Langer, stürmischer Applaus folgte; Blumen wurden auf das Podium gebracht; die Mitglieder der Jury machten sich Notizen und nickten. Ruth mochte Daisy, ihr gefiel ihr Spiel, aber: Lieber Gott, bitte laß sie nicht siegen!

Und nun der Höhepunkt all der Wochen der Aufregung und der Arbeit. Mit seinem leichten, federnden Schritt kam Heini auf das Podium heraus und verbeugte sich. Ruth hatte sämtliche Blumengeschäfte von Hampstead nach der perfekten Kamelie durchstöbert. Leonie hatte jede einzelne Rüsche seines Hemdes mit Akribie gebügelt. Aber der Charme, das gewinnende Lächeln hatten mit ihren Bemühungen nichts zu tun. Seine Bühnenpräsenz war schon immer eine seiner starken Seiten gewesen, das wußte Ruth, und sie sah hinauf zu der Loge, in der Mantella mit Jacques Fleury saß, dem Impresario, der genau wie die Preisrichter den Schlüssel zu Himmel oder Hölle in der Hand hielt. Mantella war wichtig, Fleury war Gott – er konnte Heini mit einem Wort in die Staaten versetzen, ihn zu einem Virtuosen und Star machen.

Berthold hob seinen Stab; das Orchester setzte ein ... zart stimmten die Geigen das Thema an, das dann von den Holzbläsern aufgenommen wurde ...

Und alle lächelten. Mantella hatte recht gehabt. Die Zuhörer waren für diese Musik bereit.

«Wenn die Engel für Gott singen, dann singen sie Bach, aber wenn sie zur Freude singen, dann singen sie Mozart, und Gott lauscht heimlich.»

Heini wartete in diesem Augenblick der Stille, den sie immer geliebt hatte, den Blick auf die Tasten gerichtet. Dann schlug er an, brachte das Thema so lebendig, so freudvoll ... und sie atmete auf, weil er so herrlich spielte. All seine Nervosität war verflogen, aufgegangen in dieser durchsichtigen, zarten, tröstlichen Musik, die vom Himmel kommend, wenn es überhaupt einen Himmel gab, durch ihn hindurchströmte. Er hatte dieses Wunder für sie vollbracht, als sie ihn zum erstenmal gehört hatte, und sie würde seiner niemals müde werden, immer dafür dankbar sein. Ihre ganze Vergangenheit war in dieser Musik enthalten – ihr ganzes Leben in der Stadt, von der sie einst geglaubt hatte, sie würde für immer ihr Zuhause sein. Kein Wunder, daß sie bestraft worden war, als sie diese Welt verlassen hatte.

Die Musik trug sie über Traurigkeit und Elend, Sorgen und körperliche Beschwerden hinaus – immer weiter empor. Ach, könnte man nur dort oben bleiben; könnte man nur so leben, wie Musik klang; würde doch die Musik niemals aufhören.

Dann der langsame Satz. Sie war jetzt alt genug für langsame Sätze, sie war uralt. Es mußte doch möglich sein, einen Menschen zu lieben, der dem Klavier solchen Zauber zu entlocken vermochte. Und es war möglich. Sie konnte Heini lieben, als Freund, als Bruder, als einen Menschen, dessen kindischer Egoismus belanglos wurde angesichts dieser Gottesgabe. Aber nicht als Mann, niemals, jetzt, da sie wußte ... Plötzlich verschwammen das Orchester und Heini hinter einem Tränenschleier. Was für einen grausamen Scherz hatte sich das Schicksal mit ihr erlaubt, sie auf ewig einen Mann lieben zu lassen, dem sie nichts bedeutete.

Der letzte Satz war Erleichterung, denn kein Mensch konnte allzulange in den himmlischen Sphären des Andante leben, und nun erklang auch das berühmte Rondo. Das mußte schon ein sehr ungewöhnlicher Star gewesen sein, der eine solche Melodie gezwitschert hatte, aber was spielte das für eine Rolle? Nur Mozart konnte so heiter und so schön zugleich sein. Alle waren hingerissen, und Ziller nickte mit dem Kopf. Das wollte viel sagen, denn Ziller mochte Heini nicht, aber er erkannte den brillanten Musiker.

