Wasser, Flüsse verbanden auch ihn und Ruth: die Arve, die sie mit einem Rucksack auf dem Rücken hatte durchschwimmen wollen ... die Donau, die Mishak seinen Herzenswunsch erfüllt hatte ... und die Themse, an der sie in jener Nacht gestanden hatten, die, wie er geglaubt hatte, ihre Liebe besiegelte. Plötzlich wurde Quin von einer so qualvollen Sehnsucht nach Ruth erfaßt, daß er meinte, er müßte daran sterben. Und noch während er versuchte, sich gegen diesen Schmerz, der ihn zu Boden zu werfen drohte, zu wehren, begann Verena, die neben ihm stand, zu sprechen. Im ersten Moment konnte er ihre Worte gar nicht hören. Erst als sie sie wiederholte und dabei eine Hand auf seinen Arm legte, gelang es ihm, den Sinn ihrer Worte zu erfassen.

«Ist es nicht Zeit, daß wir es publik machen, Quin?» fragte sie, und er fuhr zurück vor der Vertraulichkeit, dem Unterton in ihrer Stimme.

«Daß wir was publik machen?»

«Daß Sie mich nach Afrika mitnehmen werden. Sie sehen, ich weiß es schon. Brille-Lamartaine hat mir erzählt, daß Sie die Absicht haben, eine Ihrer Studentinnen, die jetzt Examen machen, mitzunehmen, und Milner hat es bestätigt. Sie hätten mir vertrauen können.»

Quin war entsetzt. Zu spät sah er den Pfad von Mißverständnissen, der zu diesem Augenblick geführt hatte. Aber Ruths Bild war noch so frisch in seinem Herzen, der Schmerz um sie noch zu bitter, als daß er hätte höflich sein können. Was er sagte, war grausam, doch er konnte nicht anders.

«Um Gottes willen, Verena», sagte er, «Sie glauben doch nicht etwa, ich hätte Sie mitnehmen wollen!»


Die Abschlußexamen fanden in der King's Hall statt, einem großen roten Backsteinbau, häßlich und abschreckend, dessen Mauern von der Furcht von Generationen von Prüflingen getränkt zu sein schienen. Dunkle Holzbänke standen in angemessenem Abstand voneinander zu Füßen eines hohen Podiums, auf dem die Aufsichtspersonen saßen. Große Schilder verboten das Rauchen, das Essen, das Sprechen. Eine Uhr, die zwischen Porträts rotgesichtiger Vizekanzler hing, tickte erbarmungslos, und auf dem fleckigen Holzboden lag kein Teppich.

Tag für Tag hatten sich Ruth und ihre Freunde mit flatternden Mägen zu diesem schrecklichen, kargen Ort begeben, hatten bleich vor Furcht und Schlaflosigkeit vor der Tür gewartet, versucht, sich die Zeit mit Witzen zu vertreiben, bis es läutete und sie hineingelassen und mit Nummern versehen wurden wie Sträflinge, um dann zu den häßlichen Pulten mit den blauen Mappen und den weißen Löschblättern zu gehen, die sie noch Jahre später im Traum sehen würden.

Aber heute war die letzte Prüfung, wenn auch die wichtigste. In drei Stunden würden sie frei sein! Die paläontologische Prüfung war heute an der Reihe, die, in der Ruth ganz besonders zu glänzen gehofft hatte. Jetzt hoffte sie nur noch, irgendwie durchzukommen.

«Du schaffst es schon, Pilly.» So schlecht es ihr selbst ging, schaffte es Ruth doch, der Freundin ermutigend zuzulächeln. «Mach als erstes die Kurzfragen, da kannst du dir immer ein paar Punkte holen.»

Es läutete. Die Tür wurde geöffnet. Selbst an diesem strahlenden Junimorgen war es kalt im Saal. Die beiden Aufsichtspersonen auf dem Podium waren ihnen fremd; Dozenten einer anderen Fakultät: eine Frau mit einem strengen Knoten und einer dunkelroten Strickjacke; ein grauhaariger Mann. Nicht Quin, der in einer Woche abreisen würde, und Ruth war froh.

