»Trink«, sagte sie. Und als Edward gehorchte, lächelte sie. »Und jetzt ruhe. Ruhe und träume von Engeln.«
Die Augen fielen ihm zu. Er schien mit seinen Kissen zu verschmelzen. Lady Dudley wandte sich ab, stellte den Kelch auf den Tisch und griff in die Medizintruhe. Mit einer einzigen fließenden Bewegung zog sie etwas hervor und fuhr herum. Stahl blitzte auf. Kein Laut war zu hören. Aus Mistress Alice’ Kehle spritzte ein dunkelroter Strahl und ergoss sich über den Teppich und das Bett. Vor meinen Augen sank Alice auf die Knie, starrte mich unverwandt an und fiel auf dem Boden in sich zusammen.
»Nein!« Der Schrei brach aus mir hervor wie das Heulen eines verwundeten Tiers. Ich machte einen Satz nach vorn. Master Shelton setzte mir nach, packte mich am Arm und drehte ihn mir auf den Rücken. Schmerz schoss mir in die Schultermuskeln, dass ich glaubte, sie würden zerreißen.
»Du sollst dich nicht einmischen, habe ich dir gesagt!«, zischte Master Shelton. »Sei still. Du kannst es nicht verhindern.«
Vor hilfloser Wut keuchend, beobachtete ich, wie Lady Dudley das blutverschmierte Messer zu Boden warf und über Mistress Alice’ zuckenden Körper hinweg auf uns zuschritt. Hinter ihr verfärbte das Blut den ganzen Teppich.
»Tötet ihn«, forderte sie Master Shelton auf.
Ich trat mit aller Kraft nach hinten. Meine Ferse krachte gegen das Schienbein des Haushofmeisters. Gleichzeitig rammte ich ihm den Ellbogen in die Brust. Es war, als hätte ich auf Granit geschlagen, doch mit einem überraschten Grunzen ließ Master Shelton mich los.
Sidney griff nach dem Schwert und drückte es mir in die Hand, als ich zur Fensternische stürmte, wo ein Luftzug den Vorhang bauschte. Ich hörte Lady Dudley einen Schrei ausstoßen, hörte die Tür auffliegen, hörte wütende Rufe. Ich sah mich nicht um, um herauszufinden, wie viele Männer in das Gemach eingedrungen waren. Ein jähes Heulen und ein Donnerschlag ertönten hinter mir. Blitzschnell duckte ich mich, während die Kugel über mich hinwegpfiff und sich in die Wand bohrte. Jemand, vielleicht einer von Dudleys Soldaten, die von Henry angeführt wurden, hatte offenbar eine Handbüchse. Solche Waffen waren tödlich, wenn auch bei kurzen Entfernungen schwer zu handhaben. Ich wusste, dass es jetzt eine gute Minute dauern würde, die Pistole neu zu laden und das Zündschloss wieder zu betätigen. Mehr Zeit hatte ich nicht.
Ich sprang auf das Fensterbrett und zwängte mich durch die Öffnung. Das Schwert in der Hand, ließ ich mich in die Nacht fallen.
Mit einer Wucht, die mir die Zähne aufeinanderschlagen ließ, landete ich auf dem ein Stockwerk tiefer liegenden Wehrgang. Das Schwert glitt mir aus der Hand, prallte klirrend von der Mauerkante ab und schlug unten im Palasthof auf. Ich blieb benommen auf den Steinen liegen. In den Beinen hatte ich derart entsetzliche Schmerzen, dass ich glaubte, ich hätte mir sämtliche Knochen gebrochen. Schließlich merkte ich, dass ich mich bewegen konnte. Ich spähte nach oben zu dem Fenster, durch das ich soeben gesprungen war, und erkannte gerade noch rechtzeitig, wie eine Pistole mit langem Lauf Rauch ausstieß.
Sofort rollte ich mich zur Seite. Fast im selben Moment schlug an der Stelle, wo ich gelegen hatte, eine Kugel ein, prallte ab und grub sich in die Palastmauer.
