»Er hat wieder geheiratet. Er hat Kinder. Ich mache ihm keine Vorwürfe. Ich glaube, er hat meine Mutter genommen, wie Männer das eben machen – in einem Moment der Lust, ohne an die Folgen zu denken. Wenn er von mir weiß, hat er das nie zu erkennen gegeben. Seit ich auf der Welt bin, habe ich immer ohne ihn gelebt. Aber seinen Nachnamen trage ich. Das ist das Mindeste, was er tun kann.« Ein schelmisches Lächeln spielte um ihre Lippen. »Und es ist ja nicht so, als ob es in England Hunderte von Staffords gäbe.«

Sie stupste mir mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Du bist dran. Ich möchte einen rechtschaffenen Mann aus dir machen.«

Kaum hatte sie das gesagt, erschrak sie und schaute mir eindringlich ins Gesicht. »Vergib mir. Manchmal rede ich, bevor ich denke. Wenn du nicht sprechen möchtest, verstehe ich das.«

Ich umfasste ihr Kinn mit zwei Fingern. »Frag ruhig. Es soll keine Geheimnisse zwischen uns geben.« Ich zögerte. »Die Wahrheit ist: Ich weiß nicht, wer meine Mutter ist. Ich wurde als Baby ausgesetzt. Mistress Alice hat mich aufgezogen.«

»Du wurdest ausgesetzt?«, wiederholte Kate.

Ich nickte, sagte aber nichts, weil ich ihr Zeit lassen wollte, ihre Gedanken zu sammeln.

»Dann war Mistress Alice … war das die Frau im Gemach des Königs?«

»Ja. Sie hat mich gerettet.« Während ich diese Worte sagte, verspürte ich einen übermächtigen Drang, über all das zu reden, damit noch jemand anders die Erinnerung mit mir teilte und Alice nicht in Vergessenheit geriet. »Ich wurde im Pfarrhäuschen bei Dudley Castle mir selbst überlassen. Wahrscheinlich sollte ich sterben. Später wurde mir gesagt, dass solche Dinge öfter geschehen, als man meint – dass ungewollte Babys vor den Häusern von Adeligen ausgesetzt werden. Die Mütter hoffen, dass die Reichen Mitleid bekommen und ihnen das geben, was sich die Armen nicht leisten können. Vom Sterben wollte ich jedenfalls nichts wissen. Laut Mistress Alice habe ich einen Krawall veranstaltet, der Tote hätte aufwecken können. Sie hörte mich bis zum Komposthaufen heulen, wo sie gerade einen Korb Laub ausleerte. Sie ging dann gleich nachsehen.«

Meine Stimme versagte mir den Dienst. Ich gab mir einen Ruck und konzentrierte mich auf Kates Augen, um darin Kraft zu finden. »Sie war für mich die Mutter, die ich nie kennengelernt habe. Als sie starb – oder vielmehr, als mir gesagt wurde, sie sei tot –, konnte ich ihr nicht vergeben, dass sie mich ohne ein Wort des Abschieds verlassen hatte.«

»Deshalb warst du also bereit, Ihrer Hoheit zu helfen. Du wusstest, dass sie von ihrem Bruder Abschied nehmen musste.«

»Ja. Ich konnte sie nicht das erleiden lassen, was ich am eigenen Leibe erfahren habe. Ich weiß, was es heißt, jemanden unerwartet zu verlieren. Ich hielt Mistress Alice ja für tot. Als ich Peregrine kennenlernte, hat er eine Frau erwähnt, die den König pflegte, und einen Moment lang hatte ich ein Gefühl … Aber ich habe nicht ernsthaft daran geglaubt, dass sie das sein könnte. Wie denn auch? Selbst als ich sie dann gesehen habe …« Erneut stockte ich. Meine Stimme zitterte. »Sie hatten ihr die Zunge herausgeschnitten und etwas mit ihren Beinen gemacht, damit sie nur noch humpeln konnte. Und Master Shelton, ihr Haushofmeister, zu dem ich immer aufgesehen und der mir die Nachricht von ihrem Tod beigebracht hatte, stand tatenlos da, als Lady Dudley ihr die Kehle aufschlitzte. Sie ist verblutet, und er hat keinen Finger gerührt.«

