So schwer es mir fiel, mich mit diesem Gedanken anzufreunden, jetzt war ich auf dem Weg zu Robert, um ihm zu dienen. Keine Geringere als seine Mutter hatte es befohlen. Aber natürlich zogen Adelsfamilien unglückliche Findelkinder wie mich nicht aus reiner Nächstenliebe auf. Mir war von Anfang an klar gewesen, dass der Tag kommen würde, an dem sie meine Schuld bei ihnen einfordern würden.

Meine Gedanken waren mir wohl am Gesicht abzulesen, denn Master Shelton räusperte sich und murmelte verlegen: »Du brauchst dich nicht zu grämen. Du und Lord Robert, ihr seid jetzt erwachsene Männer. Achte einfach auf deine Manieren, und tu, was er dir aufträgt, dann geht alles gut für dich aus. Du wirst schon sehen.« Und in einem neuerlichen Anflug von Empfindsamkeit tätschelte er mir die Schulter. »Mistress Alice wäre stolz auf dich. Sie hat immer daran geglaubt, dass aus dir etwas wird.«

Plötzlich schnürte sich mir die Kehle zu. Wieder sah ich sie vor meinem inneren Auge, wie sie mahnend den Finger hob, während auf dem Herd der Topf mit den Kräutern blubberte und ich mit den von der frisch gekochten Marmelade verklebten Lippen und Fingern wie verzaubert dasaß. »Du musst immer zu Großem bereit sein, Brendan Prescott«, pflegte sie mir vorzuhalten. »Wir können nicht wissen, wann wir dazu aufgerufen werden, uns über unser Schicksal zu erheben.«

Ich wandte die Augen ab und gab vor, die Zügel anzuziehen. Das nun eintretende Schweigen wurde nur vom steten Klipp-klapp der Hufe auf den mit getrocknetem Lehm bedeckten Pflastersteinen durchbrochen.

Schließlich brummte Master Shelton: »Hoffentlich passt deine Livree. Du könntest ein bisschen Fleisch auf deinen Knochen durchaus vertragen, aber deine Haltung ist gut. Hast du regelmäßig mit dem Kampfstab geübt, wie ich es dich gelehrt habe?«

»Jeden Tag«, antwortete ich und zwang mich, zu ihm aufzusehen. Master Shelton hatte keine Ahnung davon, was ich in den letzten Jahren noch alles geübt hatte.

Es war Mistress Alice, die mich mit dem Gebrauch der Buchstaben vertraut gemacht hatte. Sie selbst war eine Seltenheit gewesen: Als gebildete Kaufmannstochter war sie in Not geraten, und nachdem sie in den Dienst der Dudleys getreten war, um »Leib und Seele zusammenzuhalten«, wie sie gerne sagte, hatte sie mir immer gepredigt, dass unser Geist nur eine einzige Grenze hatte – diejenige, die wir uns selbst setzten. Nach ihrem Tod hatte ich mir geschworen, meine Studien zu ihrem Gedenken fortzusetzen. Von da an beeindruckte ich den Mönch mit dem fauligen Atem, den Master Shelton gedungen hatte, mit derart glühendem Eifer, dass er mich bald durch die Feinheiten von Plutarchs Stil lotste. Oft blieb ich ganze Nächte lang wach und las Bücher, die ich aus der Bibliothek der Dudleys entwendet hatte. Die Familie hatte Regale voller schwerer Bände erworben, hauptsächlich, um mit ihrem Wohlstand zu prahlen, denn ihre Söhne hielten sich mehr auf ihr Geschick bei der Jagd zugute als auf irgendeine Begabung für die Feder. In meinem Fall dagegen wurde das Lernen zur Leidenschaft. In diesen muffigen Schwarten entdeckte ich eine Welt ohne Beschränkungen, in der ich sein konnte, wer immer ich sein wollte.

