Nein, das war nicht wahr. Das konnte nicht wahr sein. «Ich sterbe, wenn du mich verläßt», hatte sie vor noch nicht vierundzwanzig Stunden zu ihm gesagt. Aber sie hatte auch andere Dinge gesagt. Sie hatte zum Beispiel gesagt: «Ich würde Heini bis ans Ende der Welt folgen.»

Er drückte seine Stirn an die Fensterscheibe und rang um Glauben. Morgen würde er sie sehen. Sie würde zu seiner Vorlesung kommen; sie würde ihm alles erklären. Dieser Abstieg zur Hölle konnte nicht Wirklichkeit sein.

«O Gott, gib mir Glauben», betete Quin, der seit seiner Kindheit nicht mehr gebetet hatte.

Aber Gott schwieg.


Ruth saß in der Untergrundbahn und starrte auf die Reklame auf der Wand gegenüber.

«Leiden Sie an Kälteschauer oder Schüttelfrost? Wenn ja, dann holen Sie sich Mr. Thermo, der heizt Ihnen ein und vertreibt alle Kältegefühle im Nu.»

Mr. Thermo, eine Art Flamme mit Beinen, würde sich anstrengen müssen, um die Kältegefühle aus ihrem Herzen zu vertreiben. Es war nicht etwa so, daß sie nicht geschlafen hatte – nachdem sie das Halsband zurückgebracht hatte, war sie wieder nach Hause gegangen, hatte ihrer Mutter erklärt, sie habe eine Migräne und war ins Bett gekrochen und hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. Sie hatte tatsächlich geschlafen, denn plötzlich vernichtet zu werden, machte einen todmüde. Nein, das Schlafen war nicht das Problem, sondern der Wachzustand, die Qual ohne Ende, die ewige Wiederholung des gleichen: Es kann nicht wahr sein, ich kann mich doch nicht so getäuscht haben ...

Dennoch hatte sie am Morgen beschlossen, zu den Vorlesungen zu gehen.

«Ruth, es hat doch keinen Sinn, daß du in diesem Zustand gehst», sagte Leonie beim Anblick des angespannten, blassen Gesichts ihrer Tochter.

«Ich muß, Mama. Es ist der letzte Tag heute und Professor Somervilles letzte Vorlesung.»

Sie hatte seinen Namen gesagt. Sie hatte sich so englisch verhalten wie Lord Nelson auf der Säule.

Aber in der Untergrundbahn sah sie der Wahrheit ins Auge. Es war nicht Mut, es war die Unmöglichkeit, nicht dort zu sein, wo er war, und an dieser Stelle, während sie Mr. Thermo anstarrte, kehrten die Gedanken tiefster Verzweiflung zurück. Sie wußte, daß er mit ihr ein klein wenig glücklich gewesen war; ja, das wußte sie. Wenn sie seine Bedingungen annahm, wenn sie sich von Bowmont und aus seinem öffentlichen Leben fernhielt ... wenn sie sich irgendwo in London eine Arbeit suchte und eine Wohnung, eine billige Wohnung wie die Janets, wo sie manchmal zusammensein konnten? Sie konnten ihre Ehe annullieren lassen wie geplant, er konnte sich mit einer Frau seiner eigenen Kreise verheiraten, wenn er das wünschte, aber sie würde immer für ihn da sein. Nur um ihn ab und zu zu sehen, nur um zu wissen, daß sie nicht in graue Wüsten endloser Zeit ohne ihn verstoßen werden würde.

Nein, das hatte keinen Sinn. Geheime Liebesnester waren etwas für Leute, die kontrolliert und beherrscht waren, nicht für solche, die meinten, sie müßten sterben, wenn der Geliebte aus dem Bett aufstand, um ein Glas Wasser zu holen. Sie liebte ihn viel zu sehr dafür, sie würde Szenen machen und Forderungen stellen. Sie konnte nur eines tun: ihren Studienabschluß machen und für immer verschwinden.