Die Erinnerung bohrte sich wie Glassplitter durch meine Innereien. Ich war ein Narr gewesen, dass ich geglaubt hatte, Master Shelton würde mich für wichtiger halten als seine Pflicht. Ein treuer Diener in allem zu sein, gleichgültig, was das mit sich brachte – das war das Einzige, was er kannte. Ich hätte angesichts seines stumpfsinnigen, sinnlosen Lebens Mitleid mit ihm haben können, hätte ich nicht nach Rache gedürstet.

Schweigen breitete sich aus. Kate saß zusammengesunken da; schließlich hob sie den Blick zu mir. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Vergib mir die Art und Weise, wie ich über ihren Tod gesprochen habe. Das war selbstsüchtig von mir. Ich … ich wollte dir nicht wehtun.«

Ich küsste sie. »Meine tapfere Kate, du hättest mir die Schmerzen nicht ersparen können. Die habe ich vor langer Zeit erlitten, als wir noch gar nichts voneinander wussten. Ich habe Alice an dem Tag verloren, als sie sie mir weggenommen haben. Die Frau, der ich im Gemach Seiner Majestät begegnet bin, war nicht die Frau, die ich damals kannte. Jetzt kenne ich die Wahrheit. Jetzt weiß ich, dass sie mich nicht verlassen hat. Lady Dudley muss ihre Verschleppung von der Straße angeordnet haben. Und Shelton war ihr Komplize.«

»Aber warum haben sie ihr etwas derart Schreckliches angetan? Das ist ja lange vor der Erkrankung des Königs geschehen, richtig? Warum wollten sie unbedingt, dass du sie für tot hältst?«

»Dasselbe habe ich mich auch gefragt«, stieß ich mit einem grimmigen Lächeln hervor. »Ich denke, sie wusste zu viel. Dessen bin ich mir ganz sicher. Mistress Alice wusste, wer ich bin.«

Kate starrte mich entsetzt an. »Hat das vielleicht mit diesem Schmuckstück zu tun?«

Statt einer Antwort tapste ich nackt vom Bett zu meinem Umhang und zog das Kleinod aus der Tasche. Der Rubin glitzerte im Licht des Mondes, als ich ihr das Schmuckstück reichte. »Ich glaube, es ist ein Teil meiner Vergangenheit«, erklärte ich und erschauerte jäh. »Ich glaube, Mistress Alice hat es mir in dem Moment gegeben, als sie mich erkannt hatte. Vorher hatte sie mich wohl gar nicht wirklich wahrgenommen. Sie hatte zu viel gelitten. Aber sie hat die goldene Blüte aus einem ganz bestimmten Grund aufbewahrt. Das hat etwas zu bedeuten. Das muss einfach so sein.«

Kate betrachtete sie nachdenklich. »Ja, aber was?«

Ich nahm ihr das Schmuckstück aus der Hand und strich mit den Fingerkuppen über das zarte, fein geäderte Gold. »Außer ihren Kräutern hatte Mistress Alice nie für materielle Güter Verwendung. So etwas begehrte sie nicht. Sie sagte immer, Dinge beanspruchten einfach zu viel Platz. Und doch hielt sie dieses Stück weiß Gott wie viele Jahre in ihrer Medizintruhe verborgen. Ich habe die Truhe oft durchsucht. Und jedes Mal hat sie mich getadelt und gesagt, eines Tages würde ich mich noch mit irgendeinem Kraut berauschen. Aber dieses Stück habe ich nie entdeckt. Sie muss es in einem geheimen Fach verborgen haben. Und ich habe so ein Gefühl, dass nicht einmal Lady Dudley davon wusste.«

