begleitete mich durch den Flur. Am Fuß der Treppe wandte ich mich ihm noch einmal zu und sagte:»Ich würde gern allein hinaufgehen, Theo, wenn es dir recht ist.«
«Brauchst du wirklich keine Hilfe?«
Ich lachte ein wenig.»Aber nein. Ich bin es gewöhnt, allein zurechtzukommen. Entschuldige mich bitte bei den anderen, ja?«
Die Stufen glitten unter mir hinweg, als flöge ich aufwärts, ohne sie mit den Füßen zu berühren. Mein Kopf war leer und wie von dicken Schleiern umhüllt. Der Schock dieser Nachricht ging viel tiefer, war viel schmerzhafter als der über Sylvias Tod, denn mit dieser neuen Erkenntnis veränderte sich alles: Pemberton Hurst und meine Familie, meine Mutter, die vergangenen zwanzig Jahre, und letztlich veränderte sie auch mich.
Ich weiß nicht, wie lange ich an jenem Tag auf meinem Bett lag, aber als ich endlich den Kopf hob und zum Fenster schaute, sah ich, daß die schräg einfallenden Strahlen der Sonne schon den rötlichen Schimmer des Abends hatten. Ich hatte mich viele Stunden meinem Schmerz überlassen.
Ich hatte noch einmal um meinen Vater getrauert, der ein Mörder war. Ich hatte die tiefen Ängste und Qualen seiner Seele beweint, die er gelitten haben mußte, um eine solche Tat zu begehen. Ich weinte mir die Augen aus dem Kopf um diesen armen, gequälten Wahnsinnigen und den kleinen Jungen, meinen Bruder Thomas, den er mit sich in den Tod genommen hatte.
Vater, schrie mein Herz, hast du darum das Messer gegen dich selbst gerichtet? Hattest du einen einzigen lichten Moment, in dem du — zu spät — erkanntest, was du getan hattest, und es nicht ertragen konntest? Ich weinte auch um meine Mutter, die zwanzig Jahre lang in Leid und Einsamkeit in London in Armut gelebt hatte, um das Kind, das ihr geblieben war, vor der Vergangenheit und der Gegenwart zu schützen. Nun hatte ich gefunden, was ich hier in Pemberton Hurst gesucht hatte: meine Familie und meine Vergangenheit. Und jetzt wünschte ich, ich wäre nicht gekommen. Was mußte meine Mutter all die Jahre hindurch gelitten haben! Und immer, wenn sie in mein Gesicht gesehen hatte, hatte sie die Gesichter ihres Mannes und ihres Sohnes gesehen. Ach, hätte sie diese grauenvolle Last nur mit mir geteilt! Hätte sie nur mit mir gesprochen, damit ich das Leid mit ihr hätte tragen können. Aber sie hatte mich geschont. Sie hatte als die mutige Frau, die sie gewesen war, die ganze Last allein getragen, um mir Schmerz und Kummer zu ersparen. Und alles vergeblich. Denn nun hatte ich doch erfahren, was sie zwanzig Jahre lang vor mir verborgen hatte.
Draußen wurde es dunkel, und es blies ein grimmiger Wind. Ich spürte, daß ich hungrig war. Ich hatte zehn Stunden in diesem Zimmer verbracht und die Vergangenheit betrauert. Es war an der Zeit, in die Gegenwart zurückzukehren. Schon um meiner Mutter willen, die nicht gewollt hätte, daß ich wie sie mein Leben lang trauerte. Es war fruchtlos und dem Leben hinderlich, bei jenen Dingen zu verweilen, die sich nicht mehr ändern ließen.
