Meine Stimme erstarb. Eine Fliege summte über der völlig in Vergessenheit geratenen Früchteplatte auf der Anrichte. Ich wagte es kaum, den unterbrochenen Gedanken zu Ende zu führen.
»Seht Ihr?«, sagte Cecil ruhig. »Ihr lernt, und zwar schnell. Ja, Lady Mary ist die Nächste in der Thronfolge. Aber sie ist auch eine bekennende Katholikin, die sich jedem Versuch widersetzt hat, sie für einen Konfessionswechsel zu gewinnen. Abgesehen davon wird England sich nie wieder eine Einmischung von Rom gefallen lassen. Ihre Hoheit dagegen wurde im reformierten Glauben erzogen. Außerdem ist sie siebzehn Jahre jünger als Mary und kann mit Sicherheit einen männlichen Erben hervorbringen. Das Volk möchte viel lieber sie auf dem Thron sehen als ihre papistische Schwester. Und genau das kann der Herzog ihr bieten: England. Eine Versuchung, der kaum jemand widerstehen kann.«
Ich griff nach meinem Kelch und nahm einen tiefen Zug. Die Religion. Der ewige Zankapfel. In ihrem Namen fanden Menschen den Tod. Ich hatte ihre auf Geheiß des Herzogs an den Toren Londons aufgespießten Köpfe gesehen.
War er fähig, einer Prinzessin das Gleiche anzutun? Denn das war es, was Cecil andeuten wollte. Damit Elizabeth den Thron erben konnte, musste Mary tot sein. Ich konnte mir nicht anmaßen, einen Menschen zu durchschauen, den ich allenfalls ein halbes Dutzend Mal im Leben gesehen hatte und dessen Wertvorstellungen den meinen in nichts entsprachen. War er zu so etwas fähig? Wenn es um sein eigenes Überleben ginge, würde er wohl vor nichts zurückschrecken. Doch irgendetwas störte mich ganz gewaltig bei diesem Gedanken, und ich brauchte mehrere Sekunden, um das Problem zu erkennen. Dann aber nannte ich es ohne Umschweife beim Namen.
»Ihre Hoheit würde niemals dem Mord an ihrer eigenen Schwester zustimmen.«
»Nein«, bestätigte Cecil zu meiner Erleichterung. »Sie und Mary haben sich nie sonderlich nahegestanden, aber Ihr habt recht. Sie würde sich nie in ein Komplott zum Verrat hineinziehen lassen, jedenfalls nicht wissentlich. Das ist, wie ich hoffe, der eine verhängnisvolle Fehler im Plan des Herzogs. Er unterschätzt sie – wie schon immer. Sie will auf den Thron, aber erst, wenn die Zeit dafür reif ist.«
Es ging also um Hochverrat. Die Dudleys intrigierten gegen den König und seine beiden Schwestern. Ich konnte Elizabeths Stimme hören, als flüsterte sie mir ins Ohr.
Ich würde lieber nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden – so mancher hat schon für weniger den Kopf eingebüßt.
Sie hatte mich gewarnt. Sie wollte deshalb nicht fort von London und zurück auf ihr Landgut, weil sie die Absichten des Herzogs erkannt hatte und vermeiden wollte, dass ihretwegen Menschenleben aufs Spiel gesetzt wurden. Sie wusste ganz genau, dass sie sich am Hof in die Höhle des Löwen begeben hatte.