Ich schaute an ihr vorbei zum Fenster. »Lady Dudley ist der Schlüssel zu alldem. Sie hat mich benutzt, um die Herzogin zur Einwilligung in die Verheiratung ihrer Tochter Jane Grey mit Guilford zu zwingen. Das hat die Herzogin auch bestätigt, als sie mich in dieser Zelle gefangen hielt. Was immer diese Blüte bedeutet, sie muss eine gewaltige Macht haben, wenn man mich deswegen umbringen will. Es könnte womöglich sogar die Waffe sein, die ich benötige, um mir die Dudleys vom Hals zu halten – und zwar für immer.«

Kate verschränkte die Arme vor der Brust, als fröstelte sie. »Du willst Rache für das, was sie dir angetan hat.«

Ich erwiderte ihren Blick. »Wie könnte ich das nicht? Mistress Alice war alles, was ich auf der Welt hatte, und sie hat sie zerstört. Ja, ich will Rache. Aber mehr noch als das suche ich die Wahrheit.« Ich beugte mich nahe zu ihr. »Kate, ich muss wissen, wer ich bin.«

»Das verstehe ich. Es ist nur so, dass ich mich um dich sorge. Um uns. Dieses Geheimnis muss schrecklich sein, wenn die Herzogin von Suffolk dich töten will, nur damit niemand davon erfährt. Und wenn die Dudleys es gegen sie verwendet haben, müssen sie es kennen.«

»Nicht einmal Dudley selbst weiß Bescheid. Nur Lady Dudley. Ich glaube nicht, dass sie den Herzog jemals aufgeklärt hat. Sie muss die Befürchtung gehegt haben, dass er sie verraten würde. Sie machte keinerlei Anstalten, ihm die einzige Waffe anzuvertrauen, die sie besaß – ihre Fähigkeit, der Herzogin von Suffolk ihren Willen aufzuzwingen. Ohne ihr Druckmittel, ohne dieses Geheimnis, hätte die Herzogin sich wohl nie bereit erklärt, ihre Tochter einem …«

»Emporkömmling wie Dudley zu geben«, vollendete Kate. Sie betrachtete mich nachdenklich. »Warum sprichst du nicht mit Master Cecil darüber? Er kennt bedeutende Persönlichkeiten. Vielleicht kann er dir helfen.«

»Nein.« Ich ergriff ihre Hände. »Versprich mir, dass du niemandem ein Wort davon verrätst, nicht einmal der Prinzessin – vor allem nicht ihr! Northumberland hat immer noch enorme Macht, vielleicht sogar mehr als je zuvor, und vielleicht ist sie noch einmal auf unsere Hilfe angewiesen. Da ist es besser, wenn ich diese Bürde fürs Erste allein trage.«

Insgeheim bat ich sie um Vergebung für meine Lüge. Aber ich konnte es einfach nicht riskieren, sie diesem kalten Hass auszusetzen, den ich in Lady Dudleys Augen gesehen hatte. Ebenso wenig wollte ich, dass ihr dieser mörderische Stokes im Auftrag der Herzogin nachstellte. Wenn erst einmal ans Licht kam, dass ich noch lebte, wäre die Jagd auf mich eröffnet. Was immer geschah, Kates Sicherheit hatte absoluten Vorrang. Gleichwohl würde ihr das, worum ich sie als Nächstes bitten musste, sehr wehtun.

»Kannst du etwas für mich tun? Es ist sehr wichtig. Du musst mir versprechen, nach Hatfield zurückzukehren.«

Sie biss sich auf die Lippe. »Und wenn ich mich weigere?«

»Dann erinnere ich dich daran, dass Elizabeth nach wie vor auf dich angewiesen ist. Keiner ihrer anderen Bediensteten hat deine Fähigkeiten. Es kann gut sein, dass sie bald darauf zurückgreifen muss. Und das weißt du so gut wie ich. So, wie du längst weißt, auch wenn du es mir noch nicht gesagt hast, dass Cecil einen neuen Auftrag für mich hat. Das ist doch der Grund, warum Walsingham in einem fort gekommen und gegangen ist und sich nach meiner Gesundheit erkundigt hat. Aus Sorge um mich hat er das gewiss nicht getan.«