Quin drehte mit einer heftigen Bewegung den Kopf. «Er hätte sich aufgrund seines Studiums zurückstellen lassen können. Das habe ich ihm extra gesagt.»

«Ja – aber er möchte dabeisein. Er haßt die Nazis, und nicht nur, weil er Ruth so gern hatte.»

Unvermeidlich, daß das Mädchen, das Ruth wie ein Schatten gefolgt war, ihren Namen erwähnen würde. Er mußte darauf reagieren.

«Haben Sie von Ruth gehört?»

«Ja. Vor zwei Wochen.»

«Und wie gefällt es ihr in Amerika?»

Keine Antwort. Sie fuhren unter Bäumen einen steilen Hang hinauf. Er glaubte, sie müßte sich auf das dunkle Stück Straße konzentrieren und wartete. Aber als sie weiterhin stumm blieb, wiederholte er seine Frage.

«Sie ist nicht in Amerika», antwortete Pilly.

«Wieso? Sie müssen sich täuschen.» Sein Bemühen, in neutralem Ton zu sprechen, war nur teilweise erfolgreich. «Sie ist doch Ende Juli mit Heini auf der Mauretania hinübergefahren.»

«Nein. Heini ist gefahren, Ruth nicht. Das hat sie mir in ihrem Brief geschrieben.»

«Wo ist sie dann?»

«Irgendwo in Nordengland. Sie arbeitet als Kindermädchen.»

«Was? Das muß ein Irrtum sein!»

Pilly schüttelte energisch den Kopf. «Nein. Und ich mache mir große Sorgen um sie. Ich verstehe nicht, was los ist. Sie behauptet, es sei alles in Ordnung, aber das stimmt nicht, ich fühle es. Sie ist unglücklich und meiner Ansicht nach völlig durcheinander. Und außerdem verhält sie sich wieder mal total weltfremd, finde ich.»

«Wie meinen Sie das?»

Pilly, die an einer Kreuzung warten mußte, versuchte zu erklären. «Ich habe Ruth wahnsinnig gern. Wirklich. Ihr allein habe ich meine bestandene Prüfung zu verdanken. Aber das ist nicht der Grund. Sie hat mir gezeigt, wie schön das Leben sein kann. Uns allen hat sie das gezeigt. Aber manchmal bekam sie plötzlich einen Rappel und benahm sich wie eine Heldin aus einem Buch oder aus einer Oper. Wie damals mit Heini, da redete sie dauernd von La Traviata und von dieser Mimi aus der Boheme. Aber Liebe hat doch mit Oper nichts zu tun», sagte Pilly und lächelte, denn sie hatte einen Offizier kennengelernt, der sie heiraten wollte.

Sie waren schon wieder ein ganzes Stück gefahren, ehe Quin etwas sagte. «Haben Sie ihre Adresse?»

«Nein. Sie hat sie mir nicht mitgeteilt. Darum glaube ich ja, daß sie wieder mal eine Romanheldin ist. So eine viktorianische Jungfrau, die im Schneetreiben herumirrt.» Sie warf einen Seitenblick auf ihren Fahrgast. Er war ein berühmter Wissenschaftler und würde, wenn er überlebte, vermutlich ein gefeierter Held werden, aber er war auch ein Mann, und den Verdacht, den sie und Janet hegten, konnte man ihm nicht mitteilen. «Ich sorge mich nicht um sie, weil sie nicht mit Heini nach Amerika gegangen ist. Es war ja offensichtlich, daß sie ihn gar nicht geliebt hat und ...»

«Tatsächlich? Diesen Eindruck hatte ich aber nicht.»

Laß es nicht von neuem beginnen, Gott! dachte er und sah zu den winterlichen Bäumen hinaus. Von der Wut, in die er sich früher hatte retten können, war nichts geblieben. Nur Trauer empfand er und ein tiefes, quälendes Gefühl schmerzlichen Verlusts.

«Ich habe mir vorgenommen, sie zu suchen, und ich werde sie finden», erklärte Pilly. «Der Haken ist nur, daß ich erst in drei Monaten wieder Urlaub habe.»