Ich holte den Ring hervor. »Robert wollte, dass ich ihr den gebe. Sie hat ihn nicht akzeptiert. Er weiß es nur noch nicht.«
Cecil atmete auf. »Gott sei Dank.« Sein Lächeln war ohne Wärme. »Euer Herr hat sich übernommen. Bestimmt hätte sein Vater eine so offensichtliche Geste nicht gutgeheißen. Dies dürfte wohl dazu beigetragen haben, dass Ihre Hoheit sich entschieden hat hierzubleiben. Nun, da sie Roberts Spiel durchschaut, wird sie versuchen, es sich zunutze zu machen, um zu ihrem Bruder zu gelangen.« Er sah mich bedauernd an. »Ich wünschte, Ihr hättet mehr Zeit, Euch die Sache zu überlegen, doch wie Ihr Euch schon denken könnt, ist die Zeit leider dasjenige Gut, das uns fehlt. Vielleicht bleiben uns nur noch wenige Tage, um Ihre Hoheit zu retten.«
Ich warf einen Blick zum Fenster hinaus. Eine Frau kam gerade mit einem hinkenden Kind an der Hand in den Garten. Sie lächelte, als der Junge auf irgendetwas am Fluss deutete, das ich nicht sehen konnte, ein Boot vielleicht, oder ein Schwarm Schwäne. Sie bückte sich, um ihn auf die Wange zu küssen, und schob ihm eine widerspenstige Locke unter die Mütze.
Trostlosigkeit öffnete sich in mir wie ein Abgrund. Der Anblick weckte Erinnerungen an Mistress Alice und – weniger anrührend – an Master Shelton. Der Haushofmeister würde mir das nie verzeihen, was er nur als Verrat an der Familie begreifen konnte, die mich am Leben erhalten hatte. Aber Alice hätte es verstanden. Von allem, was sie mich gelehrt hatte, hatte ich den Grundsatz, sich selbst treu zu bleiben, stets in meinem Herzen getragen.
Doch ich hatte nie die Gelegenheit gehabt, mich nach dieser Wahrheit zu richten. Als Waisenkind und rechtloser Knecht hatte ich immer ums Überleben kämpfen müssen. Nie hatte ich weiter nach vorn blicken können, als die Erfordernisse des Tages es verlangten. Die einzige Ausnahme stellte mein heimliches Lernen dar, doch das hatte nur dazu gedient, meine Überlebensfähigkeit zu verbessern. Gleichwohl konnte ich nicht leugnen, dass ich mich mit jeder Faser nach der Freiheit sehnte, mein Schicksal selbst zu gestalten und der Mann zu werden, der ich sein wollte, nicht der, zu dem meine Herkunft mich verurteilt hatte.
Ich wandte mich wieder Cecil zu. »Was genau wollt Ihr von mir?«
Er lächelte. »Vielleicht sollte die Frage eher lauten: Was wollt Ihr? Ich nehme an, Ihr wollt doch zumindest bezahlt werden.«
Ich wusste durchaus, was ich wollte. Was ich nicht wusste, war, ob ich es ihm anvertrauen sollte, auch wenn ich in meiner Situation niemanden sonst sah, dem ich vertrauen konnte. Wie lauteten seine Worte?
Die Wahrheit ist selten das, was wir uns erhoffen …
Ich fragte mich, ob er recht hatte.
»Ihr müsst Euch nicht gleich entscheiden«, sagte Cecil. »Vorerst kann ich Euch nur Freiheit von der Fronarbeit für den Rest Eures Lebens versprechen, und dazu natürlich eine Stelle auf Dauer in meinen Diensten.« Er griff nach einem Rechnungsbuch. Ein kurzes Schweigen trat ein. Dann sagte er mit erstaunlichem Einfühlungsvermögen: »Meiner Meinung nach hungern Menschen nach mehr als materieller Befriedigung. Tut Ihr das auch? Hungern, meine ich?«
Er blickte auf. Ob er mein Zögern sah? Wieder musste ich an die Worte denken, die zwischen Lady Dudley und der Herzogin von Suffolk gefallen waren. Eine Wahrheit verbarg sich darin, wenn auch verworren und verzerrt. Doch darüber konnte ich nicht sprechen. Und ich konnte diesem Mann nicht alles anvertrauen. Letztlich war er immer noch ein Fremder.
