Sie legte das Päckchen auf den Tisch, und Leonie, die plötzlich kaum noch atmen konnte, fragte: «Darf ich es mir ansehen?»
Mrs. Burtt packte ihr Geschenk aus. «Ist es nicht hübsch geworden?» fragte sie stolz. «Ich hab Stunden dafür gebraucht. Das Muster ist verflixt schwierig. Ich hab sicherheitshalber weiße Wolle genommen. Sie kann ja dann ein hellblaues oder ein rosa Band durchziehen – je nachdem.»
Leonie litt immer noch an Atemnot. «Vielen Dank, da wird sie sich aber freuen. Es ist ein süßes Jäckchen. Ich werde sehen, daß sie es bekommt, und ihr ausrichten ... was Sie ... gesagt haben.»
Mrs. Burtt schüttelte den Kopf. «Gott bewahre. Sie war ja noch nie ein Plappermaul. Aber wir waren zu Hause vier Mädchen, und ich habe selbst drei Töchter. Ich hab's ziemlich bald gemerkt. Diese Übelkeit – das war keine Magen- und Darmgrippe. Und dann war sie ja auch immer so schnell müde. Ich hab's ihr auf den Kopf zugesagt, und ich glaube, es war eine Erleichterung für sie, mit jemand reden zu können.»
«Und ... hat sie Ihnen auch erzählt ... was sie vorhatte? Wohin sie gehen wollte?»
«Nein. Und ich hab auch nicht danach gefragt. Ich hab gewußt, daß nicht Heini der Vater war, aber das ging mich nichts an.» Leonie hob den Kopf. «Woher wußten Sie das?»
«Na ja, man hat doch gesehen, daß sie ihn nicht liebt, oder? Sie hat sich die ganze Zeit viel zu sehr bemüht ... Und wenn er's nicht war – wie gesagt, ich wollte nicht neugierig sein.»
«Ich ... habe nicht so klargesehen wie Sie», sagte Leonie in ihrer tiefen Verzweiflung.
Mrs. Burtt legte ihr flüchtig die schwielige Hand auf den Arm. «Sie beide sind sich so nah», sagte sie. «Sie lieben Ruth sehr, und die Liebe, die kann einen schon umbringen.»
Als Kurt Berger nach Hause kam, fand er seine Frau noch immer im Schock.»Was ist denn passiert, Leonie? Was hast du da in der Hand?»
«Das ist ein Babyjäckchen.» Sie strich mit den Fingern über die feine Wolle. «Mrs. Burtt hat es für Ruth vorbeigebracht.»
Sie sah, wie sich das Gesicht ihres Mannes veränderte. Sie sah die Ungläubigkeit, die Bestürzung – dann den Zorn. «Mein Gott, dieser Schuft, dieser Heini! Ich werde ihn zwingen, sie zu heiraten», rief er erregt.
«Nein, Kurt, es ist nicht Heinis Kind. Wenn es seins wäre, dann wäre sie mit ihm gegangen.»
Das war noch schlimmer. Seine geliebte, behütete Tochter eine Sünderin, Mutter eines unehelichen Kindes! Er tat Leonie leid, doch sie hatte nicht die Kraft, ihn aus seiner konventionellen Hölle moralischer Entrüstung zu befreien. Was habe ich da nur nicht verstanden? dachte sie unablässig. Was fehlt hier? Und wenn ich von Anfang an recht hatte, wie konnte es dann hierzu kommen?
Draußen läutete es, schrill und fordernd. Leonie und Kurt rührten sich nicht.
«Was willst du tun?» fragte er, und seine Hilflosigkeit rührte sie. «Ich sage dir, was ich tun werde», begann sie.
Wieder läutete es, und nun hörten sie, wie Fräulein Lutzenholler ihre Tür öffnete und empörten Schrittes die Treppe hinuntermarschierte.
Wenig später kam sie zurück, so verdrossen, wie Leonie es erwartet hatte, in Begleitung eines rotgesichtigen Mannes, der eine Art Uniform trug.
