»Ich auch nicht«, antwortete ich. »Aber Mistress Alice sehr wohl! Schaut sie Euch nur an!«
Elizabeth gehorchte. Mistress Alice war zur Geheimtür geschlurft und gab uns aufgeregt Zeichen. Ihre Hände waren grausam verkrümmt worden, und die Finger und Gelenke waren kaum noch als menschlich zu erkennen. In den Jahren der Gefangenschaft war ihr alle Kraft, alles Leben geraubt worden. Bei ihrem Verschwinden war sie noch keine fünfzig Jahre alt gewesen.
Ich musste meine Wut mit Gewalt unterdrücken. Schweigend kehrte ich zu Elizabeth zurück. Sie blickte mir herausfordernd in die Augen, um sich dann abrupt zur Tür umzuwenden.
Barnaby trat an ihre Seite. Sidney stürzte zu einem Kasten und riss den Deckel auf. Dort ruhte in einer Lederscheide ein Schwert mit juwelenbesetztem Griff. Er packte es und warf es mir zu. »Edward hat dafür keine Verwendung mehr. Es ist aus Toledo-Stahl, ein Geschenk des kaiserlichen Botschafters. Ich werde versuchen, die Kerle aufzuhalten. Seht zu, dass Ihr entkommt.«
So, wie sich das Schwert in meinen Händen anfühlte, war mir sofort klar, dass es für jemanden von geringer Statur wie mich geschmiedet worden war. Nur hätte ich mir nie eine derart kostbare Waffe leisten können.
Mistress Alice schlurfte unterdessen zum Bett. »Bringt Ihre Hoheit in Sicherheit!«, befahl ich Barnaby und trat die Geheimtür so fest hinter ihnen zu, dass sie ihm fast ins Gesicht schlug. Sidney, der zur Eingangstür geeilt war, sah, dass ich geblieben war, und erstarrte. »Was wollt Ihr hier noch? Sie sind fast schon da!«
Ich lief zu Alice hinüber, die vor dem Nachttisch stand und in einer Holztruhe herumwühlte – ihre Medizintruhe, die sie immer außerhalb meiner Reichweite auf dem obersten Küchenregal verstaut hatte. Es versetzte mir einen eisigen Schock, als ich erkannte, dass ich sie nicht vermisst hatte, obwohl Mistress Alice sie nie auf ihren Reisen mitgenommen hatte. Wann immer ich versuchte hineinzuspähen, hatte sie gesagt:
Da drin ist nichts für einen neugierigen Jungen mit großen Augen; keine Geheimnisse, die er entdecken könnte …
Mit einem Mal drehte sie sich zu mir um und starrte mich an, als wäre ich ein völlig Fremder. Und als sie meine Hand ergriff, schossen mir Tränen in die Augen. Mit zitternden Fingern legte sie mir einen in ein Öltuch gewickelten Gegenstand auf die Handfläche und schloss dann meine Finger darüber. Gebannt verfolgte ich, wie ihr Gesicht einen seligen Ausdruck annahm, als hätte sie endlich ihre Erlösung gefunden.
Im nächsten Moment flog die Tür auf. Sidney wurde zurückgestoßen.
Mit Mistress Alice’ Geschenk in der einen Hand und dem Schwert in der anderen, wirbelte ich herum und sah mich meiner Vergangenheit gegenüber.
19
Sie trug einen Umhang in der Farbe einer Rüstung. Von allen, die durch diese Tür hätten eintreten können, war sie die Letzte, mit der ich gerechnet hätte – auch wenn es natürlich vollkommen logisch war, dass es gerade sie sein musste. Ihr folgte mit unbeweglichem, vernarbtem Gesicht Archie Shelton. Bei seinem Anblick musste ich an mich halten, um mich nicht wutentbrannt auf ihn zu stürzen.