Schweigen trat ein. Als er weitersprach, war seine Stimme leise. »Ich mache es mir zur Aufgabe, diejenigen, die meinen Weg kreuzen, genau zu beobachten; und Ihr seid jemand, der ein Geheimnis mit sich herumträgt. Ihr verbergt es gut, aber ich kann es Euch ansehen. Und wenn ich das kann, können es auch andere. Nehmt Euch in Acht, damit es nicht eines Tages gegen Euch verwendet wird, wenn Ihr es am wenigsten erwartet.«
Er hielt inne. »Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass meine Rolle in dieser Angelegenheit natürlich anonym bleiben muss«, fügte er hinzu. »Die Sicherheit der Prinzessin hat natürlich jederzeit absoluten Vorrang. Und es sollte klar sein, dass Ihr meine Befehle ohne Umschweife befolgen müsst. Versteht Ihr? Jede Eigenmächtigkeit Eurerseits könnte unseren ganzen Plan vereiteln. Ihr seid nicht der Einzige, der sich bemüht, sie zu retten. Ihr müsst lernen, sogar denen zu vertrauen, die Ihr nicht kennt oder nicht leiden könnt.«
Ich holte tief Luft. »Ich habe verstanden.«
»Gut. Einstweilen werdet Ihr weiter Lord Robert zur Seite stehen. Beobachtet alles, was er sagt und tut. Ihr werdet noch Weisung erhalten, wie Ihr Eure Informationen weiterzugeben habt, wenn es so weit ist. Und falls sich unsere Pläne ändern, werdet Ihr ebenfalls rechtzeitig in Kenntnis gesetzt werden.« Von dem Aktenstapel neben sich nahm er eine Mappe und schlug sie auf. »Hier seht Ihr eine maßstabgetreue Karte von Greenwich. Prägt sie Euch gut ein. Ich weiß nicht genau, wann, aber ich glaube, während der Hochzeitsfeierlichkeiten von Guilford und Lady Jane wird der Herzog zur Tat schreiten. Ehe es so weit kommt, müssen wir die Prinzessin an einen sicheren Ort schaffen.«
Ich nickte und beugte mich über die Karte, während Cecil mir meinen Auftrag erklärte.
11
Ich verließ das Herrenhaus an der Themse reichlich benommen. Die Geräusche der Stadt überfielen mich, erinnerten mich daran, dass ich spät dran war für meinen Rapport bei Robert. Ich beschleunigte meine Schritte. Cecil hatte mir versichert, der Palast sei nicht allzu weit entfernt. Er hatte mir sogar Geleit angeboten, das ich jedoch höflich abgelehnt hatte. Je weniger ich von Walsingham und seinen Schlägern sah, desto besser.
Die Sonne zeichnete flirrende Lichtfinger aufs Wasser. Eine drückende Schwüle hing in der Luft. Der Tag versprach, glutheiß zu werden, sobald der letzte Rest von Morgenfrische verflogen war; Kaufleute und Händler gingen bereits emsig ihren Geschäften nach.
Niemand schien mich zu bemerken, doch für alle Fälle zog ich die Kappe tiefer über die Stirn. Ich war mir nur zu deutlich des Wappens auf meinem Ärmel bewusst, das verriet, zu wem ich gehörte, und es bedurfte all meiner Willenskraft, es nicht abzureißen. Ich würde lernen müssen, meinen Abscheu vor den Dudleys zu verbergen, wenn ich Robert von meiner unverbrüchlichen Treue überzeugen wollte.
Denn nun war ich ein Spion: Ich würde für Master Cecil Spitzeldienste leisten, um Prinzessin Elizabeth zu helfen. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass es einmal so weit kommen würde. Gestern erst war ich als Grünschnabel in London eingeritten und hatte nichts anderes im Sinn gehabt, als mich auf meinem neuen Posten zu bewähren. Einen Tag später kehrte ich mit Verrat im Herzen zu meinem Dienstherrn zurück. Es fiel mir schwer, meine Gefühle angesichts dieser Doppelzüngigkeit miteinander zu vereinbaren, bis ich an die verängstigte junge Frau dachte, die da in ihrem weinbefleckten Kleid allein in einem zugigen Korridor gestanden hatte.
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