«Wie wollen Sie sie ohne Adresse finden?»

«Ich glaube, sie ist in Cumberland – dem Poststempel nach könnte es Keswick sein.» An einer roten Ampel bremste sie ab und sah ihn an. «Ich habe den Brief in meinem Zimmer. Wenn Sie Zeit hätten, ihn sich anzusehen – Sie haben doch Übung darin, Dinge zu entschlüsseln. Und wenn es wirklich Keswick sein sollte – das ist doch gar nicht so weit von Bowmont, nicht wahr? Wenn Sie nach Hause fahren, könnten Sie vielleicht ...»

«Ich fahre aber nicht nach Hause. Ich habe nur achtundvierzig Stunden, und bis dort hinauf braucht man, wie Sie wissen, einen ganzen Tag.»

Pilly seufzte. Dr. Sonderstrom hatte sich wahrscheinlich doch getäuscht. Wahrscheinlich hatte auch sie selbst sich getäuscht.»Wenn sie ein Dinosaurierzahn wäre, dann würden Sie nach ihr suchen», sagte sie. «Aber sie ist keiner. Sie ist Ruth!»

Sie hielt den Wagen vor der Kaserne an. Quin griff nach seinem Seesack und ließ ihn wieder fallen. «Also gut, Pilly. Zeigen Sie mir den Brief.»

Aber als Pilly wenig später mit dem Brief in der Hand in die Offiziersmesse kam, sah sie, daß Ruth verloren hatte. Quins Gesicht war bleich. Er starrte auf ein Telegramm in seiner Hand.

«Gott sei Dank, daß wir hier vorbeigeschaut haben», sagte er. «Meine Tante ist plötzlich erkrankt. Ich muß sofort zu ihr fahren.»

Er reichte ihr die Nachricht, die mit der Post für die Vigilantes auf ihn gewartet hatte:

Bitte umgehend Station drei Städtisches Krankenhaus Newcastle kommen. Dringend. Somerville.


Es war unmöglich, in dem überfüllten Zug zu schlafen; es gab nichts zu essen und nichts zu trinken. In den sich endlos dahinschleppenden Stunden konnte er nichts tun, als sich daran erinnern, was seine Tante zu ihren Lebzeiten alles für ihn und Bowmont getan hatte; sich klarzumachen, wie sehr ihr Tod ihn treffen würde.

Um zehn Uhr morgens trafen sie in Newcastle ein, und er fuhr mit einem Taxi direkt zum Krankenhaus. Als er am Empfang das Telegramm vorzeigte, wies man ihn in den ersten Stock hinauf. Eine Schwester kam ihm oben entgegen. «Ah, ja, wir haben Sie schon erwartet. Jetzt ist zwar keine Besuchszeit, aber ich weiß, es liegen besondere Umstände vor. Kommen Sie, ich bringe Sie ins Zimmer.»

Quin versuchte, sich zu wappnen, als er ihr zur Tür eines Wartezimmers folgte, die sie öffnete. Aber Tante Frances war nicht krank, und sie war ganz eindeutig quicklebendig. Als sie ihn sah, stand sie auf und eilte ihm entgegen – und sie lachte. Das war nicht das stets etwas widerstrebende Lächeln, das er von ihr kannte, das war ein strahlendes Lachen der Heiterkeit und der Belustigung.

«Gott sei Dank, daß du da bist!» Sie umarmte ihn. «Aber mach dir keine Sorgen», sagte sie. «In ein paar Tagen verliert es sich. Nicht wahr, Schwester?»

Die Schwester stimmte zu.

«Was soll das heißen? Was verliert sich?» fragte Quin verwirrt. «Die Ähnlichkeit. Sie ist unglaublich. Geh und sieh es dir selbst an. Sie liegt im letzten Bett links.»

Wie im Traum ging Quin durch das Krankenzimmer. Frauen saßen aufrecht in den Betten, manche unterhielten sich, andere strickten, aber alle waren guter Dinge und beobachteten ihn, als er an ihnen vorüberging.

