Doch jetzt beugte sich der Fahrer aus dem Lieferwagen und rief: «Es ist schon in Ordnung, ich hab hier eine Beschreibung. Du kannst das Päckchen abgeben – laß sie nur unterschreiben.»
Ruth nahm das Päckchen und unterschrieb. Immer noch verwirrt sagte sie: «Es tut mir leid, ich kann Ihnen nicht einmal ein Trinkgeld geben – aber trotzdem vielen Dank. Nur, wenn es doch ein Mißverständnis sein sollte ...?»
«Dann wenden Sie sich an Cavour und Stattersley. Die können Ihnen die Sache dann umtauschen.»
Der Lieferwagen fuhr ab. Ruth öffnete das Päckchen. Im ersten Moment begriff sie nicht, was sie sah: ein Halsband aus grünen Steinen, jeder in Brillanten gefaßt, Glied um Glied mit einer goldenen Kette verbunden. Smaragde, so grün wie das Meer, wie die Augen des Buddha, einer so schön wie der andere.
Dann begriff sie plötzlich. Dies war ein Geschenk – eine Morgengabe, die ihr mit Eilboten gesandt worden war, damit sie sie noch am Morgen nach der Brautnacht erreichte. Eine Morgengabe von obszöner Kostbarkeit, weil Quin großzügig war und sie nicht mit billigem Plunder abfinden wollte, jedoch nicht mißzuverstehen in ihrer Bedeutung.
«Das Wort kommt aus dem Lateinischen matrimonium ad morganaticum», hatte Quin im Stadtpark erklärt und ihr den Begriff der morganatischen Ehe erläutert. «Es ist eine Ehe, die auf der Morgengabe beruht, mit der der Ehemann sich von jeglicher Verantwortung seiner Frau gegenüber loskauft. In einer solchen morganatischen Ehe hat die Ehefrau keinen Anteil an den Pflichten und der Verantwortung ihres Ehemanns, und die gemeinsamen Kinder erben nicht.»
Deshalb hatte er sie gedrängt, heute morgen zu Hause zu bleiben; damit er sicher sein konnte, daß sie seine Morgengabe erhalten und begreifen würde, daß sie in Bowmont nicht erwünscht war. Eine Frau wie sie, Flüchtling, Ausländerin, teilweise jüdischer Herkunft, durfte sein Bett teilen, aber nicht sein Heim. Wenn so etwas Dr. Levy geschehen konnte, warum dann nicht auch ihr?
Sie klappte das Etui zu und schob es in die Tasche ihres Morgenrocks. Der Schmerz traf sie körperlich, sie litt an ihm wie an einer schweren Krankheit. Warum konnte man dem Zittern, den Schwindelgefühlen, der schrecklichen Flauheit nicht Einhalt gebieten? Und wenn man es schon nicht konnte, warum folgte dann nicht das nächste? Warum starb man nicht einfach?
«Sieh dir das an!» rief Lady Plackett. «Das ist ja unerhört! Wir müssen sofort Professor Somerville informieren, damit er das Nötige veranlassen kann.»
In Verenas Erwartungen bezüglich Afrika nicht eingeweiht, war sie schon lange nicht mehr so begeistert von Quinton Somerville, der ihr nichts zu unternehmen schien, um seine Beziehung zu ihrer Tochter zu fördern.
Verena nahm ihrer Mutter die Zeitung aus der Hand und stimmte ihr zu. Bisher hatte sie nichts gefunden, was sich gegen Ruth verwenden ließ, und gewisse Dinge nagten immer noch an ihr. Warum hatte man Ruth in Bowmont in den Turm gebracht, den sonst kein Mensch betreten durfte? Was für eine Verbindung hatte zwischen Quin und dieser Österreicherin bestanden, bevor sie nach England gekommen war?
«Das wirkt ziemlich herausfordernd», bemerkte sie mit ihrer scharfen, präzisen Stimme und verspürte Genugtuung. Wenn Quin immer noch glaubte, sich zum Beschützer dieser Ausländerin aufspielen zu müssen, dann würde dieses Foto dem gewiß ein Ende bereiten.
