Der Scherge ließ mich los und drosch mir die Faust mit solcher Wucht ins Gesicht, dass ich der Länge nach hinfiel.

»Schluss damit«, mahnte die Herzogin. »Es muss aussehen, als hätte er sich einfach verlaufen. Keine Wunden, keine blauen Flecken, die nichts mit seinem Tod zu tun haben. Es darf keine Hinweise auf Gewalt geben.«

»Sehr wohl, Eure Durchlaucht«, murmelte Stokes. Meine Wange war aufgeplatzt, und warmes Blut rann mir über das Gesicht. Wie durch einen Schleier sah ich, wie die Herzogin sich umdrehte und zur Tür stapfte.

»Eure Durchlaucht!«, rief ich ihr nach. Sie blieb stehen. »Ich … ich würde gern den Grund für meinen Tod wissen.«

Sie bedachte mich mit einem abschätzigen Blick. »Dein Überleben war nicht vorgesehen. Du bist eine Missgeburt.«

Damit trottete sie, gefolgt von dem Henkersknecht, hinaus. Stokes trippelte ebenfalls zur Tür. Bevor er sie zuschlug, sagte er: »Halt lieber nicht die Luft an. Dann stirbst du schneller – zumindest habe ich das gehört.«

Die Tür knallte zu. Mit einem Scheppern schnappte der Riegel ein.

Allein in der Dunkelheit, begann ich zu schreien.

17

Ich schrie, bis mir die Stimme versagte. Ich konnte einfach nicht glauben, dass ich so enden sollte, wollte die Mauern zu Staub brüllen, mich mit bloßen Händen ins Freie graben. Jetzt glaubte ich zu verstehen, wie es den für das Schlachten vorgesehenen Tieren ergehen musste, wenn sie auf ihren Metzger warteten.

Ohne zu merken, was ich tat, hatte ich begonnen, auf und ab zu schreiten. Es war verblüffend, wie viel mir auf einmal klar wurde – verblüffend und erschreckend. Meine Ankunft am Hof musste von Lady Dudley bis in alle Einzelheiten geplant gewesen sein, damit sie die Herzogin zwingen konnte, auf ihren Rang in der Thronfolge zu verzichten. Und wenn das zutraf, wusste Lady Dudley etwas Bestimmtes über mich. Das wiederum war der Grund, warum sie mich in ihre Obhut genommen hatte. Die Frau, die mich verachtet und erniedrigt, zum Ausmisten in den Stall geschickt und meine Auspeitschung befohlen hatte, als ich ein Buch lesen wollte – diese Frau hütete das Geheimnis um meine Vergangenheit.

Il porte la marque de la rose

Eine Welle der Verzweiflung schlug über mir zusammen. Doch ich kämpfte dagegen an, weigerte mich aufzugeben. Das alles konnte ja eine Illusion sein, sagte ich mir, irgendeine Manipulation.

Während ich, von Schmerz und Zorn erfüllt, in meiner Zelle auf und ab lief und im Sinnlosen einen Sinn zu finden suchte, achtete ich nicht auf die feinen Veränderungen in der Luft um mich herum, auf das Gurgeln, das den Anfang vom Ende ankündigte. Doch auf einmal hörte ich Wasser über den Steinboden plätschern, spürte es kalt meine Füße umspülen.

Jäh wirbelte ich herum, nur um zu sehen, wie sich von unten schwarze Fluten auf das Gitter zuwälzten.

Wie angewurzelt stand ich da. Die Flut wurde mächtiger, schneller und trug einen Geruch nach Fäulnis und Meer heran. Mit unaufhaltsamer Gewalt strömte sie durch unterirdische Kanäle in die kleine Zelle. Binnen weniger Minuten war der Boden überschwemmt.