Ich unterdrückte ein Lächeln. Auch Master Shelton war des Lesens und Schreibens kundig. Das musste er auch sein, um die Geschäftsbücher des Hauses Dudley zu führen. Gleichwohl legte er Wert darauf zu betonen, dass er nie mehr anstrebte, als ihm aufgrund seines Geburtsrechts zustand, und dass er solche Anmaßung bei anderen ebenfalls nicht dulden würde. Seiner Auffassung nach sollte kein Diener, so fleißig er auch sein mochte, danach streben, Gespräche über die humanistische Philosophie eines Erasmus oder die Traktate von Thomas Morus zu führen, und schon gar nicht in fließendem Französisch oder Latein. Und ich bezweifle stark, dass er begeistert gewesen wäre, wenn er gewusst hätte, wie viel von seinen Zahlungen an den Lehrer gerade dafür verwendet worden war.

Schweigend ritten wir weiter und erreichten die Kuppe des Hügels. Da sich die Straße unter uns von hier an durch eine baumlose Ebene zog, stach mir die Leere des Landes ins Auge. Von den Midlands her war ich einen weiten Blick gewohnt, und wir waren auch noch gar nicht weit von ihnen entfernt – dennoch fühlte ich mich, als beträte ich fremdes Hoheitsgebiet.

Rauch zog sich über den Himmel wie ein schmieriger Fingerabdruck. Ich bemerkte Zwillingstürme, dann massive Mauern, die sich in einem weiten Bogen um eine ausgedehnte Siedlung mit Wohngebäuden, Kirchtürmen, am Flussufer gelegenen Herrenhäusern und einem schier endlosen Gitterwerk von Straßen auftürmten – und all das wurde von der Themse geteilt.

»Das ist sie«, erklärte Master Shelton. »Die große Stadt. London. Du wirst den Frieden des Landlebens früh genug vermissen – wenn dich nicht schon vorher Halsabschneider oder die Pest erwischen.«

Ich konnte nur noch starren. London wirkte genauso riesig und unheilvoll, wie ich es mir vorgestellt hatte, und am Himmel segelten Rotmilane, als gäbe es in der Stadt Aas zuhauf. Doch als wir uns den gewundenen Mauern näherten, erspähte ich in ihrem Umkreis mit Nutztieren gesprenkelte Weiden, Kräuter- und Obstgärten und reiche Weiler. Allem Anschein nach konnte sich London auch großer ländlicher Gebiete rühmen.

Wir erreichten eines der sieben Tore der Stadt. Verzaubert nahm ich alles in mich auf, was sich meinen Augen darbot: eine Gruppe übertrieben vornehm gekleideter Kaufleute, die auf einem Ochsenkarren hockte, einen Kesselflicker, der auf den Schultern ein mit klirrenden Messern und Kupfer behängtes Joch trug und dabei lauthals sang, eine Horde von Bettlern, Lehrjungen, geschäftigen Handwerksgesellen, Metzgern, Kürschnern und Pilgern. Mit einem Mal brach ein Streit mit den Torwächtern aus, die der Menge abrupt Stillstand befohlen hatten. Als Master Shelton und ich uns ebenfalls in die Schlange einreihten, blickte ich zu dem über mir aufragenden Tor hoch, umrahmt von zwei wuchtigen Gefechtstürmen, mit ihren von Ruß geschwärzten Schießscharten.

Jäh erstarrte ich. Aufgespießt auf Pfählen, starrte aus blinden Augen eine Sammlung von blutbesudelten Köpfen auf mich herab – ein gespenstisches Festmahl für die Raben, die gierig an dem faulenden Fleisch zerrten.

»Papisten«, knurrte Master Shelton neben mir. »Seine Lordschaft hat befohlen, dass ihre Schädel als Warnung zur Schau gestellt werden sollen.«

Papisten waren Katholiken. Nach ihrem Glauben war nicht unser Monarch das Oberhaupt der Kirche, sondern der Papst in Rom. Mistress Alice war Katholikin gewesen. Obwohl sie mich dem Gesetz gemäß nach den Grundsätzen des reformierten Glaubens erzogen hatte, hatte ich sie nachts oft den Rosenkranz beten sehen.