«Das ist der Mann von der Desinfektionsanstalt», sagte Fräulein Lutzenholler. Als Leonie diesen Mann, den sie Wochen und Monate verzweifelt herbeigewünscht hatte, verständnislos ansah, fügte sie hinzu: «Er ist wegen der Mäuse gekommen.»
«Ach ja, vielen Dank.» Leonie stand auf, versuchte sich zu fassen. «Bitte, lassen Sie sich nicht stören. Sie sind überall. Am schlimmsten ist es in der Küche – und im hinteren Zimmer.»
«In Ordnung, Madam. Ich fang gleich an. Scheint ja eine rechte Plage zu sein. Kann sein, daß ich ein paar Bodendielen rausreißen muß.»
Er ging aus dem Zimmer. Sie hörten ihn umhergehen, die Wände abklopfen, Schränke öffnen.
«Ich sage dir, was ich tun werde», wiederholte Leonie, sich wieder ihrem Mann zuwendend. «Ich gehe mit Ruths Brief zur Post und lasse mir sagen, woher er kommt, und dann fahre ich dorthin und suche sie. Und wenn ich sie gefunden habe, bringe ich sie hierher und kümmere mich um sie und mein Enkelkind. Es ist mir egal, wer der Vater ist. Wenn Ruth sich ihm hingegeben hat, dann weil sie ihn geliebt hat, und sie ist mein Blut und deines auch, und deshalb wirst du jetzt nicht ...»
Es klopfte, und der Kammerjäger trat wieder ein.
«Das hier habe ich unter den Dielen im hinteren Zimmer gefunden», sagte er und stellte eine große Keksdose auf den Tisch. Sie war mit Mäusekot gesprenkelt und einem Bild der Prinzessinnen Elizabeth und Margaret Rose dekoriert.
Sie war mit dem Bus bis Alnwick gekommen, aber bis Bowmont waren es immer noch acht Meilen. Normalerweise hätte sie das leicht zu Fuß gehen können, aber nicht in ihrem jetzigen Zustand. Darum leistete sie sich, obwohl sie kaum Geld hatte, ein Taxi bis zum Dorf. Es wäre vernünftiger gewesen, sich direkt vor dem Haus absetzen zu lassen, aber das schaffte sie nicht. Sie wollte dort nicht als jemand erscheinen, der Ansprüche erhob und auf seine Rechte pochte; sie suchte Trost und Zuflucht in Bowmont, sonst nichts.
«Ich hoffe, du bist zufrieden», sagte sie bitter zu ihrem ungeborenen Kind. Sie hatte einen langen Kampf ausgetragen, ihren Stolz und ihre Selbständigkeit gegen den Eigensinn und die Halsstarrigkeit dieses Geschöpfs ins Gefecht geführt, und sie hatte verloren. Als sie jetzt schwerfällig den Hügel hinaufging, versuchte sie, den Konsequenzen einer Zurückweisung ins Auge zu sehen. Wohin würde sie sich wenden, wenn sie abgewiesen wurde? Es begann schon dunkel zu werden; sie konnte kaum zu Penelope zurückkehren, deren Ratschläge sie in den Wind geschlagen – die sie in gewisser Weise im Stich gelassen hatte. Sie mußte verrückt gewesen sein, hierherzukommen, jetzt, in der elften Stunde.
Die Tränen schossen ihr in die Augen, als sie vor sich, scharf umrissen vor dem Hintergrund eines stürmischen violetten Himmels, den Turm von Bowmont auftauchen sah, das Rauschen der windgepeitschten Bäume hörte und das Tosen der Brandung an den Felsen. Erinnerungen überfielen sie: an den unglaublich klaren Sternenhimmel; an den blendenden Glanz des Meeres in der Morgensonne; an die warme Geborgenheit und den Duft des Gartens. Wenn man sie wiederum fortschicken sollte, dachte sie, würde sie es nicht ertragen.
