«Sie haben einen hohen Rist; das ist ein Geschenk», sagte Mishak. Er griff in seine Tasche, um seine Pfeife herauszuholen, erinnerte sich, daß sie mit den Zigarrenstummeln gestopft war, die Ziller aus dem ungarischen Restaurant mit nach Hause gebracht hatte, und ließ es bleiben.
«Im übrigen sieht dort oben sowieso niemand, was ich anhabe», sagte Frances immer noch unwirsch.
«Gott sieht es», entgegnete Mishak.
Ruth, die spät von der Universität nach Hause kam, hörte von Frances Somervilles Besuch und war augenblicklich wie verwandelt. «Oh, was hat sie erzählt? Sag doch, Mishak – du mußt mir alles genau berichten. Hat sie dir von ihrem Garten erzählt?»
«Ja. Sie haben dort oben einen harten Winter gehabt, aber die Enziane kommen jetzt schon heraus, und die Magnolien blühen.»
«Hat sie etwas davon gesagt, ob sie nun dieses Stück an der Südwand bei der Sonnenuhr verglasen läßt? Sie wollte sehen, ob sie so hoch im Norden auch eine Kamelie züchten kann – alle haben natürlich gesagt, das ginge nicht, und du kannst dir vorstellen, wie sie darauf reagiert hat.»
«Ich glaube, sie hat es vor, ja.»
Er tauschte einen Blick mit Leonie. Sie hatten Ruth seit Wochen nicht mehr so lebhaft gesehen.
«Ach, Mishak, du hast keine Ahnung, wie schön es dort oben ist. Es ist so sauber, und alles hat seinen eigenen, ganz besonderen Geruch. Hat sie dir gesagt, ob Elsie sich für diesen Botanikkurs angemeldet hat, den sie besuchen wollte?»
«Nein, davon hat sie nichts gesagt. Wer ist Elsie?»
«Das Hausmädchen. Sie interessiert sich wirklich für Pflanzen und ist unheimlich nett. Und wie geht es Mrs. Ridleys Großmutter – ich hab dir von ihr erzählt –, sie hatte doch im Februar ihren hundertsten Geburtstag.» Von plötzlichen Zweifeln geplagt, sah sie auf. «Sie lebt doch noch, nicht wahr? Ganz bestimmt – sie hat sich so auf das Telegramm vom König gefreut.»
«Von ihr haben wir auch nicht gesprochen», sagte Mishak.
«Jetzt sind wahrscheinlich gerade die Lämmchen zur Welt gekommen – John Ridley sagte Ende März. Sie haben etwas Biblisches, wenn man sie dort oben in dieser Landschaft sieht. Überall gibt es Sonnenröschen; und die Vögel ...» Sie schüttelte den Kopf, aber die Bilder ließen sich nicht vertreiben. Manchmal glaubte sie, sie würden sie niemals loslassen.
«Aber von dem kleinen Hündchen hat sie mir erzählt», bemerkte Mishak. «Sie behält es und sie haben es Daniel genannt. Sie sagte, das sollte ich dir erzählen, du würdest es schon verstehen.»
«Daniel? Ach ja, natürlich. Nach Wagners Stieftochter – du weißt schon, Cosima von Bülows Tochter Daniella. Aber da das Hündchen ein Rüde ist, muß er natürlich Daniel heißen. Er sieht aber auch aus wie ein Daniel – Gott helfe den Löwen, in deren Höhle er sich wagt. Er ist wirklich verwegen.»
Leonie, die dem Gespräch mit wachsender Verwunderung zugehört hatte, sagte jetzt: «Aber Ruth, du siehst doch Professor Somerville jeden Tag. Warum fragst du nicht ihn nach diesen Dingen? Ich meine, ob die alte Großmutter tot ist oder ob die Lämmer schon zur Welt gekommen sind. Er muß es doch wissen.»
Ruth errötete. «Ich würde niemals über Bowmont mit ihm sprechen; das geht mich doch nichts an – und außerdem arbeitet er dauernd; er hat dieses Semester wahnsinnig viel zu tun.»
