Quin warf ihr einen Blick zu, sagte aber nichts. Statt dessen nahm er das Handtuch und breitete es auf dem Parkettboden aus. Dann ging er daran, den Korb auszupacken.
Es gab eine Pastete und eine Dose Fasanenbrust. Es gab frische, in schneeweiße Servietten eingeschlagene Brötchen und Butterröllchen in einem Deckelschälchen. Er hatte die ersten Kirschen mitgebracht und zwei Töpfchen mit Schokoladencreme. Die Teller waren aus Porzellan; die langstieligen Gläser aus Kristall.
«Ich glaube, der Wein wird Ihnen schmecken», bemerkte Quin, als er die Flasche herausnahm. «Sogar an den Korkenzieher habe ich gedacht.»
«Wie haben Sie das nur fertiggebracht? Wo haben Sie das alles bekommen? Woher haben Sie die Zeit genommen?»
«Ich bin ganz einfach in einen Laden marschiert und habe gesagt, was ich will. Es hat ganze zehn Minuten gedauert. Ich brauchte nur noch zu bezahlen.»
Sie beobachtete ihn, wie er auftischte, erstaunt, daß er sie so bediente. War das englische Art oder war es ein persönlicher Vorzug von ihm? Ihr Vater – alle Männer, die sie kannte, hätten es sich bequem gemacht und sich von den Frauen bedienen lassen.
Als sie zu essen begann, merkte sie erst, daß sie völlig ausgehungert war; sie hatte Mühe, sich ihrer Tischmanieren zu erinnern.
«Das schmeckt wunderbar. Und der Wein ist köstlich. Er ist doch nicht zu schwer, oder?»
«Na ja ...» Er wollte zur Vorsicht mahnen, entschied sich aber dagegen. Sie hatte ein Recht auf ruhigen Schlaf in dieser Nacht, und wie man ihr den verschaffte, war gleichgültig.
«Wo leben Ihre Eltern jetzt?» fragte er etwas später, als sie Seite an Seite an den Heizkörper gelehnt saßen. «Ich meine, in welchem Teil Londons?»
«In Belsize Park. Kennen Sie die Gegend?»
«Ja.» Bilder der tristen Straßen mit ihren heruntergekommenen viktorianischen Reihenhäusern, der von Katzen übervölkerten Gärten eines einst wohlhabenden Vororts zogen an seinem inneren Auge vorbei. «Viele Flüchtlinge leben dort», sagte er aufmunternd. «Und es ist ganz in der Nähe von Hampstead Heath, einer wunderschönen Gegend.» (In der Nähe, aber nicht ganz in der Nähe ... Hampstead auf der Anhöhe war eine andere Welt mit hübschen kleinen Häusern, Magnolien und blauen Schildern an den Häusern, die mitteilten, daß hier eine Menge berühmter Leute gelebt hatten.) «Wird Ihr Vetter Heini auch dorthin kommen?»
«Ja. Sobald er in Budapest sein Visum erhalten hat. Er ist ja Ungar, und dort haben die Nazis nichts zu sagen. Er mußte schnell von hier weg, weil er Volljude ist. Nach dem Tod der Ziegenhirtin hat mein Großvater nämlich noch einmal geheiratet, die Tochter eines Rabbiners, die schon eine kleine Tochter hatte – sie war Witwe –, und das war Heinis Mutter. Wir sind also nicht blutsverwandt.» Ihr Glas mit beiden Händen umschlossen haltend, wandte sie sich ihm zu. «Er ist ein großartiger Pianist. Ein wahrer Künstler. Er sollte mit den Philharmonikern sein Debüt geben – drei Tage nach Hitlers Einmarsch ...» Sie zog sich einen Moment hinter ihr Haar zurück.
«Und Sie beide wollen heiraten?»