«Ich rufe gleich seine Sekretärin an», sagte Lady Plackett.
So kam es, daß Quin, als er vom Museum zurückkehrte, wo er alles Nötige für Ruths Teilnahme an der bevorstehenden Expedition veranlaßt hatte, eine Nachricht von Lady Plackett vorfand. Immer noch auf Wolken des Glücks schwebend, ging er ins Haus des Vizekanzlers hinüber.
«Wir denken, es wird Sie interessieren, wie eine Ihrer Studentinnen ihre Freizeit verbringt», sagte Lady Plackett spitz und schlug die Zeitung auf.
Quin dachte nicht darüber nach, wie das Boulevardblatt Daily Echo seinen Weg in das illustre Heim des Vizekanzlers gefunden hatte. Er dachte nicht darüber nach, weil das Foto – eine halbe Seite in der Mitte des Blatts – ihm einen Schlag versetzte, auf den er überhaupt nicht vorbereitet war.
Es zeigte Ruth und Heini Seite an Seite, sehr nahe beieinander. Sie hielten sich nicht umschlungen, sie räkelten sich auch nicht auf einem Sofa – nichts dergleichen. Heini saß am Flügel, und Ruth neigte sich zu ihm, einen Arm leicht gebogen hinter seinem Kopf mit dem lockigen Haar, und ihr Gesicht direkt der Kamera zugewandt. Glücklich und vertrauensvoll sah sie den Betrachter mit ihrem süßen Lächeln an, und Heini, den eine Locke ihres Haares berührte, blickte anbetend zu ihr auf. Unter dem Bild stand natürlich: Heini und sein Star.
«Ich denke, Sie werden mir zustimmen, daß diese Art der Zurschaustellung in der Sensationspresse absolut inakzeptabel ist», sagte Lady Plackett.
«Und das ist noch nicht alles», warf Verena ein. «Sie hat die Universität mit in Verruf gebracht. Es ist ausdrücklich von Thameside die Rede. Sie wird als eine der brillantesten Studentinnen bezeichnet.»
Quin schwieg. Er verstand nicht die Wirkung, die das Bild auf ihn hatte. Er hätte es weniger schmerzlich gefunden, sie mit Heini im Bett abgelichtet zu sehen. Die Menschen gingen aus allen möglichen Gründen miteinander ins Bett, aber die Hingabe und die Reverenz, mit denen sie sich dem Jungen zuneigte, fand er unerträglich.
«Sie scheint mir einem etwas skrupellosen Journalisten zum Opfer gefallen zu sein», sagte er schließlich.
Er hatte recht. Kurz nach dem Debakel in Janets Wohnung hatte Mantella Ruth zu sich bestellt und mit Zoltan Karkoly, einem ungarischen Journalisten, bekannt gemacht, der jetzt für das Daily Echo arbeitete. Karkoly hatte ihr erklärt, daß sein Artikel Teil einer Serie sein würde, die den Teilnehmern am Bootheby-Klavierwettbewerb und der Musik, die sie spielen würden, gewidmet war. Sehr geschickt hatte er sie ausgehorcht und eine Menge von ihr erfahren, beispielsweise über Mozarts Menagerie; nicht nur über den Star, den er für vierunddreißig Kreuzer auf dem Markt gekauft hatte, sondern auch über einen nachfolgenden Kanarienvogel und das Pferd, auf dem der Komponist durch die Straßen Wiens geritten war. Fragen über Ruth selbst und ihre Beziehung zu Heini flocht er ganz beiläufig ein und erhielt ehrliche Antworten. Ja, sie bediente abends im Willow; ja, sie war gern in Thameside – und ja, sie würde Heini bis ans Ende der Welt folgen, sagte Ruth, die über die Feuerleiter vor ihm geflohen war. Und ja, sie sei bereit, sich fotografieren zu lassen, wenn das Heinis Karriere half.
