«Nach Amerika? Ach Heini, das ist so weit!»
Was er darauf gesagt hatte, während er in den grauen, kalten Regen hinausblickte, hatte sie tief getroffen.
«Weit weg?» hatte er wiederholt. «Von wo?» Und sie hatte erkannt, was er im Land ihrer Zuflucht sah: die schäbige Unterkunft, die Armut, die fremde Sprache, das erbärmliche Essen. Dennoch kämpfte sie.
«Ich könnte meine Eitern nicht verlassen.»
Er hatte sie bei beiden Händen genommen und ihr in die Augen gesehen. «Ruth, du bist egoistisch. Wir können sie doch nachholen, sobald ich festen Boden unter den Füßen habe. Alle sagen, daß es zum Krieg kommen wird – und was ist, wenn London bombardiert wird?»
«Ja, natürlich.» Er hatte recht. Sie war egoistisch. Sie konnte ihren Eltern so am besten helfen – und auch sich selbst. Fünftausend Kilometer Abstand müßten eigentlich ausreichen, alle Versuchung, auf Knien zu Quin zurückzukriechen, zu ersticken.
«Also gut, Heini, wenn du gewinnst und Mantella es arrangieren kann, dann komme ich mit. Und ich helfe dir, soviel ich kann.»
Das war vor zwei Wochen gewesen, und Ruth hatte sich ganz in seinen Dienst gestellt. Sie hatte seine zerfetzten Noten geklebt; sie massierte seine Finger; sie saß unermüdlich neben ihm, während er die gefürchteten Arpeggios der Hammerklaviersonate übte.
Sie half auch Pilly, fuhr täglich zu ihr und schrieb noch einen ganzen Stapel Merkzettel, die Pilly überall an die Wände kleben konnte, bis schließlich sogar Mr. Yarrowby, der sich jeden Tag unter Schaubildern der Fortpflanzung bei den Schwämmen oder der Dinosaurierfundstätten in den Vereinigten Staaten rasierte, ein achtbarer Zoologe wurde. Und sie bediente weiterhin im Willow.
Kurz vor Ostern zog Kurt Berger, den man in Manchester für ein weiteres Semester verpflichtet hatte, dort in ein größeres Zimmer um und bat Leonie, zu ihm zu kommen. Zwischen Mann und Tochter hin und her gerissen, wußte Leonie nicht, was sie tun sollte. Schließlich gab Ruth den Ausschlag. «Du mußt fahren, Mama», insistierte sie. «Mir geht es doch gut. Ich habe Mishak und Tante Hilda, und es ist ja nur für ein paar Wochen. Wenn alles vorbei ist, der Wettbewerb und die Examen, können wir es uns richtig schön machen.»
Leonie reiste also nach Manchester, und Ruth, von den Zwängen mütterlicher Fürsorge befreit, arbeitete noch härter und fühlte sich noch elender – und dann begann schon wieder das Sommersemester.
Quins Vorlesungen hatten zu Ostern geendet. In den Wochen vor den Abschlußexamen hielt er nur zwei Wiederholungsseminare ab, den Rest seiner Zeit verbrachte er im Museum. Er hatte sich innerlich darauf vorbereitet, wie er mit Ruth umgehen sollte, wenn er sie sehen sollte. Auf anfängliche Wut war eisige Gleichgültigkeit gefolgt. Die Vergangenheit war erledigt; Thameside trat mit dem Näherrücken seiner Abreise immer tiefer in die Schatten zurück. Doch die betonte Gleichgültigkeit, das kühle Nicken, das er ihr zugedacht hatte, waren gar nicht nötig. Ruth erschien nicht zu seinen Seminaren und schaffte es, niemals dort zu sein, wo er gerade war. Das war etwas ganz anderes als das Unsichtbarkeitsspiel, das sie zu Anfang des Jahres gespielt hatte; sie hatte jetzt einen sechsten Sinn dafür entwickelt, ihm aus dem Weg zu gehen, der sie selten im Stich ließ. Sie wußte, wann Quin im Haus war – sie wußte es schon, ehe sie den Crossley am Tor sah –, und reagierte entsprechend. Natürlich litt ihre Arbeit, aber das war ihr nicht mehr wichtig. Wichtig war jetzt nur das Überleben.