Sie ging jetzt auf der gekiesten Auffahrt und war noch immer keiner Menschenseele begegnet. Als sie die Treppe erreichte und ihren Koffer niederstellte, wußte sie mit Gewißheit, daß ihr Bemühen scheitern würde. Frances Somerville hatte für Flüchtlinge und für Ausländer nichts übrig; sie gehörte einer längst vergangenen Zeit an. Es gab keine Zuflucht hier, keine Geborgenheit und keine Hoffnung.
Sie konnte das Bimmeln der Glocke im Inneren des Hauses hören. Würde Turton sie überhaupt melden, wenn er ihren Zustand sah? Sie gehörte an die Hintertür oder in eines dieser düsteren Gemälde, auf denen des Hauses verwiesene Frauen in die Nacht hinausstolperten.
Der Riegel wurde langsam zurückgezogen – so langsam, daß Ruth Zeit gehabt hätte, umzukehren und die Treppe hinunterzulaufen.
«Ja? Was gibt es?»
Es war nicht Turton, es war niemand vom Personal. Es war Frances Somerville selbst, die ihr den Weg versperrte und auch, als sie sah, wer vor ihr stand, keine Neigung zeigte, sie hereinzubitten.
«Wie um alles in der Welt kommen Sie denn hierher?» rief sie entrüstet. «Was wollen Sie? Sie gehören doch jetzt nicht hierher!»
Ruth holte tief Atem und hob den Kopf. Sie mußte kämpfen. Für ihr Kind. Aber als sie sprach, kamen ihr die Worte nur stockend über die Lippen; sie war plötzlich so erschöpft, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
«Bitte ... ich bitte Sie ... Darf ich bleiben?»
«Hierbleiben? Hier? In Ihrem Zustand? Wirklich, Ruth, ich weiß ja, daß ihr Ausländer alle verrückt seid, aber das geht wirklich zu weit. Selbstverständlich können Sie nicht bleiben.»
«Ich kann es Ihnen erklären ... Es hat seine Gründe.»
«Es geht hier nicht um Erklärungen. Sie können ganz einfach nicht hierbleiben, und fertig.»
Ruth sah in das entsetzte Gesicht der Frau, von der sie trotz allem gehofft hatte, sie sei ihre Freundin. Als sie von einer tödlichen Kälte erfaßt ihr Cape fest um sich zog, begannen die ersten Flocken zu fallen.
29
Als Pilly sich zur Navy gemeldet hatte, war es ihr Bestreben gewesen, als Köchin eingestellt zu werden; die Tatsache jedoch, daß sie studiert hatte, wenn auch nicht mit spektakulärem Erfolg, verlieh ihr automatisch einen Status, den sie eigentlich gar nicht haben wollte. Sie wurde Fahrerin, und ab Ende November beförderte sie Nachrichten von und zu den Docks sowie höhere Offiziere der Navy in mehr oder weniger wichtiger Mission.
Der Offizier, den sie an diesem Dezembernachmittag von dem Zerstörer Vigilantes etwa zehn Meilen außerhalb des Stützpunkts abholen sollte, war allerdings nur ein kleiner Leutnant, aber es fiel Pilly nicht ein, danach zu fragen, womit er diese Sonderbehandlung verdiente. Sie tat ihren Dienst und basta. Doch als er kam, erlebte sie eine Überraschung.
«Du meine Güte, Pilly!» Quin spähte ungläubig durch das winterliche Grau. «Sind Sie es wirklich?»
«Ja, Sir.»
«Na, das ist aber eine Überraschung!» Er warf seinen Seesack hinten in den Wagen und setzte sich nach vorn zu ihr. «Ich hatte keine Ahnung, daß Sie bei der Navy sind. Wie gefällt es Ihnen?»
«Ich find's ganz toll.»
Quin lächelte über ihren Enthusiasmus. «Wissen Sie, was die anderen machen?»
«Janet ist beim Roten Kreuz», antwortete Pilly. «Sie heiratet bald. Huw ist bei der Army, und Sam geht zur Air Force.»
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