Ich wich zur Tür zurück. Einen Riegel oder ein Schlüsselloch gab es nicht. Mehrere wütende Tritte bestätigten mir, dass ich gar nicht davon zu träumen brauchte, sie aufzubrechen. Angst schnürte mir die Brust zu. Das Flusswasser würde einfach weiter hereindrängen, bis es die Zelle bis zur Decke gefüllt hatte.

Wenn ich keinen Ausweg fand, ertrank ich darin.

Einen Moment lang verweigerte mein Körper jede Bewegung. Dann stürmte ich vorwärts und folgte nur noch meinem Instinkt. Ich erreichte den Rand des Gitters, wobei ich mich der Strömung entgegenstemmen musste, und beugte mich darüber. Dann kniete ich mich auf den Boden, packte die äußere Stange und zerrte unter Aufbietung meiner letzten Kraftreserven an dem Rost. Mochten meine Muskeln von der Anstrengung brennen, die Knie schmerzen und das Wasser mir mittlerweile bis zu den Hüften steigen, ich zog verzweifelt daran.

Nichts. Ich verstärkte meinen Griff, spannte wieder sämtliche Kräfte an. Rostige Metallsplitter bohrten sich mir in die Hände.

»Rühr dich«, flüsterte ich. »Rühr dich. Rühr dich!«

Mit einem Knirschen löste sich das Gitter. Ich riss meine Arme nach oben, um meinen Kopf zu schützen, als ich nach hinten stürzte. Keuchend und schleimiges Wasser ausspuckend, rappelte ich mich auf. Das Gitter hatte sich nur nach außen gedreht. Darunter gähnte ein enger Schlund. Ich konnte mich unmöglich hindurchzwängen.

Unaufhaltsam stieg das Wasser weiter an.

Immer noch konnte ich nicht glauben, dass ich sterben würde.

Szenen meiner kurzen Zeit am Hof zogen an mir vorüber. Wieder sah ich das Tollhaus, das Labyrinth von Whitehall, die Gesichter derer, die ich kennengelernt hatte und die meinen Untergang herbeigeführt hatten. Ich dachte an Peregrine. Von ihnen allen würde er vielleicht als Einziger um mich trauern. Und als ich meine Wehmut nicht mehr ertragen konnte, rief ich mir Kate Stafford ins Gedächtnis und den Moment, als sie mich geküsst hatte. Und ich betrachtete die Zwillingssonnen in Elizabeths Augen.

Elizabeth.

Glühend strömte das Blut durch meine Glieder. Ich konnte spüren, wie das Wasser an mir hochkroch, mit klammen Fingern gierig meine Brust betastete. Dann stellte ich mir den Geschmack des Todes in meinem Mund und die Lungen voller Schlick vor. Wütend fuhr ich herum, hämmerte gegen den noch nicht unter Wasser stehenden oberen Teil der Tür und stieß erneut wilde Schreie aus. Es muss ein Gebrüll wie von wilden Tieren gewesen sein. Ob jemand antwortete, war mir in diesem Moment nicht so wichtig. Ich wehrte mich schlichtweg dagegen, in Stille zu ertrinken.

Dann, wie von der anderen Seite einer Schlucht, vernahm ich plötzlich einen schwachen Ruf. »Brendaaaan!«

Ich hielt inne, presste das Ohr an die Tür, lauschte.

»Brendan! Brendan, bist du da?«

»Ich bin hier! Hier!« Ich trommelte gegen das Holz, bis meine Knöchel bluteten. »Hier! Ich bin hier!« Meine Knie wollten nachgeben, als das gedämpfte Platschen von den durch Wasser watenden Füßen lauter wurde und geradewegs auf mich zukam. »Mach auf! Mach auf!« Unsichtbare Hände ruckelten am Riegel, zogen ihn zurück.

»Vorsicht!«, schrie ich. »Die Zelle ist überflutet. Spring zurück, bevor …«

Ich wurde von den Füßen gerissen und von den hinausflutenden Wassermassen an die Wand gegenüber geschleudert. Nur noch ein formloser, tropfnasser Lumpen, glitt ich zu Boden.