Als sie am Embankment ausstieg und zum Aufzug ging, sah sie, daß Kenneth Easton im selben Zug gewesen war. Kenneth war im allgemeinen wenig freundlich, genau wie Verena, aber heute schien er mit ihr zusammen gehen zu wollen, und Ruth sah, daß er blaß war und elend aussah. Das Spiegelbild in einem Schaufenster, an dem sie vorüberkamen, zeigte zwei blasse, niedergeschlagene Unglücksraben.

«Du siehst ein bißchen müde aus», sagte Ruth, während sie zur Brücke gingen.

«Ja, das bin ich auch», antwortete Kenneth. «Ich bin schrecklich müde. Ich habe überhaupt nicht geschlafen.»

«Gut, daß das Semester jetzt zu Ende ist», sagte Ruth.»Von morgen an kannst du nach Herzenslust faulenzen. Das Squashspielen ist ja auch ziemlich anstrengend.»

Kenneth wandte sich ihr zu. Sein langes Gesicht zeigte Dankbarkeit, sie hatte ihm den Anknüpfungspunkt geliefert, den er sich gewünscht hatte.

«Ja, es ist nicht nur anstrengend, es ist auch sehr teuer. Und das ist nicht das einzige ... weißt du, es ist gar nicht so einfach, dauernd statt <Entschuldigung> <Pardon> zu sagen und solches Zeug. Manchmal versteht meine Mutter überhaupt nicht, was ich meine. Und die Leute in Edgware Green schauen mich komisch an, weil ich plötzlich versuche, keinen Dialekt mehr zu sprechen. Aber das hat mir alles nichts ausgemacht, weil ich wirklich dachte, Verena würde mich mit der Zeit immer mehr mögen.»

Sie hatten den Fluß erreicht, und einen Moment lang verlor Ruth die Konzentration («Ich kaufe tausend Limonadenflaschen und stecke in jede ein Briefchen, und jede ...»)

Als sie Kenneths Stimme wieder hörte, bekannte er gerade seine große Torheit. «Ich habe ihr praktisch einen Antrag gemacht. Das war gestern abend nach dem Squash, als wir im Club noch etwas zusammen getrunken haben. Es war sehr nett. Ich vergaß völlig, daß mein Vater nur ein Lebensmittelhändler war. Er ist tot, aber das macht es nur noch schlimmer. Wäre er am Leben geblieben, hätte er es vielleicht weiter gebracht, aber jetzt ist er auf immer und ewig ein Lebensmittelhändler.»

«Und Verena hat dir einen Korb gegeben?»

«Ja. Und dann hat sie mir von Professor Somerville erzählt, und das hat es nur noch schlimmer gemacht. Ich wußte ja, daß sie eine Schwäche für ihn hat, aber ich dachte, es wäre einseitig – aber als sie mir dann das mit Afrika sagte, war mir klar ...»

Sieh ins Wasser, sagte sich Ruth. Wasser heilt ... es schwemmt den Schmerz weg. «Was ist denn mit Afrika?»

«Der Professor nimmt sie mit. Sie wußte es schon vorher, aber sie hat nichts gesagt, weil es geheim bleiben soll – und gestern war sie bei der Geophysikalischen Gesellschaft und hat erfahren, daß der Assistent des Professors gerade noch eine weitere Kabine gebucht hatte. Niemand darf etwas wissen – eigentlich sollte ich dir das gar nicht erzählen. Du wirst doch nichts sagen, Ruth? Versprichst du mir das?»

«Natürlich, Kenneth. Du kannst dich auf mich verlassen.»

«Ich hätte es wissen müssen. Die besseren Leute bleiben immer unter sich. Leute wie wir sind ihnen zur Abwechslung mal ganz recht, aber wenn es darauf ankommt, sind wir Luft. Mein Vater war Lebensmittelhändler, das sagt alles. Ich hatte nie eine Chance.»