«Ja ... Das heißt, Heini spricht kaum vom Heiraten. Er ist ja Musiker – Künstler ... Solche Menschen halten nicht viel von bürgerlichen Dingen wie Heirat und so. Aber wir wollen zusammenleben. Ganz ordnungsgemäß, meine ich. Nach dem Konzert wollten wir eigentlich zusammen weggehen, nach Italien. Ich wäre schon früher gegangen, aber meine Eltern sind sehr altmodisch ... außerdem hat mich die Geschichte von Chopin und seinen Etüden davon abgehalten.»
Quins Hand, die eben die Gabel zum Mund führen wollte, blieb in der Luft hängen. «Nehmen Sie es mir nicht übel, aber da komme ich leider nicht mehr mit. Was spielen denn Chopins Etüden hier für eine Rolle?»
Zu spät wurde sich Ruth bewußt, auf welchen Weg sie sich da begeben hatte. Entsetzt und mit der peinlichen Erkenntnis, daß das, was man getrunken hat, nicht ungetrunken gemacht werden kann, starrte sie in ihr leeres Glas. Der Wein hatte so köstlich geschmeckt, hatte so gutgetan; es war ein Gefühl gewesen, als tränke man Hoffnung oder Glück, und jetzt hatte sie einen Schwips und redete dummes Zeug.
Doch Quin wartete auf ihre Antwort, und sie stürzte sich in das Unausweichliche.
«Heini hatte einen Lehrer, der hat ihm erzählt, daß Chopin der Meinung war, jedesmal, wenn er mit einer Frau zusammen sei, brächte er die Welt um eine Etüde. Ich meine – äh – Sie wissen schon – das Komponieren braucht die gleiche Energie wie – das andere. Eine Art Lebenskraft. Und dieser Lehrer riet Heini, noch zu warten. Aber dann kam Heini dahinter, daß der Fingersatz, den ihm der Lehrer für die Appassionata gezeigt hatte, gar nicht stimmte, und da sagte er sich, er könnte sich ja auch in bezug auf Chopin und seine Etüden geirrt haben. Ich meine, Chopin war doch immerhin mit George Sand zusammen, nicht wahr?»
»Das ist richtig», bestätigte Quin, höchst amüsiert über diese Enthüllungen.
Erst als sie ihr Picknick beendet hatten und Ruth, die sich in der dichter werdenden Dunkelheit flink und geschmeidig bewegte, zusammengeräumt hatte, sagte er: «Ich habe darüber nachgedacht, was wir tun können. Ich finde, wir müssen Sie aus Wien hinausbringen, an irgendeinen ruhigen, sicheren Ort auf dem Land. Dann können wir von England aus noch einmal einen Anlauf nehmen. Ich habe ein paar Bekannte beim Außenministerium; da läßt sich sicher etwas machen. Und ich glaube nicht, daß man Sie außerhalb der Stadt belästigen wird. Ich werde dafür sorgen, daß Sie genug Geld haben, um sich in der Zwischenzeit über Wasser zu halten, und wenn Ihr Vater und wir alle von England aus Dampf machen, werden wir Sie bestimmt bald bei uns drüben haben. Aber fürs erste müssen Sie von hier weg. Kennen Sie jemanden, bei dem Sie unterkommen könnten?»
«Meine alte Kinderfrau. Sie lebt an der Schweizer Grenze, in Vorarlberg. Sie würde mich sofort aufnehmen, aber ich weiß nicht, ob ich mich anderen überhaupt zumuten kann. Wenn ich unrein bin ...»
«Reden Sie nicht so!» unterbrach er sie heftig.»Und beleidigen Sie nicht Menschen, die Sie gern haben und Ihnen helfen möchten. Sagen Sie mir jetzt lieber die genaue Adresse Ihrer Kinderfrau, dann kümmere ich mich um alles. Wo bleiben Sie heute nacht?»
«Hier.»
Er wollte schon protestieren, ihr vorschlagen, mit ihm ins Hotel Sacher zu kommen, aber dann fielen ihm die deutschen Offiziere an der Bar ein, und er hielt es für besser, nichts zu sagen.
«Gut, aber seien Sie vorsichtig. Was ist mit dem Nachtwächter?»