Beschäftigt war er und zerstreut und gar nicht freundlich ... Und es wurde gemunkelt, er habe vor zu gehen.
Sie holte sich ihre Bücher und Hefte, aber ehe sie sich an die Arbeit setzen konnte, ging die Tür auf, und Heini kam herein. Es war Viertel vor zehn, zu spät für ihn, um noch zu üben, ohne sich den ewigen Zorn Fräulein Lutzenhollers zuzuziehen; darum setzte er sich, ohne Ruth anzusehen, mißmutig aufs Sofa. Zwei Wochen waren seit dem Stelldichein in Janets Wohnung vergangen, und er hatte ihr noch immer nicht richtig verziehen, doch Ruth, die nun hinausging, um ihm eine Tasse Kakao zu machen, wußte jetzt, was sie zu tun hatte. Denn nicht nur Mishak und Leonie hatten aus Frances Somervilles Besuch gelernt. Ruth selbst hatte tieferen Einblick in ihre Seele gewonnen, als ihr lieb war – und jetzt mußte sie handeln.
Das bedeutete, daß sie ihre Denkweise ändern mußte. Das bedeutete, daß sie ihre Großmutter, die Ziegenhirtin, verstoßen und auf die Tröstungen des katholischen Glaubens ihrer Mutter verzichten mußte. Es bedeutete, daß sie dem Jesuskind in der Krippe und den holden Engeln Lebewohl sagen und sich auf ihr anderes Erbe besinnen mußte: auf den strengen, uralten und mysteriösen jüdischen Glauben, in dem das Wort des Rabbiners Gesetz war, in dem der Gott der zehn Gebote und nicht jener der Bergpredigt der Herr war. In diesem Glauben würde sie von ihrer Unfähigkeit geheilt werden und zu Heini zurückfinden. Sie hatte sich nicht recht zu ihrer Verwandtschaft mit diesen schwarzbärtigen Leuten mit ihren Käppchen bekennen wollen – den Chassidim, die in tiefer Armut die polnischen Wälder durchstreiften, bei denen schon die Dreizehnjährigen lernen und beten mußten wie alte Männer. Und doch würde sie einzig in der Tradition eben dieser Leute die Erlösung finden.
Die Gesetze Englands hatten sie im Stich gelassen – Mr. Proudfoot konnte Heini nicht geben, was er brauchte, aber es gab andere, ältere Gesetze, auf die sie zurückgreifen konnte.
Sie würde Mut dazu brauchen – sehr viel Mut –, aber sie wußte jetzt, was sie zu tun hatte.
25
Sie bemühte sich, nicht zu laufen, sondern ruhigen, gemessenen Schrittes zu gehen, aber das war unmöglich. Sie mußte sich beeilen. Sie mußte Quins Wohnung erreichen, solange ihre Entschlossenheit noch hielt. Sie ging am Fluß entlang, auf einem Weg zwischen der Themse und der Straße. Die Lampen waren gerade angezündet worden, ihr Licht spiegelte sich im Wasser.
«O Gott, mach, daß er da ist», betete sie. «Mach, daß er da ist und daß er allein ist.»
Aber welches Recht hatte sie überhaupt zu beten? Sie war nicht einmal eine richtige Sünderin, die verlangen konnte, vom Allmächtigen gehört zu werden; sie war eine Versagerin, kalt und gefühllos. Gott haßte die kleinen Seelen, dessen war sie sicher. Oder würde er sie vielleicht einfach als eine Kranke ansehen und doch auf ihre Gebete hören?
Es regnete, seit sie aus der Untergrundbahn gekommen war; ein feiner, schräg fallender Regen, der ihr Lodencape durchnäßte. Leonie hatte die Kapuze abgenommen, weil sie sie neu füttern wollte; der Umhang war schäbig, auch ihr Haar war durchnäßt. Aber das machte gar nichts – vielleicht würde der Regen sie reinwaschen.