Im Vorraum hörte ich noch andere Stimmen. »Wartet, bis ich euch rufe!«, befahl sie über die Schulter, woraufhin nur Master Shelton eintrat und die Tür hinter sich schloss. Aus den Augenwinkeln registrierte ich, wie Sidney zurückwich. Und ich spürte, dass Mistress Alice in meinem Rücken erstarrte. Schützend breitete ich die Arme aus, obwohl mir im selben Moment klar wurde, dass das nicht mehr als eine hilflose Geste war. Mein Anblick musste Lady Dudley verblüfft haben, doch ihre Miene gab keine Regung preis.
»Ich sehe, dass du nicht vermocht hast, das oberste und unumstößliche Gebot eines jeden Bediensteten zu befolgen«, sagte sie. »Du hast dich nicht mit deinem Platz in der Gesellschaft begnügt.« Sie warf einen Blick auf die Wandvertäfelung, die die Geheimtür verbarg. »Aber ich gestehe dir zu, dass du tatsächlich diesen Eingang entdeckt hast.« Ihre Stimme wurde härter. »Wo ist sie?«
In dem Wissen, dass Barnaby und Kate mit Elizabeth zu der Pforte liefen, wo Peregrine wohl jetzt schon mit den Pferden wartete, erklärte ich: »Ich bin allein. Ich wollte es mit eigenen Augen sehen.«
»Du bist kein besonders guter Lügner«, entgegnete sie. »Sie wird nie entkommen, gleichgültig, was du dir zutrauen magst. Sie wird ihren nutzlosen Kopf genauso einbüßen wie diese Hure von ihrer Mutter.«
Ich ignorierte ihre Drohung. »Warum habt Ihr das getan?«
Sie zog eine dünne Augenbraue hoch. »Mich wundert, dass du das noch fragst.« Sie wedelte mit der Hand. »Weg vom Bett. Ach ja, und runter mit diesem … ist das nicht ein Schwert?« Sie lächelte. »Mein Sohn Henry und unsere Soldaten warten draußen. Sie dürsten nach Taten, die mehr erfordern, als nur auf Guilfords Glück zwischen Jane Greys Schenkeln anzustoßen. Ein Wort von mir, und sie ziehen dir bei lebendigem Leib die Haut ab.«
Ich warf das Schwert auf den Teppichläufer zwischen uns. Master Shelton würdigte ich keines Blicks. Der Haushofmeister stand in derselben Pose wie vorhin Barnaby vor der Tür – die Arme vor der tonnenförmigen Brust verschränkt.
Dieser Dreckskerl! Ich hasste ihn, wie ich noch nie einen Menschen gehasst hatte. Mit bloßen Händen umbringen wollte ich ihn.
Kühl sagte Lady Dudley: »Mistress Alice, bitte mischt jetzt den Trunk für Seine Majestät.«
Mistress Alice zog ein Beutelchen aus ihrer Truhe und streute daraus ein weißes Pulver in einen Kelch.
Ich war drauf und dran, die Fassung zu verlieren. Sie hatte das veranlasst, und zwar alles. Sie hatte Mistress Alice verstümmelt und dazu gezwungen, den König zu vergiften. Tüchtig war sie ja seit jeher gewesen, gleichgültig, ob bei der Organisation ihres Haushalts oder der Überwachung der Schweineschlachtung im Herbst. Warum sollte es hier anders sein? Da ich nun begriff, was all die Jahre vor mir verborgen worden war, wunderte ich mich darüber, warum ich nichts gemerkt, die Täuschung nie gewittert hatte.
Es war Lady Dudley gewesen, die geplant hatte, einen weiteren Thronerben als Alternative zu den zwei Prinzessinnen aufzustellen. Unerbittlich, wie sie war, hatte sie es mit allen Mitteln darauf angelegt, ihren Lieblingssohn in den höchstmöglichen Rang zu hieven. Sie war sogar hinter irgendeine Schwäche in der Vergangenheit der Herzogin von Suffolk gekommen und hatte offenbar eine teuflische Abmachung mit ihr getroffen – alles nur zu dem einen Zweck, ihrer Familie Macht zu sichern.
Doch ihr Gemahl, der Herzog, hatte es ihr mit falscher Münze vergolten. Zum Schein hatte er sie unterstützt, es dann jedoch darauf angelegt, Elizabeths Hand zu gewinnen. Irgendwie hatte Lady Dudley das freilich durchschaut und die ganze Wahrheit erkannt.
