«Soll ich Ruth schreiben?»

«Nein, ich sage es ihr selber. Und vielen Dank für deine Bemühungen, Dick. Wenn du mir die Rechnung nach Chelsea schickst, dann erledige ich das noch, bevor ich reise.»

Er war schon an der Tür, als Proudfoot ihn zurückrief. «Hast du noch einen Moment Zeit?»

Obwohl Quin es eilig hatte, wegzukommen, nickte er. Dick ging zu einer Kommode an der Wand, zog eine Schublade auf, entnahm ihr ein kleines Aquarell: eine zarte, wie gefiedert wirkende Tamariske, jeder Pinselstrich wie ein Hauch, vor einem Hintergrund roter Geranien.

«Das hab ich in Madeira gemalt. Meinst du, es würde Ruth gefallen?»

«Bestimmt.»

«Gut, dann laß ich es rahmen und schicke es ihr.»

Draußen auf der Straße sah Quin auf seine Uhr. Ruth müßte sein Geschenk eigentlich inzwischen bekommen haben – Cavour hatte versprochen, es sofort zu schicken. Ein wenig schwindlig vom Schlafmangel und der Überzeugung, daß er ewig leben würde, steuerte er seinen Wagen in Richtung Museum. Es würde keine Schwierigkeiten bereiten, noch eine weitere Kabine auf dem Schiff zu buchen, aber er wollte doch Milner sofort Bescheid sagen. Und wie angenehm zu wissen, daß Brille-Lamartaine, sollte er nähere Erkundigungen einziehen, nichts als die Wahrheit erfahren würde. Denn er nahm ja tatsächlich eine Frau mit auf die Reise, eine seiner Studentinnen, eine junge Frau, die er leidenschaftlich liebte.


Ruth hatte nicht geglaubt, daß sie noch schlafen könnte, nachdem sie sich von Quin getrennt hatte. Sie hatte sich leise ins Haus geschlichen und war nur von dem Wunsch beseelt in ihr Bett geklettert, diese ganze herrliche Nacht noch einmal zu durchleben, doch sie war augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.

Als sie jetzt erwachte, hatte sich die ganze Welt verändert. Das Schlafzimmer mit der wild gemusterten braunen Tapete, das sie mit Tante Hilda teilte, hatte sie nie verlockt, ihren Blick schweifen zu lassen, jetzt jedoch konnte sie sich vorstellen, mit welcher Wonne der Designer seine Muster zu Papier gebracht hatte. Und Hilda selbst, die vor dem kleinen Spiegel stand und sich das dünne Haar bürstete, schien Ruth die Personifizierung des akademischen Ideals zu sein – ihr Leben lang einem Stamm Primitiver verpflichtet, den sie niemals kennengelernt hatte, ekstatisch angesichts einer abgebrochenen Pfeilspitze oder eines Trinkbechers. Was für eine prachtvolle Person Tante Hilda war, wie dankbar Ruth sein konnte, ihre Nichte zu sein!

Sie schwang die Beine aus dem Bett und lächelte den Schrumpfkopf an. Jetzt ging sie über die Keksdose unter den Dielenbrettern, in der ihr Trauring und ihre Heiratsurkunde lagen. Bald – vielleicht schon heute – konnte sie sie herausholen und ihrer Mutter zeigen.

«Ich bin verheiratet, Mama», würde sie sagen. «Ich bin mit Professor Somerville verheiratet, und ich liebe ihn abgöttisch, und er liebt mich.»

Sie schlüpfte in ihren Morgenrock und ging zum Fenster, und auch hier lachte ihr eine Schönheit entgegen, die sie nie zuvor wahrgenommen hatte. Gewiß, der Gasometer stand immer noch dort, aber ebenso die Platane im Nachbargarten, mit rußiger Rinde zwar und einem abgestorbenen Ast, jedoch in der ganzen Pracht der mutigen jungen Blättchen!

Auf der Treppe traf sie das finstere Fräulein Lutzenholler mit ihrem Kulturbeutel in der Hand. «Er ist im Bad», brummte sie.