Auf einem Straßenschild auf der anderen Seite las sie «Cheyne Walk» und sah die in sachtem Bogen angeordneten RegencyHäuser und die schönen alten Bäume in den Gärten.
«Heinrich VIII. hatte dort einen Palast», hatte Quin ihr in Wien erzählt, als er über sein Londoner Zuhause gesprochen hatte. «Von meinem Fenster aus kann man einen Maulbeerbaum sehen, der angeblich von Elisabeth I. gepflanzt wurde. Wahrscheinlich stimmt das nicht, aber die Vorstellung ist hübsch.»
Alle Bäume in den Gärten der großen Häuser sahen aus, als seien sie von einer Königin gepflanzt worden. Im Westen leuchtete der Himmel noch von der untergehenden Sonne, und als sie den Kopf drehte, konnte sie die Kette der Lichter auf der Albert-Brücke sehen. Es war eine wunderschöne kleine Straße. Aber natürlich, Quin war ja reich, er konnte wohnen, wo es ihm gefiel, während sie und Heini mit Janets Wohnung hatten vorliebnehmen müssen. Vielleicht war das der Grund, weshalb alles so schiefgegangen war.
Aber es hatte keinen Sinn, irgend jemand die Schuld zu geben. Die Schuld lag bei ihr. Wenn auch vielleicht nicht ganz allein. Wenn nur Quin tun würde, warum sie ihn bitten wollte, dann würde vielleicht doch noch alles gut werden.
Sie ging jetzt an den schmiedeeisernen Toren der Häuser vorüber; an eleganten Laternen und fächerförmigen Lünetten, die lichtene Halbkreise auf die Treppen warfen. Sie brauchte nicht nach den Hausnummern zu sehen. Sie hatte den Crossley, der vor der Tür stand, sofort entdeckt. Entschlossen eilte sie zur Haustür und läutete. Je schneller sie es hinter sich brachte, desto besser.
Quin legte stirnrunzelnd seinen Füller aus der Hand. Er hatte vor dem Abendessen noch zwei Stunden in Ruhe arbeiten wollen. Lockwood hatte das Wochenende frei; er hatte das Telefon ausgehängt, um den Artikel für das Museumsblatt, an dem er gerade arbeitete, ungestört fertigmachen zu können.
«Du meine Güte, Ruth!» Und als er ihr Gesicht sah: «Was ist los? Sind Sie in Schwierigkeiten?»
Sie schüttelte ihr Haar aus wie ein Hund und folgte ihm nach oben. «Ja. Ich bin in ganz schrecklichen Schwierigkeiten.» Sie sprach Deutsch, und ihre Worte gewannen dadurch zusätzlich an Gewicht.
«Kommen Sie erst einmal herein und wärmen Sie sich auf.»
Er nahm ihr das durchnäßte Cape ab und führte sie ins Wohnzimmer. Obwohl die Vorhänge offen waren, ging sie nicht zum Fenster; und sie ging auch nicht zum offenen Kamin, in dem ein Feuer brannte. Sie blieb mitten im Zimmer stehen und streckte ihm in flehentlicher Geste die offenen Hände entgegen.
«Ich kann nicht bleiben. Ich möchte Sie nur bitten, etwas für mich zu tun. Es ist unheimlich wichtig.»
«Was ist es denn, Ruth? Sagen Sie es mir nur.»
Sie hob den Kopf. «Sie müssen sich von mir trennen. Gänzlich und unwiderruflich. Jetzt gleich. Auf der Stelle.»
Einen Moment blieb es still. Dann sagte Quin mit einem Gesicht, in dem nichts zu lesen war: «Ich will natürlich gern alles tun, um Ihnen zu helfen. Aber ich weiß nicht recht, wie ich mich jetzt, auf der Stelle, von Ihnen trennen kann. Dick Proudfoot tut sein Bestes ...»
«Nein!» unterbrach sie ihn. «Das hat mit Mr. Proudfoot und allen möglichen amtlichen Dokumenten nichts zu tun. Es ist etwas viel Fundamentaleres. Es geht darum, einen Fluch aufzuheben.»
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