Dann sah er plötzlich Ruth – so wie er sie in Erinnerung hatte, warm und weiblich, irgendwie zugleich stolz und unsicher. Aber er ging nicht gleich zu ihr. Am Fuß ihres Betts stand, wie vor allen anderen Betten, ein Kinderbettchen. Und darin lag – Konteradmiral Basher Somerville.


Das Baby sah tatsächlich aus wie der Basher; der Basher en miniature, noch ein wenig verschrumpelter, aber sonst genau gleich. Die Beethoven-Nase, das volle, krebsrote Gesicht, das Doppelkinn, das aufgeworfene Mündchen.

Quin konnte nichts sagen, nur schauen. Sein Sohn bewegte das verrunzelte kleine Köpfchen, öffnete ein Auge – ein unergründliches, tiefblaues, wimpernloses Auge –, und der Mund zuckte in der Vorahnung eines Lächelns. Und da war Quin verloren. Mit einem Augenblick hatte dieses Wesen, von dessen Existenz er noch fünf Minuten zuvor keine Ahnung gehabt hatte, von ihm Besitz ergriffen. Gleichzeitig wußte er, daß er jetzt sterben konnte und es nichts machte, weil das Kind da war und lebte.

Nur zurückhalten darf ich ihn niemals, dachte er. Er ist er selbst. Ich gelobe, daß ich ihn gehen lassen werde.

Dann sah er Ruth an, die ihn schweigend beobachtete. Aber sie nicht, dachte er glücklich. Sie nicht! Niemals werde ich sie hergeben. Er trat zum Kopf des Betts und nahm sie in die Arme.


Die Schwester hatte gesagt: «Eine halbe Stunde, aber nicht länger, und nur, weil Sie auf Urlaub sind.» Sie hatte die kalten blauen Vorhänge um das Bett herum zugezogen, doch die wäßrige Dezembersonne setzte ihnen goldene Lichter auf.

«Ich kann es nicht glauben», sagte Quin immer wieder, während er Ruths Gesicht berührte, ihre Augen, ihren Mund, ihr Haar. «Ich kann nicht glauben, daß du so dumm sein konntest. Ich wollte dir doch nur etwas Schönes und Kostbares schenken.»

«Ich weiß – ich war eine Gans. Wahrscheinlich dachte ich, ich dürfte nicht glücklich sein, wenn es auf der Welt soviel Leid gibt. Und außerdem erzählte Verena allen, die es hören wollten, du würdest sie nach Afrika mitnehmen.»

«Ja, eine unangenehme Person. Sie wird Kenneth Easton heiraten und ihm beibringen, wie man Cholmondely richtig ausspricht.»

Das gefiel Ruth. Das gefiel ihr sehr. Doch Quin war immer noch erschüttert von den Entwicklungen der vergangenen Monate. «Wenn ich denke, daß du das alles allein durchgestanden hast.»

«Hab ich ja gar nicht», widersprach Ruth ein klein wenig bitter. «Jedenfalls am Schluß nicht. Ich kann nur sagen, dich hat deine Tante vielleicht in Ruhe gelassen. Mich bestimmt nicht.»

Sie schilderte den Moment, als Frances an der Tür des Hauses erschienen war und ihr, wie es schien, den Weg versperrte. «Sie sagte, ich könne nicht bleiben. Ich war völlig verzweifelt, aber sie meinte nur, ich könne nicht in Bowmont bleiben, weil wir da womöglich einschneien würden und der Krankenwagen dann nicht durchkäme. Sie packte mich einfach ins Auto und fuhr mit mir zu Mrs. Bainbridge in Newcastle. Und nicht einmal, als meine Eltern kamen, hat sie mich aus den Augen gelassen. Ich glaube, sie hatte Angst, es könnte so gehen wie mit deiner Mutter.»

Quin nahm ihre Hand und hielt sie fest. «Gott sei Dank, daß es Tante Frances gibt.»