Ruth brauchte nicht zu fragen, wen sie meinte. Es war immer Heini, der im Bad war. An diesem Morgen jedoch verteidigte sie Heini nicht, dazu liebte sie Fräulein Lutzenholler viel zu sehr, die mit allem so recht gehabt hatte: Die gesagt hatte, daß wir das verlieren, was wir verlieren wollen, das vergessen, was wir vergessen wollen ... die gesagt hatte, Frigidität habe damit zu tun, ob man einen Menschen liebe oder nicht. Ruth, in der Ekstase ihrer Nichtfrigidität, strahlte die Psychoanalytikerin an und hätte sie geküßt, wäre nicht das Oberlippenbärtchen gewesen und das Wissen, daß Fräulein Lutzenholler sich so früh am Morgen die Zähne noch nicht geputzt haben konnte.

«Beeil dich, Heini!» rief Ruth.

Der Gedanke an Heini ließ sie innehalten. Heini würde tief verletzt sein. Einen Moment lang verdunkelte eine Wolke ihre Freude. Aber nur einen Moment lang. Heini würde einen anderen Star finden – eine ganze Schar in den kommenden Jahren. Seine Liebe gehörte der Musik, und mit Recht – und das, was in der vergangenen Nacht geschehen war, konnte man nicht bedauern.

Ach, Quin, dachte sie und schlang die Arme um ihren Oberkörper, und Fräulein Lutzenholler, die voller Wut darauf wartete, endlich das Bad benützen zu können, sah sie verblüfft an und erinnerte sich, daß es etwas gab, dem sie in ihrem Beruf selten begegnete: Freude.

Ruth gab die Hoffnung auf das Badezimmer auf und ging in die Küche, wo sie alle seit Heinis Ankunft eine Extra-Zahnbürste aufbewahrten. Ihre Mutter war dabei, den Frühstückstisch zu decken, und Ruth blieb einen Moment an der Tür stehen und sah ihr zu. Leonie sah müde aus, ihr Gesicht hatte Falten, die noch nicht dagewesen waren, als sie Wien verlassen hatten, und in ihrem Haar waren graue Strähnen, aber ihre Tochter fand sie schön. Mit der Liebe, die Ruth einhüllte, mit der Wonne an die erinnerte Nacht stieg eine überwältigende Dankbarkeit in ihr auf; nun endlich würde sie ihren Eltern, Onkel Mishak helfen können.

Ihre Mutter würde nicht in Bowmont leben wollen – Ruth lächelte bei dem Gedanken an das brandende Meer, den kalten Wind, die immer bewegte Luft. Ihre Eltern würden zu Besuch kommen, aber sie würden in der Stadt leben wollen, und das konnten sie jetzt mit Komfort tun. Sie würde an ihren Mann keine großen Ansprüche stellen – keine eleganten Kleider, ganz bestimmt keinen Schmuck, aus dem sie sich sowieso nichts machte. Sie würde lernen, sparsam und vernünftig zu sein, aber um einige Dinge würde sie Quin bitten, und er würde sie ihr gewähren, das wußte sie. Ein kleines Häuschen für Onkel Mishak – Elsie hatte ihr im Dorf eines gezeigt, das leerstand; Besuchsrecht für ihre Freunde, wenn sie einen Ort brauchten, an dem sie arbeiten oder sich erholen konnten; und sie würde mit ihm einmal über das Schaf sprechen. Dafür würde sie nicht darum betteln, auf seine Reisen mitgenommen zu werden. Es fiel ihr nicht leicht, sich vorzustellen, daß sie monatelang ohne ihn auskommen sollte, aber sie würde es schaffen.

Jetzt gab sie ihrer Mutter einen Gutenmorgenkuß. «Du siehst sehr glücklich aus», sagte diese. «War es nett bei Pilly?»

«Ja. Es war wunderschön.»