Was wusste sie sonst noch? Was hatte sie noch alles geheim gehalten?
Als könnte sie Gedanken lesen, verzogen sich ihre blutleeren Lippen zu einem Lächeln. »Zwanzig Jahre. So lange ist es her, dass du in unser Leben getreten bist. Schlau warst du ja schon immer. Viel zu schlau. Alice pflegte zu sagen, sie hätte noch nie ein Kind gesehen, das so begierig darauf war, die Welt zu verstehen. Vielleicht sollte ich dich doch noch ein bisschen länger am Leben erhalten, falls unsere zornige Herzogin beschließen sollte, ihr Versprechen zu brechen. Sie glaubt, du seist tot, aber ich bin nun einmal auf ihre Willfährigkeit angewiesen, bis Jane zur Königin ausgerufen worden ist. Ich könnte dich erneut benutzen.«
Ich spürte kalten Schweiß auf der Stirn und in der Hand, die immer noch das Tuch umklammerte.
Diesmal gab ich meine Angst nicht zu erkennen, als ich antwortete: »Ich könnte von noch größerem Nutzen sein, wenn Mylady mir alles sagte.«
»Alles?« Sie musterte mich mit einer Spur von Humor in den kalten grauen Augen.
»Ja.« Mir schnürte sich die Brust zusammen, bis ich befürchtete, keine Luft mehr zu bekommen. »Ich wurde doch zu einem bestimmten Zweck hierhergebracht, nicht wahr? In Whitehall hat Mylady der Herzogin von meinem … Muttermal erzählt.«
»So? Das hast du verstanden? Ich habe mich schon gefragt, ob nicht auch fließendes Französisch zu deinen vielen verborgenen Talenten zählt. Wie faszinierend. Du hast wahrlich nicht auf der faulen Haut gelegen.«
Der Schweiß rann mir über das Gesicht und sammelte sich unter der Kehle. Von seinem Salz brannten mir die Schrammen auf den Wangen. »Ich habe es mir selbst beigebracht«, erklärte ich. »Ich bin schlau, das stimmt. Und wenn ich wüsste, für wen mich die Herzogin hält, könnte ich Euch helfen. Ich bin offen für eine Lösung, die uns beiden nützen wird.«
Es war ein aus der Verzweiflung geborener, jämmerlicher Versuch, sie zu täuschen, und sie beantwortete ihn mit einem verblüffend heiteren Lachen.
»Bist du das? Dann habe ich dich überschätzt. Glaubst du wirklich, ich bin so dumm, dass ich dir vertraue, zumal du jetzt diese Hure von Boleyn schützt? Aber mein Dilemma habe ich inzwischen überwunden. Shelton, behaltet ihn im Auge, während ich Seine Majestät versorge.«
Sie glitt zum Bett. Verstohlen ließ ich das Tuch in meiner Wamstasche verschwinden, während ich Master Shelton herausfordernd anstarrte. Er wich meinem Blick beharrlich aus und fixierte einen Punkt an der Wand vor sich, doch ich wusste, dass er wie ein Vulkan explodieren würde, sollte ich einen Fluchtversuch wagen. Er hatte die Reflexe eines Soldaten – was der Grund war, warum es mich einigermaßen verwirrte, dass er nicht wahrzunehmen schien, wie sich Sidney aus dem Alkoven stahl, in den er zurückgewichen war.
Nun, da Sidney sich entfernt hatte, bewegten sich die Vorhänge.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit dem Bett zu. Inzwischen hatte Mistress Alice das Pulver mit der Flüssigkeit im Kelch verrührt. Edward zeigte keine Regung, noch protestierte er, als sich Lady Dudley über ihn beugte, um die Decken und Kissen zu glätten. Stumm starrte er sie aus unbeweglichen, von Schmerzen verschatteten Augen an, als sie Mistress Alice den Kelch abnahm und ihm die freie Hand hinter den Kopf schob, um ihn zu stützen, während sie ihm mit der anderen den Kelch an die Lippen hielt.
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