«Sie können jetzt Ihre Blätter umdrehen und anfangen», sagte die Frau mit dem Knoten mit klarer, heller Stimme.

Papier raschelte. «Lesen Sie die Fragen mindestens zweimal durch», hatte Dr. Felton gesagt. «Hetzen Sie nicht. Wählen Sie aus. Überlegen Sie genau.»

Aber es war besser, nicht zu lange auszuwählen und zu überlegen. Jedenfalls an diesem Morgen ...

«Was versteht man unter der Theorie des allometrischen Wachstums?» Das konnte sie; das war eine Frage, die sie unter anderen Umständen mit Vergnügen in Angriff genommen hätte – eine Frage, bei der man ein bißchen brillieren konnte. «Diskutieren Sie Osborns Konzept der <Aristogenese> bei der Entwicklung fossiler Wirbeltiere.» Das war auch interessant, aber vielleicht war es besser, wenn sie sich zuerst die Frage für die geistig Minderbemittelten vornahm – Frage Nummer 4. «Schreiben Sie kurz, was Sie zu folgenden Begriffen wissen: a) Die Funde von Piltdown; b) Archäopterix ...»

Verena hatte schon zu schreiben begonnen; Ruth konnte das Kratzen ihrer Goldfeder hören. Verena machte ihr in letzter Zeit richtig angst. Ihre Augen schienen sie zu durchbohren. Aber Verena war nicht wichtig. Nichts war wichtig außer die nächsten drei Stunden, von denen sieben Minuten bereits verstrichen waren, hinter sich zu bringen.

«Die Theorie des allometrischen Wachstums zur Quantifizierung des Verhältnisses kleiner Tiere zu großen», begann Ruth zu schreiben, die sich entschlossen hatte, das Risiko einzugehen.

Pilly, die schon dabei war, niederzuschreiben, was sie über die Funde von Piltdown wußte, blickte kurz auf, sah Ruth über ihr Blatt gebeugt und tauschte einen erleichterten Blick mit Janet.

Die Uhrzeiger rückten vor, die erste halbe Stunde war um. Eine Frage beantwortet, dachte Ruth; noch vier ... Dann also die Kurzfragen, weil es jetzt wieder anfing; es war sogar ziemlich schlimm, aber sie würde sich dagegen wehren; sie würde tief durchatmen, und es würde vergehen. Mein Gott, ich habe so hart gearbeitet, dachte sie, plötzlich von Selbstmitleid überschwemmt. Das kann doch nicht alles vergeudet sein.

Wieder beugte sie sich über ihr Blatt und begann zu schreiben. Sie schrieb sehr schnell, weil sie unbedingt etwas zu Papier bringen mußte, wofür man ihr eine Note geben konnte. Wenn sie in dieser Prüfung versagte, würde sie ihren Magister nicht bekommen. Sie konnte es nicht im Dezember noch einmal versuchen; sie nicht.

Aber sie konnte nicht schnell genug schreiben. Sie merkte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren brach. Sie konnte kaum noch etwas sehen vor Schwindel ... wieder holte sie tief Atem.

Sie hob die Hand.

Die Frau mit dem Knoten, die auf dem Podium saß, sah auf. Sie sagte etwas zu dem Mann neben ihr und ging dann langsam, entsetzlich langsam zwischen den Bänken hindurch.

«Ja?»

«Ich möchte gern zur Toilette.»

«So bald schon?» Die Frau war verstimmt. «Muß das sein?» Wieder sah sie Ruth an, sah den Schweiß auf ihrer Stirn. «Also gut. Kommen Sie mit.»

Alle sahen auf, als Ruth hinausgeführt wurde. Es war ein umständliches Verfahren, niemand durfte allein hinausgehen. Die Prüflinge wurden wie Gefängnisinsassen behandelt, man mußte doch darauf achten, daß nicht etwa ein Spickzettel hinter der Toilette versteckt war.