Ihren Freunden entging nicht, wie schlecht sie aussah; daß sie keinen Appetit hatte.
«Was ist denn nur los mit dir, Ruth?» fragte Pilly Tag für Tag, und Tag für Tag antwortete Ruth: «Nichts. Es geht mir gut. Ich sorge mich nur ein bißchen um Heini, das ist alles.»
Vor wenigen Wochen hatte man ihr noch zugetraut, daß sie bei den Prüfungen als Beste ihres Jahrgangs abschneiden würde; jetzt konnte man nur noch hoffen, daß sie überhaupt durchkommen würde. Elke Sonderstrom wollte mit ihr sprechen, entschied sich dann aber aus eigenen Gründen dagegen, und Roger Felton, der ihr normalerweise keine Ruhe gelassen hätte, bis sie ihm gesagt hätte, was ihr fehlte, hatte selbst alle Mühe, die Tage herumzubringen; die kanadische Tänzerin hatte nämlich zur allgemeinen Überraschung Zwillinge geboren. Die Babys waren hinreißend–ein Junge und ein Mädchen –, und Lillian war nach Jahren bitterer Enttäuschung rundum glücklich. Leider jedoch schienen die beiden Kleinen vom Schlaf nicht viel zu halten. Nacht für Nacht marschierte der arme Roger Felton in seinem Schlafzimmer auf und ab und dachte voller Wehmut an die Tage zurück, als das Thermometer seine einzige Sorge gewesen war. Er wußte, daß es Ruth nicht gutging, daß sie in ihrer Arbeit stark nachgelassen hatte, aber er schloß sich der allgemeinen Überzeugung an, daß sie sich um Heini sorgte und ihre Arbeit jetzt hinter der gemeinsamen Zukunft mit ihm den zweiten Platz einnahm.
Nur ein Vergnügen gestattete sich Ruth in diesen unglücklichen Wochen. Es ergab sich aus einem Gespräch, das sie mit ihrer Mutter führte, ehe diese nach Norden reiste.
«Was ist eigentlich aus dem alten Philosophen geworden», fragte Ruth, «der in Wien immer in Gedanken versunken auf der Bank vor der Börse saß?»
«Ach, den haben sie schon vor Jahren in eine Schweizer Heilanstalt gebracht. Er war total verrückt – als sie seine Wohnung ausräumten, fanden sie massenhaft Damenunterwäsche, die er in Geschäften gestohlen hatte, und seine Haushälterin hat er wie Dreck behandelt.»
Damit war es klar. Ein Mann konnte verrückt sein, und man konnte dennoch auf sein Wort hören; selbst daß er ein Unterwäschefetischist war, konnte man ihm verzeihen – aber die Haushälterin schlecht zu behandeln, das ging wirklich zu weit. Und ohne weitere Skrupel gab Ruth ihren langen Kampf, Verena Plackett zu lieben, auf.
Das Ergebnis der ersten Runde des Klavierwettbewerbs überraschte niemanden. Heini war ebenso weitergekommen wie die beiden Russen und Leblanc; und die zweite Runde bestätigte die allgemeine Überzeugung, daß der Sieger unter diesen vier zu suchen sei. Doch die Russen, wenn auch hochbegabt, waren unter dem «Schutz» ihrer Begleiter in ihren Hotels eingesperrt, und Leblanc war ein unzugänglicher, strenger Mann, der es einem nicht leichtmachte, ihn zu mögen. Heini mit seiner gewinnenden Art und seiner romantischen Liebe, von der mittlerweile alle wußten, war der eindeutige Liebling des Publikums, als die Zeit des Finales in der Albert Hall kam.
«Mir ist so übel», sagte Ruth, und Pilly, die neben ihr saß, drückte ihr tröstend die Hand.