»Hol’s der Teufel!«, hörte ich Henry Dudley fluchen. »Daneben. Aber keine Sorge. Den krieg ich schon noch.«
Die Pistole verschwand und wurde neu geladen. Ich zwang mich dazu aufzustehen. So dicht wie nur möglich gegen die Mauer gepresst, blickte ich nach beiden Seiten – und das Herz sank mir in die Magengrube. Das, was ich für einen Wehrgang gehalten hatte, war nur die breite Krone einer Festungsmauer mit einer von Nymphen aus Gips verzierten Balustrade, die parallel zu einer Galerie im Innern des Palastes verlief. Weiter hinten konnte ich ein Kassettenfenster und einen Eckturm erahnen, der sich über das Wassertor erhob. Jeden Moment würde einer von den Männern über mir dasselbe erkennen und nach unten rennen, um seinen Auftrag zu Ende zu bringen.
Ich hatte keinen Fluchtweg.
Denk nach. Bleib ruhig. Atme. Vergiss alles andere. Vergiss Mistress Alice. Vergiss, wie ihr Blut über den Boden …
Links von mir ragte das halb verfallene Dach des Turmes auf, in dem sich die Geheimtreppe befand. Vorn befand sich das Tor. Vorsichtig bewegte ich mich in diese Richtung, fort von dem aus dem Fenster über mir flutenden Licht. Mit Handfeuerwaffen kannte ich mich kaum aus, aber Master Shelton sehr wohl, denn er hatte in den schottischen Kriegen gedient. Einmal hatte er mir gegenüber geäußert, dass sie wirklich primitiv wären. Sie waren dafür berüchtigt, nicht zu zünden, das Ziel zu verfehlen oder einen gewaltigen Rückstoß zu verursachen. Freilich konnte ich nicht darauf hoffen, dass Henry sich den eigenen Kopf wegschoss. Mein Instinkt trieb mich jedenfalls dazu an, die Beine in die Hand zu nehmen.
Und mein Instinkt behielt recht. Ich erstarrte, als die Pistole erneut losfeuerte. Diesmal bewies Henry eine deutlich verbesserte Zielgenauigkeit. Die Kugel prallte direkt über meiner Schulter von der Mauer ab, und winzige Steinsplitter spritzten mir ins Gesicht. Erst als ich warmes Blut über meine Haut rinnen spürte, begriff ich, dass die Kugel mich gestreift hatte.
»Ihr habt ihn getroffen!«, jubelte Henry. Also hatte jemand anders geschossen. Ich setzte meinen gefährlichen Weg fort. Doch irgendwie musste mein Sprung aus dem Fenster den Verstand der Kerle getrübt haben. Überrascht stellte ich fest, dass der Mann, der die Waffe übernommen hatte, nicht auf die Idee gekommen war, dass man von der Galerie aus viel genauer zielen konnte.
Die Pistole wurde wieder zurückgezogen. Ich beschleunigte meine Schritte und näherte mich einem Kassettenfenster zwischen mir und der Galerie. Jetzt hieß es darauf hoffen, dass die Fenster nicht verriegelt und die Butzenscheiben weder aus Blei noch so dick waren, dass man sie nicht einschlagen konnte. Mich erfasste wegen der tobenden Schmerzen in Beinen und Schulter ein Schwächegefühl. Schon erfolgte der nächste Knall. Die Kugel sauste knapp über meinem Kopf durch die Luft.
Ich kämpfte mich weiter voran, immer dicht an der Wand entlang.
Plötzlich schwang das Kassettenfenster auf. Ich blieb jäh stehen, als ich eine Gestalt verstohlen auf die Mauerkrone steigen sah. Kurz hielt sie inne. Ein weiterer Schuss peitschte durch die Nacht und sprengte Putz von der Mauer. Die Gestalt wandte sich mir zu. Im Mondlicht sah ich zwei dunkle Augen glänzen.
Dann setzte die Gestalt sich in Bewegung. Auf mich zu.
All meine Sinne vibrierten in höchster Alarmbereitschaft.