Über dem Tosen herrschte Stille. Sie wurde durchbrochen von einer verängstigten Stimme. »Lebst du noch?«

»Wenn ich tot bin, musst du es auch sein«, murmelte ich. Arme so massiv wie Marmor wuchteten mich hoch. Vor mir standen zwei Gestalten; eine davon war Peregrine. Die andere, ein Riese mit karottenrotem Schopf, kantigem Kinn und von Pickeln verunstaltetem Gesicht, war ein Fremder.

»Was ist denn mit dir passiert?«, fragte Peregrine entsetzt. »Du siehst ja schrecklich aus.«

»Das würdest du auch, wenn dich jemand als Bärenköder benutzt hätte.« Ich blickte den Fremden an. »Danke.«

Der Riese nickte. Seine von Sommersprossen bedeckten Hände, groß wie Schaufeln, hingen reglos an ihm herab. Ich wandte mich Peregrine zu. »Wie habt ihr mich gefunden?«

»Das hier.« Er zeigte mir mein zerknittertes Wams. »Wir haben es am Eingang liegen sehen. Und als Barnaby einen Mann weglaufen sah, haben wir uns auf die Suche nach dir gemacht.«

»Dieses alte Kloster mit den unterirdischen Kreuzgängen und Zellen gehörte früher den Greyfriars«, ergänzte der Mann namens Barnaby, »aber dann hat Henry sie rausgeworfen. Es ist seit Jahren verwaist. Wenn sich jetzt noch jemand hier herumtreibt, verfolgt er höchstwahrscheinlich keine guten Absichten. Und als ich diesen Mann sah, war mir sofort klar, dass etwas nicht stimmte.«

Ich zog das Wams wieder an, dankbar, etwas Trockenes am Leib zu haben. Ich war bis auf die Knochen durchgefroren.

»So richtig konnten wir ihn nicht sehen«, berichtete Peregrine weiter. Er war aufgeregt, jetzt, da ihm dämmerte, dass sie mir gerade das Leben gerettet hatten. »Es war schon zu dunkel, und er war ganz in Schwarz gekleidet. Aber Barnaby ist er trotzdem aufgefallen. Der Bursche hat richtige Habichtsaugen – zu deinem Glück. Und wenn wir nicht zufällig dein Wams entdeckt hätten, wären wir nie auf die Idee verfallen, hier unten nach dir zu suchen.« Er verstummte und betrachtete mich voller Ehrfurcht. »Jemand muss sich deinen Tod wirklich dringend gewünscht haben.«

»Allerdings. Hatte dieser Mann jemanden dabei?« Eigentlich hatte ich es gar nicht mehr nötig, mich nach dem Mann in Schwarz zu erkundigen. Ich wusste ja längst, wer er war.

Barnaby schüttelte den Kopf. »Er war allein. Merkwürdig – man hätte meinen können, er wollte von uns gesehen werden. Er hätte alle möglichen Wege nehmen können, legte es aber darauf an, unmittelbar vor unseren Augen herumzuspazieren.«

Endlich hatte ich Zeit, mich zu sammeln. Ich fuhr mir mit der Hand durch das schlammbedeckte Haar, dann verbeugte ich mich vor dem jungen Riesen. »Ihr müsst Master Fitzpatrick sein, König Edwards Freund. Darf ich mich Euch vorstellen? Ich bin Brendan Prescott. Ich verdanke Euch mein Leben.«

Er konnte nicht älter als achtzehn Jahre sein. Groß und von der Statur eines Wachturms, war er trotz seines pickligen Gesichts und seiner unter der Kappe hervorquellenden strähnigen roten Mähne alles andere als hässlich – im Gegenteil. Der Größe seiner Hände und des durchnässten Wamses nach zu schließen, musste er derjenige gewesen sein, der die Tür zur Zelle geöffnet hatte.