Ich trocknete die letzten Tränen, zog mir ein anderes Kleid an, ordnete mein Haar und war gerade dabei, meine geschwollenen Augen mit feuchten Tüchern zu kühlen, als es an meiner Tür zaghaft klopfte. Ich hielt inne und lauschte. Da klopfte es wieder. Als ich zur Tür ging und öffnete, sah ich Martha vor mir stehen.»Darf ich hereinkommen?«fragte sie.»Natürlich. Bitte. Ich wollte gerade hinuntergehen.«
«Wir haben uns Sorgen gemacht, Leyla. Theo erzählte uns, was heute morgen vorgefallen ist. Es tut mir so leid. Es tut uns allen leid. «Sie trat ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich.
«Wenn wir dir gestern abend kühl und reserviert erschienen, dann weißt du jetzt, warum wir uns so verhalten haben. Keiner wollte versehentlich etwas Falsches sagen. Niemand wußte, was deine Mutter dir über deinen Vater und deinen Bruder erzählt hatte. Und es hat sich gezeigt, daß wir richtig gehandelt haben.«
«Das sagte Theo auch.«
Ich setzte mich an den Toilettentisch und drückte mir wieder ein feuchtes Tuch unter die Augen. Im Spiegel sah ich Martha langsam im Zimmer umhergehen. Erst betrachtete sie das Bild meiner Mutter, dann las sie das Etikett auf dem Parfumfläschchen, blieb am Nachttisch stehen und nahm eines nach dem anderen die Bücher zur Hand, die dort lagen. Ich hatte den Eindruck, daß sie angestrengt überlegte, was sie als nächstes sagen sollte.
«Onkel Henry hat mir erzählt, daß du verlobt bist.«
«Ja. «Ich lächelte in den Spiegel.»Und du willst bald heiraten?«
«Im Frühjahr. Aber vorher stelle ich euch Edward bestimmt vor. Er wird euch gefallen. Er ist ein sehr gutaussehender und eleganter Mann.«
«Er ist Architekt, nicht?«
«Ja, einer der besten in London.«
«Du bist zu beneiden, Leyla.«
Ich warf wieder einen Blick in den Spiegel und sah, daß Martha mich beobachtete. Wieder war diese Traurigkeit in ihren Augen, dieses tiefe Mitleid, das ich bei ihr auszulösen schien. Aber nun war es nicht mehr angebracht; nun wußte ich ja die Wahrheit über den Tod meines Vaters, und wenn man die Wahrheit einmal akzeptiert hat, ist sie leicht zu tragen.
«Ist etwas, Martha?«
«Nein, nein«, antwortete sie hastig.»Gar nichts. Ich wollte dir eigentlich nur sagen, daß wir schon zu Abend gegessen haben. Aber Gertrude hat dir etwas aufgehoben. Sie meinte, du würdest hungrig sein.«
«Da hatte sie recht. Wie nett von ihr.«
Ich legte das feuchte Tuch aus der Hand und stand auf. Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte mir, daß ich wieder präsentabel aussah. Abgesehen von der Veränderung, die in meinem Inneren vorgegangen war, war ich noch immer dieselbe Leyla Pemberton, die am Abend zuvor hier angekommen war. Aber jetzt würde alles ganz anders werden. Meine Familie brauchte nicht mehr jedes Wort, das sie mit mir sprach, vorsichtig abzuwägen, brauchte nicht mehr darauf zu achten, daß bestimmte Themen gemieden wurden. Nun konnten wir alle ganz offen miteinander sein. Als wir aus meinem Zimmer traten, stießen wir beinahe mit Henry zusammen.
«Entschuldige«, sagte er.»Ich wollte mich nach deinem Befinden erkundigen. Ich wollte dich nicht erschrecken.«
«Ach, das hast du auch nicht«, behauptete ich, obwohl ich tatsächlich einen Schrecken bekommen hatte, als er plötzlich aus dem Schatten getreten war.