«Er gewinnt bestimmt, Ruth. Ganz sicher. Alle sagen es.»
Ruth nickte. «Ja, ich weiß. Aber er war so nervös, weißt du. Und letzte Nacht ist er dauernd aufgewacht.»
Ruth selbst war die ganze vergangene Nacht wach gewesen, hatte für Heini Kakao gekocht, ihm den Kopf gestreichelt, bis er schlief, unfähig, selbst ein Auge zuzutun. Aber das war dieser Tage nichts Besonderes.
Überraschend viele Zuhörer hatten sich zur letzten Runde des Bootheby-Klavierwettbewerbs in der Albert Hall eingefunden. Von den sechs Finalisten hatten drei bereits am Vortag gespielt: einer der Russen, ein Schwede und Leblanc, den Heini ganz besonders fürchtete. Heute – am letzten Tag – würde die hübsche Amerikanerin, Daisy MacLeod, mit Tschaikowsky anfangen, und den Schluß würde der hochgewachsene Russe, Selnikow, mit Rachmaninow bilden. Dazwischen mußte Heini spielen. Er war enttäuscht gewesen, als sie die Lose gezogen hatten; er hatte gehofft, als letzter spielen zu können. Man mochte sagen, was man wollte, der letzte Vortragende blieb den Leuten immer am lebhaftesten im Gedächtnis.
Die Orchestermitglieder nahmen ihre Plätze ein. Dann folgte der Dirigent. Berthold und das BBC-Symphonie-Orchester für diese Konzerte zu bekommen, war eine große Leistung der Organisatoren. Heini, der am Morgen mit ihnen geprobt hatte, war begeistert gewesen.
Leonie, die auf Ruths anderer Seite saß, drehte den Kopf und lächelte ihrer Tochter zu. Sie war extra von Manchester heruntergekommen und wollte bis nach den Examen in der folgenden Woche bleiben. In ihre tiefe Besorgnis um Ruth, der es offensichtlich nicht gutging, mischte sich die Angst, ihre Tochter schon bald zu verlieren, denn sie wußte, daß Heini nach Amerika gehen würde, wenn er in diesem Wettbewerb siegen sollte.
«Du darfst es dir nicht anmerken lassen», hatte ihr Mann gesagt. «Du mußt es ihr wünschen. Dort ist sie in Sicherheit, und das ist das einzig Wichtige.»
Seit März, als Hitler, mit dem Sudentenland nicht zufrieden, in Prag einmarschiert war, glaubten nur noch wenige Menschen an den Frieden.
Die ganze Reihe war von Ruths Freunden und Verwandten besetzt. Neben Pilly saßen Janet und Huw und Sam. Der Doktorand aus der deutschen Abteilung war da; Mishak und Hilda ... sogar Paul Ziller war gekommen, und das war eine Ehre. Ziller ging dieser Tage viel im Kopf herum; der Chauffeur aus Northumberland ließ einfach nicht locker, wollte unbedingt vorspielen. Von allen Seiten wuchs der Druck auf Ziller, ein neues Quartett zu gründen.
Es war heiß in dem Saal mit dem Kuppeldach. Leonie, die selbst um drei Uhr nachmittags wie eine ernsthafte Konzertbesucherin in schwarzen Rock und gestärkte weiße Bluse gekleidet war, fächelte sich mit ihrem Programm Kühlung zu. Und jetzt kam Daisy MacLeod heraus, in einem hübschen blauen Kleid, das dunkle Haar zurückgebunden. Sie lächelte scheu ins Publikum, und ein Sturm von Applaus begrüßte sie. Das Tschaikowsky-Konzert war das richtige für sie. Sie war sehr jung; es gab ein paar Stolperer, und ein-, zweimal kam sie aus dem Tempo, aber Berthold führte sie zurück, und insgesamt war ihr Vortrag ausgesprochen gefällig. Gleich, ob sie siegte oder nicht, eine Karriere war ihr sicher.
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