In diesem Moment fiel mir wie Schuppen von den Augen, wie weit ich hier von dem Ort entfernt war, den ich als mein Zuhause gekannt hatte, das einzige, das ich je gehabt hatte. Dort ließ man die Leute einfach so gewähren, wie sie wollten. Niemand machte sich die Mühe, die örtlichen Behörden zu holen und irgendjemandem Ärger zu bescheren. Hier dagegen konnte derlei einen Menschen anscheinend den Kopf kosten.

Ein struppiger Wächter schlurfte auf uns zu und wischte sich im Gehen die fettverschmierten Hände an seinem Rock ab. »Keiner darf rein!«, bellte er. »Die Tore sind auf Geheiß Seiner Lordschaft geschlossen!« Er stockte abrupt, als er das Abzeichen an Master Sheltons Umhang bemerkte. »Bist du einer von Northumberlands Männern?«

»Der Haushofmeister seiner Gemahlin.« Master Shelton zog eine Rolle mit Dokumenten aus seiner Satteltasche. »Hier habe ich Pässe, die mir und dem Jungen freies Geleit sichern. Wir werden am Hof erwartet.«

»Ach, wirklich?« Der Wächter grinste ihn hämisch an. »Jeder erbärmliche Wicht behauptet, er würde irgendwo erwartet. Der Pöbel redet viel. Erst gehen diese Gerüchte von der tödlichen Krankheit Seiner Majestät um, und jetzt verbreiten sie diesen Unsinn, dass Prinzessin Elizabeth mitten unter uns sein soll.« Er zog Schleim hoch und spuckte ihn aus. »Idioten, sag ich! Die würden sogar glauben, dass der Mond aus Seide ist, wenn genug Leute das beschwören.« Er gab sich gar nicht erst damit ab, unsere Papiere zu überprüfen. »An eurer Stelle würde ich mich von Menschenmengen fernhalten«, riet er uns und winkte uns durch.

Ungestört ritten wir weiter und am Torhaus vorbei. In unserem Rücken hörte ich die wütenden Schreie der anderen, die nicht durchgelassen wurden. Master Shelton verstaute die Dokumente wieder in seiner Satteltasche. Als er seinen Umhang auseinanderschlug, kam ein an seinen Rücken geschnalltes Breitschwert zum Vorschein. Einen Moment lang bannte mich der Anblick der Waffe. Verstohlen griff ich nach meinem Dolch – ein Geschenk von Master Shelton zu meinem vierzehnten Geburtstag –, der mitsamt Scheide in meinem Gürtel steckte.

»Seine Majestät, König Edward … liegt er tatsächlich im Sterben?«, wagte ich zu fragen.

»Natürlich nicht!«, schnaubte Master Shelton. »Der König ist ein bisschen krank, das ist alles. Und daran geben die Leute dem Herzog die Schuld, wie sie ihn für praktisch alles verantwortlich machen, was in England nicht stimmt. Absolute Macht, mein Junge, hat eben ihren Preis.« Er schob den Unterkiefer vor. »Doch jetzt halt die Augen offen. Du kannst nie wissen, wann du an einen Halunken gerätst, der dir im Handumdrehen die Kehle aufschlitzt, nur weil er auf deine Kleider aus ist.«

Das glaubte ich ihm sofort. London war ganz und gar nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Statt den friedlichen, auf beiden Seiten von Geschäften gesäumten Prachtalleen aus meinen Fantasievorstellungen durchquerten wir ein Gewirr von krummen Gassen, wo sich gewaltige Abfallberge auftürmten und Durchgänge in finstere, Unheil verkündende Hinterhöfe führten. Über uns lehnten sich ganze Reihen von verfallenen Häusern aneinander, sodass sich ihre morschen Giebel geradezu ineinander verkeilten. Sonnenlicht drang kaum noch nach unten. Hier herrschte gespenstische Stille, als wären alle Bewohner verschwunden, eine Ruhe, die umso beängstigender wirkte, nachdem am Tor gerade noch ein solches Getöse geherrscht hatte.