«Geht es dir wieder gut, Leyla?«fragte er besorgt.»Theo sagte uns — «
«Oh, ja, es ist alles gut. «Ich zog die Tür hinter mir zu und drehte mich mit einem beruhigenden Lächeln nach ihm um. Aber als mein Blick auf sein Gesicht fiel, überfiel mich sogleich wieder jenes eigenartige Gefühl, genau wie am Abend zuvor.»Ist dir nicht gut?«
«Doch, doch, ich. «Ich drückte die Hand auf die Stirn, als könnte ich das ungute Gefühl vertreiben. Aber als ich ihn wieder ansah, flog es mich erneut an, stärker als zuvor — eine Ahnung rettungslosen Verlorenseins. Was hatte Henry an sich, daß er ein derartiges Gefühl in mir hervorrief? Regten sich da vielleicht verschüttete Erinnerungen? Es konnte nur so sein, daß ich in ihm meinen unglücklichen Vater sah. Aber nein — ich hatte dieses schreckliche Gefühl ja schon am vergangenen Abend gespürt, als ich die Wahrheit über den Tod meines Vaters noch gar nicht erfahren hatte!» Vielleicht solltest du lieber hier oben bleiben.«
«Nein, Onkel Henry, wirklich — «
«Sie hat seit heute morgen nichts gegessen, Onkel Henry«, mischte sich Martha ein.»Daran wird es liegen. Komm, gehen wir mit ihr hinunter. Gertrude hat ihr Braten und Kartoffeln warmgehalten. «Marthas Stimme war sanft und beredsam. Je länger ich mit Colins Schwester zusammen war, desto lieber wurde sie mir. Sie war liebevoll und geduldig. Und sie war vor allem verständnisvoll. Auch sie hatte ja auf tragische Weise ihre Eltern verloren.
«Komm, Leyla. Unten ist es warm und gemütlich. Du brauchst jetzt etwas zu essen, dann fühlst du dich gleich wieder besser. «Henry bot mir seinen Arm, und wir stiegen zusammen die Treppe hinunter.
Nur Anna und Colin waren im Salon, als wir drei eintraten.»Komm, Kind, setz dich. «Anna sprang auf und rückte mir fürsorglich einen Sessel zurecht.»Du kannst gleich hier essen. Ich sage Gertrude Bescheid.«
Meinen Einwand, daß es besser sei, wenn ich in der Küche äße, ließ sie nicht gelten.
«Unsinn! Du bleibst jetzt hier, Kind«, befahl sie mit mütterlicher Strenge.»Setz dich und leg die Füße hoch. So! Sitzt du bequem?«
«Ja. Danke, Tante Anna. «Ich lehnte mich in wohligem Behagen in meinem Sessel zurück, gewiß, daß nun alles gut werden würde.»So, so«, sagte Colin trocken,»Vetter Theo hat also die sprichwörtliche Katze aus dem sprichwörtlichen Sack gelassen, wie ich höre. Und mir solltest du unbedingt fernbleiben, liebe Cousine, weil alle fürchteten, daß ich eben das tun würde. «Er lächelte amüsiert.»Ist das nicht der Gipfel der Ironie?«
«Ach, Colin, sei doch still.«
Er sah Martha an und nickte wie ein gehorsamer Junge. Aber dann fing ich den zornigen Blick auf, den Anna ihm zuwarf, und fühlte mich augenblicklich an ihr Verhalten vom vergangenen Abend erinnert: Wieder hatte ich den Eindruck, daß sie etwas zu verbergen suchte. Als hätte Theo mir noch nicht die ganze Wahrheit gesagt; als gäbe es immer noch etwas zu vertuschen.
«Ich bin froh, daß mir Theo alles gesagt hat«, bemerkte ich.»Ich wünschte, ich hätte es schon viel früher erfahren. Dann hätte meine Mutter nicht ganz allein damit fertigwerden müssen. «Impulsiv wie immer entgegnete Colin:»Und wie kommst du darauf, daß Theo dir alles gesagt hat?«
Ich sah ihn erschrocken an.»Was meinst du damit?«
«Colin!«rief Anna scharf.
Er zuckte wieder auf seine lässige Art die Achseln und sagte:»Ich höre, Großmutter ist ziemlich aufgebracht darüber, daß du sie nicht wie vereinbart besucht hast.«
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