Pilly biß sich auf die Lippe. Sie und Sam tauschten besorgte Blicke. So früh hatte Ruth sonst nie hinaus gemußt.

Dann hob auch Verena die Hand. Das war nicht nur ungelegen; das war schon eine kleinere Krise. Kein Prüfling konnte den Saal ohne Begleitung verlassen – andererseits mußte wenigstens eine Aufsichtsperson jederzeit im Saal sein. Der grauhaarige Mann oben auf dem Podium runzelte die Stirn und drückte auf einen Klingelknopf unter seinem Pult. Eine Sekretärin aus dem Prüfungsbüro erschien an der Tür und wurde zu dem Pult gewiesen, an dem Verena, mit der rechten Hand immer noch schreibend, den linken Arm in die Höhe hielt.

»Ich möchte einen Moment hinaus», sagte Verena.

Die Sekretärin nickte. Verena stand auf, und die ungläubigen Blicke sämtlicher Prüflinge folgten ihr zur Tür. Es war schwer zu glauben, daß Verena überhaupt körperliche Funktionen besaß.

Der goldene Zeiger der Uhr rückte vor. Drei Minuten – vier ...

Dann kam Verena zurück. Sie sah wohl und zufrieden aus und griff sofort wieder zu ihrem Füllfederhalter. Von Ruth war nichts zu sehen.

Es wird schon alles in Ordnung sein, dachte Pilly verzweifelt. Während der Physiologieprüfung und beim Parasitologie-Praktikum hatte Ruth auch hinaus gemußt; aber niemals so lange wie diesmal. Niemals gleich zwanzig Minuten lang ... eine halbe Stunde ... vierzig Minuten. Ruth war gescheit, aber selbst sie konnte es sich nicht leisten, bei der Prüfung so viel Zeit zu versäumen.

Die Frau mit dem Knoten war schon lange wieder im Saal; sie sprach leise mit dem grauhaarigen Mann, beide sahen zu Ruths leerer Bank hinüber.

Eine Dreiviertelstunde – eine Stunde ...

Dann war die Zeit abgelaufen, und sie war noch immer nicht zurück.

28

Sie war das berühmteste Schiff auf der Atlantikroute; die Mauretania, immer noch Königin der Meere mit ihren luxuriösen Salons und den glitzernden Läden. Filmstars reisten mit ihr und arabische Prinzen und Industriemagnaten. Gerade jetzt kam eine Frau in einem phantastischen Pelzmantel die Gangway herauf, von Fotografen verfolgt, nach denen sie sich mit einem strahlenden Lächeln umdrehte. Auch Heini war fotografiert worden, als er mit dem Zug aus London abgereist war; sein Leben hatte sich seit dem Wettbewerb völlig verändert. Selbst mit der Hälfte des Preisgeldes hatte er es sich leisten können, von Belsize Park in ein kleines Hotel umzuziehen. Er hätte erster Klasse reisen können, aber Fleury wollte, daß Ruth mitkam, und das hieß Touristenklasse reisen. Heini fühlte sich sehr edel, daß er dieses Opfer gebracht hatte, aber selbst in der Touristenklasse ging es auf diesem Schiff luxuriös zu. An die Reling gelehnt, hielt Heini nach Ruth Ausschau, die eigentlich inzwischen hätte dasein müssen.

Nun begann es, sein neues Leben, das Leben, das er sich seit seiner Kindheit ausgemalt hatte. Amerika und der Ruhm! Und er würde dies alles mit Ruth teilen. Viele Frauen würden ihn begehren – Heini wußte das und bildete sich nichts darauf ein –, aber ein Musiker brauchte Wurzeln und eine Frau. Horowitz' Spiel hatte an Tiefe gewonnen, als er Toscaninis Tochter heiratete; Rubinsteins Frau schirmte ihren Mann von allen Störungen ab. Ruth würde das gleiche für ihn tun, das wußte er.