Dann war es vorbei, und Heini wurde mit Ovationen gefeiert. Die Leute trampelten und schrien; eine Gruppe Schulmädchen warf Blumen auf das Podium, und sogar Jacques Fleury war in seiner Loge aufgestanden.

«Es tut mir leid, daß ich mich immer darüber beschwert habe, daß er zu lange im Bad war», sagte Leonie und tupfte sich die Augen. «Er war wirklich immer zu lange im Bad, aber es tut mir leid, daß ich mich beklagt habe.»

Heini mußte der Preisträger sein. Daran konnte es eigentlich keinen Zweifel mehr geben.

Aber jetzt kehrte Berthold aufs Dirigentenpult zurück, und der lange Russe Selnikow setzte sich an den Flügel. Er spielte gut, er spielte unglaublich gut, dank auch seiner hervorragenden Ausbildung und der ungeheuren Seele, die eine russische Spezialität ist.

Ruth wurde wieder übel. Bitte, lieber Gott, ich werde alles tun, was du von mir verlangst, aber laß Heini den ersten Preis gewinnen!


Das Abendessen war ausgezeichnet gewesen, wie immer bei Rules; sie hatten einen erlesenen Chablis getrunken, und Claudine Fleury, in einem kleinen schwarzen Kleid, das bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem raffinierten Hemdchen hatte, hatte Quin zu einem vielbeneideten Mann gemacht.

Jetzt gähnte sie verhalten. «Das war ein wunderschöner Abend, Darling. Ich wünschte, wir könnten jetzt zu mir fahren, aber Jacques ist noch eine ganze Woche hier.»

«Natürlich, das verstehe ich», sagte Quin, und es gelang ihm, gerade das richtige Maß an Bedauern in seine Worte zu legen. Claudine hatte ihn einige Tage zuvor angerufen, weil sie ihn noch einmal sehen wollte, ehe er nach Afrika abreiste, und er war bereit gewesen, den Abend so zu nehmen, wie sie ihn gestalten wollte. Er schuldete ihr viele vergnügliche Stunden; dennoch kam ihm die vorübergehende Heimkehr ihres Vaters nicht ungelegen.

«Wie geht es Jacques? Hat er wieder ein paar junge Genies aufgetrieben?»

«Du wirst lachen, das hat er tatsächlich. Er rief an, kurz bevor ich ging. Er hat einen jungen Österreicher unter Vertrag genommen, einen Pianisten, den er nach New York mitnehmen und dort groß herausbringen will. Heute hat irgendein Wettbewerb stattgefunden; er hatte mich aufgefordert mitzukommen, aber drei Klavierkonzerte an einem Nachmittag – nein, danke!»

«Dann hat dieser junge Österreicher gesiegt?»

«Nein. Er mußte sich den ersten Preis mit einem Russen teilen, und das scheint ihm gar nicht recht gewesen zu sein. Jacques hält den Russen für musikalischer, aber mit den Russen ist im Moment nichts anzufangen; sie werden ja so streng bewacht. Den Osterreicher, Heini Radek, hingegen kann er praktisch sofort in die Staaten mitnehmen. Und seine Freundin auch – ein sehr hübsches Mädchen offenbar, die Radek abgöttisch zu lieben scheint. Ich glaube, sie hat monatelang in einem Café als Bedienung gearbeitet, um Radeks Klavier zu bezahlen oder so was Ähnliches.» Sie gähnte wieder, legte dann ihre Hand auf die seine. «Wir werden uns wohl vor deiner Abreise nicht mehr sehen?»

«Nein, es sind ja nicht einmal mehr drei Wochen. Und Claudine – ich danke dir für alles.»