«Der kommt nicht ins Zimmer meines Vaters. Und selbst wenn er kommen sollte – er kennt mich seit meiner Kindheit.»
«Sie können keinem Menschen trauen», sagte Quin.
«Wenn ich Essler nicht mehr trauen kann, kann ich mich gleich umbringen», sagte Ruth.
Um zwei Uhr morgens trieb Quin die Unruhe aus dem Bett. Wie hatte er bloß ein junges Ding, das kaum der Schulbank entwachsen war, mutterseelenallein in einem verlassenen alten Museum voller Schatten und Gespenster zurücklassen können? In aller Eile kleidete er sich an, lief die Ringstraße hinunter, überquerte den MariaTheresienplatz und trat durch die Seitentür ins Museum.
Ruth schlief auf dem Feldbett im Präparierraum. Ihr Haar fiel dicht und wirr zum Boden herab, und sie hielt etwas in den Armen, so wie ein Kind ein geliebtes Spielzeug an sich zu drücken pflegt. Mit dem Hauptschlüssel ihres Vaters konnte man auch die Vitrinen aufschließen. Es war das großäugige Fingertier, das Ruth an die Brust gedrückt hielt. Sein langer Schwanz bog sich steif über ihre Hand, und das Schnäuzchen lag an ihrer Schulter.
Quin stand da und sah auf sie hinunter und konnte nur hoffen, daß das kleine Fingertier in ihren Armen ihre Seele in die Straßen von Belsize Park trug, in das Land, in dem nun alle Zuflucht gefunden hatten, die sie liebte.
3
Leonie Berger glitt vorsichtig aus dem Bett und drehte das Kopfkissen um, damit ihr Mann, der auf der anderen Seite der schmalen, durchgelegenen Matratze zu schlafen vorgab, den nassen Fleck, den ihre Tränen hinterlassen hatten, nicht bemerkte. Dann machte sie Morgentoilette und kleidete sich mit großer Sorgfalt an – Seidenstrümpfe, schwarzer Rock, weiße Bluse, hochhackige Schuhe –, weil sie Wienerin war und man auch dann noch auf sein Äußeres achtete, wenn die eigene Welt zusammengebrochen war.
Und dann begann sie, ein guter Mensch zu sein.
Leonie war sehr mutig gewesen, als sie Wien verlassen hatten. Sie hatte in ihrem Korsett versteckt eine Brillantbrosche mitgenommen, ein äußerst leichtsinniges Unterfangen. Sie war vernünftig und fürsorglich gewesen, denn das entsprach ihrer Natur, hatte dafür gesorgt, daß der eine Koffer, den ihr Mann mitnehmen durfte, alle Aufzeichnungen für sein Buch Die Säugetiere des Pleistozän enthielt, außerdem seine Magentabletten und die Nagelschere, mit der er auch seine Zehennägel schneiden konnte. Sie war ihrer Schwägerin Hilda gegenüber, die mit einer Arbeitserlaubnis emigrierte und auf dem Weg zur Kanalfähre dauernd über ihre aufgegangenen Schnürsenkel stolperte, von einer Engelsgeduld gewesen, und sie hatte das Kind einer jungen Mutter, die auf der Flucht war wie sie, gehalten, während diese sich an der Reling übergeben mußte. Selbst angesichts der Unterkunft, die ihnen von ihrem Bürgen, einem entfernten Verwandten besorgt worden war, hatte Leonie nur ein wenig gemurrt. Die Räume in der obersten Etage eines schäbigen Mietshauses in Belsize Close waren kalt und düster, die Möbel waren abscheulich, die Gemeinschaftsküche ein Graus, aber sie waren billig.
Doch damals hatte sie eben noch geglaubt, Ruth warte in dem Studentenlager an der Südküste auf sie. Seit der Brief von der Hilfsorganisation der Quäker eingetroffen war, in dem man ihnen mitgeteilt hatte, daß Ruth nicht mitgekommen war, hatte Leonie begonnen, gut zu sein.
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