Ruth errötete, aber es war ihre letzte Lüge. Sie hatten in der Nacht keine Pläne gemacht – es war eine Nacht außerhalb der Zeit gewesen –, aber wenn sie es taten, dann würde sie ihre Ehe nicht mehr verheimlichen, und dann brauchte sie nie wieder zu lügen.

Sie schnitt sich gerade eine Scheibe Brot ab, als ihr auffiel, daß ihre Mutter auf eine äußerst geräuschvolle Weise mit dem Geschirr hantierte, die früher in Wien nichts Gutes verheißen hatte.

«Ist etwas, Mama?»

Leonie zuckte die Achseln. «Es ist blöd von mir, mich so aufzuregen, ich hätte es von dieser dummen Gans erwarten müssen. Aber ich konnte mir eben trotzdem nicht vorstellen, daß sie ihn nach allem, was er für sie und ihre unmögliche Familie getan hat, so behandeln würde. Wenn ich mir vorstelle, wie sie ihm im Krankenhaus nachgelaufen ist! Und wie sie sich nach der Heirat immer Frau Doktor nennen ließ!»

«Du sprichst wohl von Hennie, Dr. Levys Frau?»

Leonie nickte. «Sie hat ihm geschrieben. Sie möchte die Scheidung. Aus rassischen Gründen. Du hättest ihn gestern sehen sollen, er sieht zehn Jahre älter aus, und trotzdem darf keiner ein Wort gegen sie sagen. Der Mann ist ein wahrer Heiliger.»

Ruth schwieg betroffen. Wie konnte jemand diesem bescheidenen, sanften Menschen wehtun – ein brillanter Arzt, ein großzügiger Freund. Es hatte ausgesehen, als liebte Hennie ihn. Konnte der Einfluß ihrer Familie mit ihrer fatalen Weltanschauung so stark sein?

«Gehst du heute nicht auf die Universität?»

«Erst später.»

Quin hatte gesagt, sie solle sich den Morgen freinehmen. Es hatte sie gewundert, aber sie hatte nichts dagegen. Wenn sie später doch zur Vorlesung ging, mußte sie achtgeben, daß sie nicht in den Saal schwebte und über die Wasserkaraffe hinweg direkt in seine Arme flog.

Sie saß noch mit ihren Träumen beschäftigt bei einer zweiten Tasse Kaffee, als es draußen läutete. Einen Moment lang meinte sie, es müßte Quin sein und schüttelte in einer unbewußten Geste der Koketterie ihr Haar aus. Aber das war albern; Quin hatte gesagt, er habe etwas Wichtiges zu erledigen, als er sich von ihr getrennt hatte.

«Ach, geh doch mal hinunter, Kind», sagte Leonie. «Ziller ist nicht da – er ist üben gegangen. Vielleicht ist es der Mäusefänger», fügte sie optimistisch hinzu.

Aber es war nicht der Mäusefänger. Ein Bote in dunkelblauer Uniform mit Schirmmütze stand vor der Tür. Er mußte mit dem Lieferwagen gekommen sein, der, ebenfalls dunkelblau, am Straßenrand parkte. «Cavour und Stattersley» stand in verschnörkelter Schrift auf der Seite des Wagens, und darüber glänzte eine goldene Krone.

«Ich habe ein Päckchen für Miss Ruth Berger. Ich soll es ihr persönlich übergeben.»

«Ich bin Ruth Berger.»

«Haben Sie einen Ausweis?»

Ruth, die noch im Morgenrock war, seufzte. «Ich kann hinaufgehen und einen Brief holen oder so etwas. Aber ich erwarte gar nichts. Sind Sie sicher, daß das für mich ist?»

«Aber ja. Es ist eine Expreßlieferung. Das Päckchen soll nur persönlich übergeben werden, und ich mußte unverzüglich hierher fahren. Und außerdem mit dem Panzerwagen, den nehmen wir nur, wenn die Lieferung viel Geld wert ist.»

«Ich glaube, das ist ein Mißverständnis», sagte Ruth verwirrt.