Aber sie fanden nichts heraus. Pilly, der sie telegrafierten, hatte nicht von Ruth gehört; ebensowenig Janet. Alle in Thameside glaubten, Ruth sei in Amerika. Schluchzend flehte Leonie Gott um Hilfe an und versprach ihm wieder einmal, immer ein guter Mensch zu sein, und tatsächlich kam eines Nachmittags ein Brief, mit dem Hilda sofort ins Willow eilte.
«Er ist eben gekommen – das ist doch Ruths Schrift, das weiß ich genau!»
Es wurde still im Café, als der Umschlag geöffnet wurde. Es blieb still, während Leonie und ihr Mann lasen, was Ruth geschrieben hatte.
«Sie ist in Sicherheit», sagte Leonie endlich. «Und sie ist in England. Auf dem Land. Sie arbeitet dort.»
«Warum dann das lange Gesicht?» fragte von Hofmann, der seit Kriegsausbruch ein vielbeschäftigter Mann war. Die Filmgesellschaften drehten ganze Serien von Antinazifilmen, und er hatte sich die Rolle eines SS-Offiziers gesichert, der nicht nur «Schweinehund!», sondern auch «Gott im Himmel!» rief, bevor er eines sehr unerquicklichen Todes starb.
«Sie möchte allein sein.» Leonies Lippen bebten.
«Wie Greta Garbo?» erkundigte sich die Dame mit dem Pudel.
Leonie schüttelte verwirrt den Kopf. «Ich versteh das nicht. Sie schreibt, sie müsse auf eigenen Füßen stehen, sie müsse lernen, sich allein zu entwickeln. Sie werde später zurückkommen, aber jetzt müßte sie erst einmal herausfinden, wer sie eigentlich ist.»
«So etwas macht jeder einmal durch», bemerkte Ziller. «Das ist ganz natürlich.»
Mrs. Weiss war anderer Meinung. «Und was hat sie davon, wenn sie weiß, wer sie ist?» fragte sie und spießte mit der Kuchengabel ein Stück Gugelhupf auf.
«Sie kommt sicher bald zurück», sagte Miss Maud tröstend. «Sie braucht einfach ein bißchen Zeit, um über die Enttäuschung bei den Prüfungen und den Bruch mit Heini hinwegzukommen.»
«Sie hat uns nicht einmal eine Adresse angegeben», sagte Leonie unglücklich. «Und den Stempel kann ich nicht lesen. Aber auf der Post können sie es mir bestimmt sagen. Wir müssen sie finden, Kurt.»
Kurt Berger legte den Brief aus der Hand, in dem seine Tochter um Verständnis bat. «Nein», sagte er kurz. «Wir werden ihre Wünsche respektieren.»
«Aber ich will ihre Wünsche nicht respektieren, ich will sie hierhaben!» rief Leonie schluchzend.
«Jetzt ist genug geredet», sagte Kurt Berger, und die Erkenntnis, daß er so tief litt wie sie, brachte Leonie zum Schweigen.
«Noch nicht heim», bettelte Thisbe, als Ruth den Sportwagen den von tiefen Wagenspuren durchzogenen Weg hinunterschob.
«Wir müssen aber nach Hause, Thisbe. Es gibt gleich Abendbrot.»
Das kleine Mädchen verzog das Gesicht, als wollte es weinen. Ruth beugte sich zu ihr hinunter. Der Wind hatte aufgefrischt, die Berggipfel waren in Nebel gehüllt. So gern sie und die dreijährige Thisbe im Freien waren, es gab Grenzen. Der Lake District im Spätherbst war wunderschön, aber abends wurde es empfindlich kühl.
Ruth wohnte jetzt seit zwei Monaten bei der Weberin, deren Kinder sie schon in Hampstead Heath versorgt hatte. Penelope Hartley war auf eine etwas vage Art und Weise durchaus eine nette Person, und daß sie Ruth als Gegenleistung für ihre Dienste als Kindermädchen Kost und Logis bot, war unter den Umständen sehr großzügig. Als sich zeigte, daß es zum Krieg kommen würde, war sie mit ihren Kindern und ihrem Webstuhl nach Cumberland umgezogen, und Ruth war mitgekommen. Penelope mochte eine gute Weberin sein, eine gute Hausfrau war sie nicht, und seit Mr. Hartley sich vor einigen Jahren von ihr getrennt hatte, hatte Penelope alles ein bißchen herunterkommen lassen.
