Sie musterte mich mit jenem eindringlichen Blick, der, wie ich jetzt wusste, anders als bei Elizabeth weniger von angeborenem Scharfsinn herrührte, sondern vielmehr von Misstrauen, das nach langen Jahren in einem Klima des Verrats ihre Gutmütigkeit verdrängt hatte. Nach reiflichem Überlegen nickte sie. »Es ist nicht allgemein bekannt, aber ja, sie wurde im Kreis unserer Familie tatsächlich so genannt. Wie habt Ihr davon erfahren?«

Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. Nervös benetzte ich mir die Lippen. Sie fühlten sich an wie Pergament. »Ich habe es einmal am Hof gehört. Müßiges Gerede.«

»Gerede, sagt Ihr? Nun ja, meine Tante Mary plauderte in der Tat gern und viel.« Sie verstummte, und ihr Blick richtete sich in die Ferne. »Ich wurde nach ihr getauft. Sie war wie ein Engel, sowohl dem Aussehen nach als auch im Herzen. Ich betete sie an. Mein Vater ebenso. Er war es, der sie die Rose nannte.«

Plötzliche Trauer schnürte mir die Brust zu. Ein wunderschöner Engel, innerlich wie äußerlich

»Dieses Interesse an unserer Geschichte«, fuhr Mary fort, »ist es für jemanden von Eurem Stand nicht ungewöhnlich?«

Obwohl ich mich immer noch am Rande eines Abgrunds sah, ging mir die Lüge flott über die Lippen, als hätte ich mich schon Tausende von Malen darin geübt. »Die Begeisterung eines Liebhabers, Eure Majestät. Der Stammbaum von Königshäusern ist ein Steckenpferd von mir.«

Sie schenkte mir ein warmes Lächeln. »Das kann ich nur begrüßen. Bitte fahrt fort.«

»Ich weiß natürlich von der überlebenden Tochter der verstorbenen Herzogin.« Auf einmal kam ich mir vor, als stünde ich neben mir und lauschte einem Fremden. »Bekam sie jemals auch einen Sohn?«

»Allerdings. Sie bekam sogar zwei. Beide erhielten den Namen Henry. Einer starb 1522, der andere 1534, ein Jahr nach ihr. Es war eine Tragödie für seinen Vater. Nur wenige Jahre später verlor Suffolk die Söhne aus seiner zweiten Ehe, ehe er selbst 1545 starb.«

»Woran sind diese anderen Söhne gestorben?«, fragte ich, während mir ein eisiger Schauer über den Rücken kroch.

Sie überlegte. »Am Schweißfieber, glaube ich. Aber Kinder sind ja für so vieles anfällig.« Sie seufzte. »Wenn ich mich richtig erinnere, hat meine Cousine ihr dabei geholfen, sie zu pflegen, als sie krank wurden. Sie selbst hatte das Schweißfieber gehabt und überstanden, konnte sich also nicht mehr anstecken. Der Tod der beiden muss sie schwer getroffen haben. Die eigenen Brüder zu verlieren ist eine schreckliche Bürde.«

Ich unterdrückte ein bitteres Auflachen. Sämtliche männlichen Erben der Suffolks waren im Kindesalter gestorben. Auf diese Weise also hatte die Herzogin Titel und Vermögen geerbt! Und alle glaubten, dass das Zufall war?

»Und Mary Suffolk?«, fragte ich. Ich musste einfach über ihr Schicksal Bescheid wissen, brauchte Gewissheit, gleichgültig, wie schmerzhaft diese für mich sein würde. »Wie ist sie gestorben?«

»An irgendeinem Fieber. Mir wurde gesagt, dass sie schon einige Zeit krank gewesen war … Schwellungen und noch andere Leiden. Sie wurde nicht alt. Bei ihrem Tod war sie etwa so alt wie ich heute. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen. Ihr gefielen die Umstände nicht, unter denen mein Vater am Ende hatte leben wollen, und sie zog sich vom Hof auf ihr Gut in East Anglia zurück.« Ihre Züge strafften sich. »Nur wenige haben sich die Zeit genommen, um sie zu trauern. Es war im Juni. Alle warteten darauf, was bei der Schwangerschaft dieser Boleyn herauskommen würde.«

Sie verstummte. Auch wenn sie nicht darüber sprach, war ihr anzumerken, dass sie mit sich kämpfte. Hier also lag die Wurzel der Zwietracht zwischen ihr und ihrer jüngeren Schwester.