«Oh, das klingt aber sehr nach endgültigem Abschied, Darling!» Sie sah ihn forschend an. «Wir werden uns doch wiedersehen?»

«Ja, natürlich.»

Sie lächelte. «Du wirst mir fehlen, chéri. Du wirst mir sogar sehr fehlen, aber ich glaube, du brauchst diese Reise», sagte sie. «Ja, ich glaube, du brauchst sie ganz dringend.»


Die Nachricht von Quins Entschluß, Thameside zu verlassen, die der Vizekanzler offiziell am ersten Tag des Sommersemesters erhielt, hatte Lady Plackett so mitgenommen, daß Verena sich gezwungen sah, unter vier Augen mit ihrer Mutter zu sprechen und sie in den wahren Stand der Dinge einzuweihen.

«Es gibt gar keinen Zweifel, Mama, daß er die Absicht hat, mich nach Afrika mitzunehmen, aber es muß vorläufig noch ein Geheimnis bleiben. Ich kann mich doch auf dich verlassen, nicht wahr?»

Lady Plackett war nicht so erfreut gewesen, wie Verena gehofft hatte. Sie wünschte einen Heiratsantrag von Quin, nicht daß er sich ihrer Tochter als unbezahlte Forschungsassistentin bediente. Doch sie mußte einsehen, daß Verena, die bisher immer nur getan hatte, was sie selber wollte, nun ihre eigenen Wege ging. Sie blieb daher Quin gegenüber freundlich und entgegenkommend und lud ihn weiterhin zu exklusiven kleinen Abendessen ein.

Verenas Reisevorbereitungen liefen derweilen auf vollen Touren. Sie hatte sich eine Höhensonne gekauft; sie hatte sich mit Netzhemden und Khakihosen eingedeckt; sie rieb sich ihre Füße allabendlich mit Franzbranntwein ein. Andere hätten sich vielleicht gewundert, weshalb der Professor so lange brauchte, um sie in seine Pläne einzuweihen, aber Verena kannte keine Minderwertigkeitsgefühle, und wenn sie doch irgendwelche Zweifel an sich gehabt hätte, so wären sie von Brille-Lamartaine ausgeräumt worden, dessen aufgeregte Beschreibungen der akademischen femme fatale, die Somerville in ihren Netzen gefangen hatte, genau auf sie paßten.

Doch nun, da die Abschlußexamen nur noch eine Woche entfernt waren, fand Verena, sie könnte dem Professor wenigstens einen Wink geben. Er hatte ihre letzte Arbeit so freundlich gelobt, daß ihr ganz warm geworden war, und die intime Diskussion über luftdurchlässige Unterwäsche, die sie mit ihm geführt hatte, schien ihr ein Hinweis darauf, daß die Zeit strenger Geheimhaltung nun vorüber sei.

Quin wurde also zum Tee eingeladen, und da er sich der Tatsache bewußt war, daß dies sein letztes gesellschaftliches Beisammensein mit der Familie Plackett sein würde, bemühte er sich, liebenswürdig zu sein.

Es war ein schöner Frühsornmertag, die Terrassentüren waren weit geöffnet, der Blick hinaus war Quin aus früheren Jahren vertraut, als Placketts Vorgänger noch gelebt hatte und die Gespräche zwanglos und amüsant gewesen waren.

«Wollen wir nicht einen Moment auf die Terrasse hinausgehen?» schlug Verena vor, und er nickte und folgte ihr, während Lady Plackett taktvoll zurückblieb. An die Brüstung gelehnt, ließ Quin seine Gedanken schweifen, während er zum träge dahinströmenden Fluß hinuntersah.

«Du lebst immer irgendwo am Wasser, nicht wahr?» hatte die törichte kleine Tansy Mallet gesagt, und es stimmte, er lebte immer am Wasser, wenn es irgend möglich war, und würde wahrscheinlich auf ihm sterben, denn er war immer noch entschlossen, im Kriegsfall zur Marine zu gehen.