Karkoly hatte also mehrere Fotos am Bechstein in der Wigmore Hall gemacht, jedoch nur das letzte verwendet, auf dem sie ihren Kopf ein wenig gedreht hatte, weil sie fragen wollte, ob man jetzt fertig sei, und ihr Haar nach vorn fiel, über Heinis Schulter, so daß höchstens ein kompletter Dummkopf die Anspielung auf das Gemälde Von der Liebe überrascht, das in jedem zweiten Wohnzimmer hing, nicht verstehen würde.
Ruth hatte Mr. Hoyles Artikel über das Willow nicht gesehen, und sie hatte auch Karkolys Bericht im Echo nicht gesehen. In Belsize Park hatte man kein Geld für Zeitungen. Doch Quin, der die vollmundigen Worte hingebungsvoller Liebe las, die man ihr in den Mund gelegt hatte, fühlte sich von einer so wahnsinnigen Eifersucht gepackt, daß ihm spätestens dies, wenn schon nichts anderes, zeigen mußte, wie leidenschaftlich seine Liebe war.
«Wir dürfen wohl annehmen, daß Sie mit ihr sprechen werden?» sagte Lady Plackett.
«Ja, natürlich, das werde ich tun.»
Als er etwas später über die Waterloo-Brücke fuhr, war Quin wieder ruhig. Der Artikel war mehrere Tage alt; er wußte, mit welchen Tricks und Entstellungen die Journalisten nur allzuhäufig arbeiteten, aber der Glanz dieses Tages hatte sich getrübt.
Er fuhr nach Hause, wo Lockwood ihn erwartete, der von seinem freien Wochenende zurück war. «Mr. Cavour von der Firma Cavour und Stattersley hat angerufen», sagte er. «Sie möchten ihn bitte zurückrufen, wenn Sie wieder da sind. Er ist bis um halb sieben zu erreichen. Die Nummer habe ich auf den Block geschrieben.»
«Danke, Lockwood.»
Was hatte das zu bedeuten? Sollten sie einen Fehler gemacht haben? Ausgeschlossen, seine Instruktionen waren eindeutig gewesen. Er ging zum Telefon. Wählte, setzte sich.
«Ah, Professor Somerville. Ich bin froh, daß ich Sie erreicht habe. Es ist etwas sehr Merkwürdiges passiert. Das Halsband ist uns zurückgegeben worden.»
«Was?»
«Ja, heute mittag. Miss Berger kam selbst vorbei und hat es zurückgebracht.»
«Um etwas ändern zu lassen? Ist es vielleicht zu lang?»
«Nein, es handelte sich nicht um eine Änderung. Ich dachte, sie zöge vielleicht andere Steine vor. Es gibt Leute, die behaupten, daß die Farbe grün Unglück bringt, wissen Sie. Ich hatte einmal eine Kundin ...»
«Ja, ja. Sagen Sie mir nur, was geschehen ist. Was wollte sie?»
«Sie wirkte sehr ärgerlich. Sie sagte, ich solle Ihnen ausrichten, daß sie den Schmuck nicht haben wolle. Sie war nur ganz kurz im Laden. Sehr erregt, wie mir schien. Wir behalten das Halsband inzwischen hier, Sir, bis wir von Ihnen weitere Anweisungen bekommen. Es kann bis dahin in unserem Tresor bleiben – aber wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie bald von sich hören ließen; ein so wertvolles Stück ist am besten in der Bank aufgehoben.»
«Natürlich.» Man mußte höflich sein. Man mußte Mr. Cavour danken. Man mußte das Abendessen zu sich nehmen, das Lockwood zubereitet hatte.
Sollte es also wirklich diese uralte Geschichte sein? Daß ein junges Mädchen sich einen erfahrenen Mann sucht, um sich in die Kunst der Liebe einführen zu lassen, damit sie dann ohne Angst zu ihrem wahren Geliebten zurückkehren kann? So übel war die Idee gar nicht. Sie hatte sie wahrscheinlich aus irgendeinem Buch.
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