Nach einer Weile fuhr sie fort: »Ich erinnere mich deswegen noch an die Einzelheiten, weil ein paar Wochen nach Charles von Suffolks Beerdigung sein Haushofmeister zu mir kam. Ein strammer Mann – sehr anständig. Er hatte eine schreckliche Narbe von der Schläfe bis hinunter zur Wange. Ich fragte ihn, was es damit auf sich hatte. Er sagte, er hätte in den schottischen Kriegen gedient. Armer Mann. Der Tod seines Herrn schien ihn schwer getroffen zu haben. Aber was ich am lebhaftesten in Erinnerung behalten habe, ist ein Schmuckstück, das er mir brachte. Mary hatte es mir offenbar in ihrem letzten Willen hinterlassen, aber es war mir nicht zugesandt worden. Ich habe es immer noch. Ein goldenes Artischockenblatt, das ihr dieser korrupte französische König François der Erste geschenkt hatte. Nach dem Tod ihres ersten Gemahls, Louis von Frankreich, hatte er Ränke geschmiedet, um sie mit Charles Brandon zu verheiraten.«

Meine Knie drohten, unter mir nachzugeben.

Mary indes lächelte versonnen. »Dieses Schmuckstück bedeutete ihr sehr viel; es war fast alles, was ihr noch geblieben war, als ihr endlich die Rückkehr nach England gestattet wurde. Am Ende ging alles gut aus, aber eine Zeit lang drohte mein Vater ihr, sie und Brandon wegen Eigenmächtigkeit im Tower einzukerkern. Er verhängte jedenfalls eine hohe Geldstrafe, die sie nie ganz abzahlen konnten, obwohl Mary ihren ganzen Schmuck verpfändete. Nur dieses eine Stück behielt sie. Einmal vertraute sie mir an, dass diese Artischocke das Gute und das Schlechte in ihrem Leben repräsentierte, das Leid und die Freude. Von ihm wollte sie sich unter keinen Umständen trennen.« Unvermittelt beugte sich Mary vor. »Master Beecham, ist Euch nicht wohl? Ihr seid so blass geworden.«

»Ich … bin müde, das ist alles«, brachte ich hervor. »Danke, dass Ihr mir Eure Zeit gewidmet habt. Ich kann Eurer Majestät gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet hat.«

»Ach, das habe ich mit Freuden getan. Es ist viel zu lange her, seit ich zuletzt an meine verstorbene Tante gedacht habe. Vielleicht zieht Ihr eines Tages in Erwägung, eine Familienchronik für mich zu erstellen. Ich würde Euch sehr gerne damit betrauen.« Sie drohte mir schelmisch mit dem Finger. »Ich wage zu behaupten, dass Euch das von weniger ehrenwerten Einkommensquellen fernhalten würde.«

»Es wäre mir eine Ehre.« Froh über das matte Licht, zwang ich mich zu einem Lächeln. »Aber jetzt würde ich mich mit der gnädigen Erlaubnis Eurer Majestät gerne zurückziehen.«

»Selbstverständlich.« Sie streckte mir die Hand entgegen. Als ich mich tief darüberbeugte, murmelte sie: »Ich glaube, ich schulde Euren gegenwärtigen Dienstherren eine Antwort. Kommt morgen wieder, dann werden wir sehen, ob ich eine bewerkstelligen kann.«

»Eure Majestät.« Ich küsste ihre trockenen, mit Juwelen geschmückten Finger.