Als Ruth jetzt mit dem kleinen Mädchen in das Häuschen trat, stieg ihr sogleich der Geruch der Gemüsesuppe, die auf dem Herd stand, in die Nase.
«Keine Suppe!» schrie Thisbe sofort und warf sich zu Boden. «Nein, nein, ich mach dir ein Butterbrot», tröstete Ruth.
Hier auf dem Land gab es noch Lebensmittel in Hülle und Fülle, oder es hätte sie zumindest gegeben, wenn genug Geld dagewesen wäre, um sie zu bezahlen, und nicht die meisten Dorfbewohner Ruth die kalte Schulter gezeigt hätten.
Als jetzt die beiden Jungen aus der Schule nach Hause kamen, Peter und Tristram, rümpften auch sie sofort die Nasen. «Schon wieder Mamas Spülwasser», sagte Tristram. «Ich eß das nicht, das braucht sie sich gar nicht einzubilden.»
Ruth beruhigte ihn, indem sie Erdnußbutter und Äpfel aus der Speisekammer holte. Wenn es nur nicht schon so früh dunkel geworden wäre. Vor ein paar Wochen hatte sie nach dem Abendessen noch mit den Jungen hinausgehen und Ball spielen können; jetzt aber mußten sie sehen, wie sie sich die endlosen Abende im Qualm der Öllampen vertrieben. Meistens spielten sie Domino oder ein Brettspiel – wenn nicht gerade wieder irgendwelche Steine fehlten. Ruth war nicht mehr so beweglich wie früher, und es machte ihr ziemliche Mühe, auf dem Boden herumzukriechen und nach verlorenen Spielsachen zu suchen, wenn die Kinder im Bett waren.
Obwohl vereinbart worden war, daß sie nur bis sieben Uhr abends arbeiten sollte, hatte es sich eingebürgert, daß sie Thisbe zu Bett brachte und dann bei ihr blieb, bis sie eingeschlafen war. Erst danach, wenn sie in ihr Mansardenzimmer hinaufstieg, das wenigstens ihr allein gehörte, war sie für sich. Oft stellte sie sich dann ans Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus und sehnte sich nach ihrer Mutter und der Geborgenheit ihrer eigenen Kindheit und nach der bemalten Wiege, die jetzt in Stücke geschlagen war und in der eigentlich ihr Kind hätte liegen sollen.
Aber sie würde nicht nachgeben. Es war ja jetzt nicht mehr lang–nicht einmal mehr zwei Monate. Sie würde es allein durchstehen. «Nicht wessen ich bin, sondern wer ich bin, davon handelt meine Suche ...» Immer wieder ging ihr diese Zeile aus einem vergessenen Gedicht durch den Kopf. Nur, wer war sie denn? Jemand, der geliebt hatte und zurückgewiesen worden war; eine Tochter, die ihren Eltern Schmerz und Enttäuschung bereitet hatte; und nun, bald, eine Mutter, die nichts wußte.
Und doch bedauerte sie nichts. Sie war niemandem böse, nicht einmal Verena, die ihr draußen in der Toilette flüsternd ihr Ultimatum gestellt und gedroht hatte, zu verraten, was mit ihr los war, wenn sie Thameside nicht auf der Stelle und für immer verließ. In gewisser Weise hatte Verena ihr einen Dienst erwiesen, indem sie ihr die Verachtung vor Augen geführt hatte, mit der die Welt auf ihren Zustand reagieren würde. Wenn ihr Vater, dieser strenge, aufrechte Mensch ihr als einer gefallenen Sünderin den Rücken gekehrt hätte, so hätte Ruth das nicht ertragen können; sie hätte das Geheimnis ihrer Ehe preisgegeben, und dann wäre ihr gar nichts anderes übriggeblieben, als Quin zu suchen, ihn wissen zu lassen, wie es um sie stand, ihn anzuflehen, ihr einen Platz in seinem Leben zu geben ... Und Verena hatte ihr Versprechen gehalten; niemand auf der Universität wußte, was geschehen war oder wo sie sich aufhielt.