Doch ich starrte wie gebannt dem Mann entgegen, der sich mir näherte, ohne im Geringsten auf die eigene Sicherheit zu achten.
Zwei Überlegungen jagten in diesen kritischen Sekunden durch mein Bewusstsein. Zum einen bewegte er sich, als wäre er schon sein Leben lang über Hausdächer gehuscht. Und zum anderen fragte ich mich: War er gekommen, um den Auftrag der Dudleys zu vollenden, oder wollte er mich retten?
Als ich die geschwungene Klinge in seiner behandschuhten Faust aufblitzen sah, erkannte ich, dass ich besser nicht wartete, bis ich die Antwort wusste. Hoffentlich war ich schon nahe genug beim Wassertor. Wenn nicht, würde ich meinen Irrtum vermutlich nicht lange bedauern.
Ich stieß mich mit aller Kraft ab, die mir noch in den Beinen geblieben war.
Und sprang weit hinaus in die Nacht.
20
Mit den Füßen voran tauchte ich in den Fluss ein. Im Fallen hatte ich darauf geachtet, den Körper gestreckt zu halten, denn ich wusste, dass ich mit jeder anderen Haltung beim Aufprall auf der Wasseroberfläche sterben würde. Gleichwohl war mir, als landete ich auf Felsgestein. Mit beängstigender Plötzlichkeit wurde mir alle Luft aus der Lunge gepresst. Ich versank rasend schnell. Wild mit den Armen um mich schlagend und keuchend kam ich wieder an die Oberfläche. Der brackige Geschmack von Salz, vermischt mit Abfällen und Schlamm, verstopfte mir Nasenlöcher, Kehle und Ohren. Hustend spuckte ich alles aus und versuchte, die Kontrolle über meinen Körper zurückzugewinnen.
Um mich herum der Fluss, dessen heftige Strömung mit der einsetzenden Flut noch gefährlicher wurde. Sein tintenschwarzer Rücken war übersät mit Zweigen und Laub. Die aufgedunsene Leiche eines nicht identifizierbaren Wesens wippte in meiner Nähe mit den Wellen, versank kurz und tauchte wieder auf. Von der Strömung gefangen, waren die Leiche und ich zu Treibgut geworden, das einfach mitgerissen wurde.
Meine linke Schulter und der Arm waren taub. Als ich zurück zu dem rasch kleiner werdenden Palast blickte, stellte ich mir die ungläubige Miene des gescheiterten Mörders vor. Jetzt erst wurde mir klar, wie weit mein Sprung gewesen war. Es grenzte an ein Wunder, dass ich das überlebt hatte.
Und einmal mehr drohte ich zu ertrinken. Mit größter Anstrengung schaffte ich es, quer zur Strömung zu schwimmen. Mein Ziel war eine Gruppe von Bäumen am Ufer – an welchem, das wusste ich nicht. Einer verwesenden Leiche, die auf mich zutrieb, wich ich aus. Mir war nur allzu klar, wie schlimm meine Lage war. Ich war von einer Kugel getroffen oder zumindest gestreift worden und verlor offenbar viel Blut. Das kalte Wasser beeinträchtigte mich zunehmend und machte es mir immer schwerer, gleichzeitig zu schwimmen und zu atmen. Und während ich im Herzen und im Kopf ein Tosen spürte, wollte ich an jener dunklen Stelle irgendwo tief in meinem Innern, wo nichts eine Ursache oder Folge hat, ganz mit allem aufhören, regungslos dahintreiben, die Dinge einfach geschehen lassen.
Das Ufer verschwamm wie ein Trugbild. In einen eisigen Kokon getaucht, wo ich keine Luft mehr bekam, starrte ich mit flackernden Augen vor mich hin, während die Kraft in meinen Armen unerbittlich schwand und meine Bewegungen immer hilfloser wurden. Ich versuchte, mit den Beinen zu strampeln, um den Blutkreislauf zu beschleunigen, aber auch sie versagten mir den Dienst. Zumindest fühlte es sich so an. In meiner Verzweiflung trat ich erneut Wasser. Etwas hatte sich um meine Knöchel geschlungen.
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