Nein, auch ich hatte nie eine Chance. Mein Vater ist etwas viel Schlimmeres als Lebensmittelhändler. Nun, wenigstens blieb ihr die Demütigung erspart, sich Quin als eine Art Konkubine anzubieten. Die Reise nach Afrika würde Monate dauern, und es war undenkbar, daß er nicht irgendwann Verena heiraten würde. Kenneth hatte ihr einen Gefallen getan, indem er die letzten Hoffnungsfunken ausgetreten hatte.

Sie schaffte es, ihm ein paar tröstende Worte zu sagen, und dann gingen sie gemeinsam durch den Torbogen in den Hof der Universität. Am anderen Ende, wie zur Bestätigung all dessen, was Kenneth gesagt hatte, standen Quin und Verena in lebhaftem Gespräch unter dem Walnußbaum. Quin hob den Kopf; er sah sie direkt an. In der Nacht hatte sie geglaubt, es könnte nicht schlimmer werden, aber sie hatte sich getäuscht. Sie durfte jetzt nicht zu ihm laufen, sich nicht in seine Arme werfen und ihn bitten, sie aus diesem Alptraum zu befreien, und das war noch schlimmer. Sie zupfte Kenneth am Ärmel.

«Kenneth, ich glaube, ich geh doch nicht zur Vorlesung – Heini hatte mich gebeten, in den Konzertsaal zu kommen, wo er übt, und ich finde, das sollte ich tun. Würdest du Professor Somerville Bescheid sagen und mich entschuldigen? Sag ihm, daß ich zu meinem Verlobten muß, und frage Sam, ob ich später seine Notizen haben kann.»

Kenneth, der ebenfalls litt, brachte eine hochherzige Geste zustande. «Du kannst meine Notizen haben, Ruth. Meine Schrift ist viel klarer als die von Sam.»


Quin hatte sie kommen sehen; hatte ihr leuchtendes Haar gesehen, ihren schönen Gang, ihre anmutige Gestalt in dem abgetragenen Cape, und sein Herz hatte einen Sprung getan. Jetzt, am Morgen, wußte er, daß das, was er in der Nacht gedacht hatte, unmöglich war, und er wartete darauf, daß sie ihm entgegenlaufen würde. Aber dann blieb sie stehen und drehte sich um und ging davon, und noch ehe Kenneth ihm Ruths Worte ausrichtete, packte der Schmerz ihn mit eisernen Zangen, und aus der Ungläubigkeit wurde Überzeugung. Er war gebraucht und verraten worden.

27

Ruth arbeitete während der ganzen Osterferien. Die Arbeit war, wie sie ihrer Mutter versicherte, schuld an den Schatten unter ihren Augen, an ihrem mangelnden Appetit und einem grünlichen Schimmer auf ihrer Haut.

«Dann mußt du eben aufhören!» schrie Leonie sie an, die es nicht aushalten konnte, ihre Tochter so elend und unglücklich zu sehen.

«Das kann ich nicht», antwortete Ruth und zitierte unweigerlich Mozart, der gesagt hatte, er arbeite weiter, weil es ihn weniger ermüde, als zu rasten.

Ruth mochte körperlich und seelisch erschöpft sein; Heini war dagegen glänzender Stimmung. Er und Ruth hatten sich wieder ganz ausgesöhnt. Sie war zu ihm gekommen und hatte ihn um Verzeihung gebeten, und er hatte sie ihr von ganzem Herzen gewährt.

«Es ist nicht deine Schuld, Liebste», hatte er gesagt. «Diese Wohnung hätte jeden abgeschreckt. Aber wenn du mir jetzt hilfst, Ruth, wenn du mir jetzt zur Seite stehst, dann kann ich gewinnen, das weiß ich. Ich verlange nichts Körperliches – wenn ich mir einen Namen gemacht habe, können wir heiraten und irgendwo in einem herrlichen Hotel unsere Flitterwochen verbringen. Mantella meint nämlich, er könnte mir helfen, nach Amerika zu kommen, wenn alles gutgeht, und wenn ihm das gelingen sollte, mußt du mitkommen. Du mußt einfach – ich könnte niemals allein dorthin gehen.»