Und auch Quin konnte sie nicht böse sein, denn er hatte keine Schuld. Er hatte gesagt: «Warte, wir müssen vorsichtig sein.» Er hatte es sehr sanft, sehr liebevoll gesagt und dabei ihr Gesicht mit seinen Händen umschlossen; er hatte aufstehen wollen, aber sie, sie hatte ihn festgehalten und gesagt: «Nein, nein, du darfst jetzt nicht gehen!» Weil sie es schon da nicht hatte ertragen können, von ihm getrennt zu sein. «Es ist völlig ungefährlich», hatte sie versichert. «Es sind meine sicheren Tage. Ich weiß es. Mrs. Felton hat es mir erklärt. Es ist absolut ungefährlich.»
Sie hatte nicht gelogen; sie hatte es geglaubt, und er hatte ihr geglaubt. Aber sie hatte sich getäuscht. Sie hatte sich um eine ganze Woche vertan. Wieder ein Punkt für Fräulein Lutzenholler und Professor Freud! Sie nahm es sonst immer sehr genau mit den Daten – schuld war nur dieses verflixte sogenannte Unbewußte jenseits aller Vernunft, das von Anfang an nichts anderes gewollt hatte, als diesem einen Mann zu gehören.
Selbst jetzt, da die Dorfbewohner sie als «ledige Mutter» ächteten, da Quin sie zurückgewiesen hatte, brannte tief unter aller Angst vor der Zukunft eine unauslöschbare Freude darüber, daß sie sein Kind trug. Das Kind selbst allerdings machte ihr in letzter Zeit ziemlich zu schaffen. Es schien, obwohl es ohne sie noch nicht einmal atmen konnte, bereits einen eigenen Willen entwickelt zu haben, einen Eigensinn, der beachtlich war. Es schien mit den Plänen seiner Mutter überhaupt nicht einverstanden, für ihr Abenteuer der Selbstfindung nicht das geringste Verständnis zu haben.
Bowmont ist nur sechzig Meilen weit, sagte es, vergnügt in ihrem Bauch herumstrampelnd. Du magst ja nicht standesgemäß sein, aber ich bin zur Hälfte ein Somerville.
Ich erhebe Anspruch, sagte es, auf mein Zuhause.
Ende November bekam Leonie Besuch von Mrs. Burtt, die aus dem Willow weggegangen war, um in einer Munitionsfabrik zu arbeiten. Sie brachte ein kleines Päckchen in Silberpapier mit und wirkte etwas scheu und zaghaft, was sonst eigentlich nicht ihre Art war. «Ich hoffe wirklich, ich störe Sie nicht», sagte sie, «aber ich – na ja, ich hab mir gedacht, Sie würden es schon nicht in die falsche Kehle kriegen.»
«Wie sollte ich?» fragte Leonie. «Ich freue mich, Sie zu sehen.» Sie führte Mrs. Burtt ins Wohnzimmer, in dem man jetzt, nachdem das Klavier hinaustransportiert war, wieder Gäste empfangen konnte, und bot Mrs. Burtt Kaffee an, den diese dankend ablehnte.
«Ich möchte wirklich nicht neugierig sein», sagte sie, nachdem sie sich seltsamerweise erkundigt hatte, ob sie ungestört seien, «aber wissen Sie, sie ist mir wirklich ans Herz gewachsen, und die Leute sind ja manchmal so gehässig. Dabei weiß ich, was für ein gutes Kind Ruth ist. Daß sie weggegangen ist, um es allein zu bekommen – genau das ist so typisch für sie. Nur ja niemandem lästig fallen, nur ja niemandem wehtun. Aber ich möchte, daß sie weiß, wie gern ich sie habe und daß ich sie nie für schlecht gehalten habe, und darum wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie ihr das hier von mir geben würden. Hinterher. Nicht vorher, das bringt Unglück. Erst wenn es vorbei ist. Ich hab es selbst gestrickt.»
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