Rochester führte mich zu einem Nebengebäude. In dem viereckigen Innenhof befand sich ein Trog, in dem ich mich waschen konnte, und im oberen Stockwerk wurde mir eine Kammer zugewiesen, wo ich alles Nötige vorfand. Ich zog mich bis auf die Kniehose aus und wusch mich in dem Wasser, wobei ich sorgsam darauf achtete, dass mir das Beinkleid nicht herunterrutschte. Dann ging ich nach oben und schloss die Tür hinter mir.

Auf dem Tisch wartete eine kalte Mahlzeit auf mich. Eigentlich hatte ich keinen Appetit und fragte mich, ob ich jemals wieder etwas essen würde. Doch dann band ich mein nasses Haar zu einem Pferdeschwanz und aß den Teller leer. Die Bedürfnisse des Körpers nehmen selten auf die Verzweiflung des Herzens Rücksicht.

Nachdem ich gegessen hatte, setzte ich mich auf die Kante der mit Stroh gefüllten Pritsche und zog erneut das Schmuckstück aus der Tasche. Es glänzte wie ein Stern. Ich strich mit den Fingerspitzen über eine der von Meisterhand geformten Adern, als gehörte sie zu einem lebenden Wesen. Inzwischen wusste ich, dass es weit gereist war, von Frankreich über den Ärmelkanal bis hierher. Es blickte auf ein ganzes Leben zurück, in dem es geliebt worden war. Ich blickte auf meine Lendengegend, wo unter den Kleidern das Geburtsmal meiner Mutter prangte.

Die Einzigen, die davon gewusst haben dürften, sind diejenigen, die mit der verstorbenen Herzogin eng vertraut waren …

Charles von Suffolks Haushofmeister … ein strammer Mann …

Ich schloss die Augen. Ich musste mich ausruhen. Behutsam schob ich das Kleinod in die Umhängetasche und schlüpfte unter die grobe Bettdecke.

Während ich einschlief, dachte ich noch, dass Kate genauso überrascht sein würde wie ich, wenn sie erfuhr, dass es sich bei dem Schmuckstück nicht um eine Blüte handelte, sondern um ein Blatt.

26

Ich träumte von Engeln. Zum Echo eines brausenden Chors schlug ich die Augen auf und fand den Raum in Licht getaucht. Durch das offene Fenster flackerte ein Feuerschein. Ich setzte mich auf. Der Gesang erklang von draußen. Dann bemerkte ich eine Gestalt bei mir im Zimmer.

»Barnaby? Bist du das?«

»Ja. Hoffentlich störe ich dich nicht. Ich bin vorhin reingekommen.« Er stand, die Arme vor der Brust verschränkt, vor dem Fenster und starrte hinaus. »Hat das Treffen, zu dem du wolltest, stattgefunden?«, erkundigte er sich, ohne sich zu mir umzusehen.

»Ja. Ich habe deinen Bogen zurückgebracht.« Ich zögerte. »Wo ist Peregrine?«

»Schläft tief und fest. Hat gegessen wie ein halb Verhungerter und ist dann umgefallen wie ein Stein. Aber komm, sieh dir das an.«

Ich zog meine Kniehose hoch und tapste barfuß zum Fenster. Ein indigofarbener Himmel wölbte sich über der Burg. Über Nacht hatte man im Hof einen Altar improvisiert, drapiert mit ausgebleichten karmesinroten Stoffen, die mit fadenscheinigen goldenen Kreuzen bestickt waren. Davor stand eine in einen weißen Umhang gehüllte Gestalt, die einen Hostienkelch in die Höhe hielt. Um den Altar herum waren Wachskerzen aufgestellt, deren flackernde Flammen die gen Himmel erhobenen Gesichter der Männer und Frauen zum Leuchten brachten. Aus Weihrauchgefäßen strömte ein betörender Geruch. Der Refrain eines Kirchenlieds stieg aus den Kehlen eines Kinderchors empor, der sich auf einem Bretterverschlag postiert hatte.