«Ja, ja, sehr. Natürlich hat es Zwischenfälle gegeben ... meine Brille ging zu Bruch ... und der Proviant war nicht das, was man hätte erwarten können. Aber Professor Somerville ist ein großartiger Mann – eigensinnig natürlich, auf vieles, was ich ihm sagte, wollte er einfach nicht hören, aber er ist ein großer Mann. Jetzt allerdings wird es ihm wohl das Genick brechen.»

«Das Genick brechen?» fragte Verena entsetzt. «Wie meinen Sie das?»

«Auf seine nächste Expedition nimmt er eine Frau mit. Eine Frau zur Kulamali-Schlucht! Eine seiner Studentinnen, in die er sich verliebt hat, anscheinend. Ich sage Ihnen, das ist das Ende. Ich werde selbstverständlich nicht mit ihm reisen – ich weiß genau, was geschehen wird.» Er nahm sich ein zweites Glas Wein und wischte sich, von gräßlichen Bildern verfolgt, die schweißnasse Stirn. Eine nackte Frau, die mit lang herabwallendem Haar, das ihren Körper nur notdürftig verdeckte, ins Zelt kroch; die ihre Unterwäsche auf einer zwischen Dornenbäumen gespannten Leine aufhängte. Bald würde sie von seinem Privatvermögen hören und Andeutungen machen. Von Somerville war ja bekannt, daß er die Ehe scheute. «Ich habe großen Respekt für den Professor», bemerkte er und rückte näher an Verena heran, die so gar keine Ähnlichkeit mit der Lilith seiner Phantasie hatte, sondern eher an seine unverheiratete Tante erinnerte, «aber das ist das Ende!»

«Wirklich, Dr. Brille-Lamartaine, sind Sie sicher, daß er eine seiner Studentinnen mitnehmen will?»

Der Belgier nickte. «Absolut. Sein Assistent hat es mir gestern erzählt – er genießt das volle Vertrauen des Professors. Der Professor hat sich in eine seiner Studentinnen verliebt, die aus sehr guter Familie kommt und angeblich eine brillante Wissenschaftlerin ist. Es ist noch ein Geheimnis, weil nicht der Anschein erweckt werden soll, daß er sie bevorzugt, aber im Juni will er sich ihr erklären. Ich sage Ihnen, Frauen darf man auf diese Expeditionen nicht mitnehmen, das ist immer eine Katastrophe, ich habe es erlebt. Da gibt es endlose Eifersüchteleien, Intrigen – und sie tragen keine Unterwäsche.» Er leerte sein Glas und wischte sich erneut die Stirn. «Ich bitte Sie, nichts zu sagen», fügte er hinzu. «Oh, da ist Sir Neville Willington – würden Sie mich entschuldigen?»

«Aber natürlich», sagte Verena. «Selbstverständlich.»

Sie konnte es kaum erwarten, allein zu sein. Wenn sie überhaupt noch eine Bestätigung gebraucht hatte, so hatte sie sie jetzt bekommen. Sie hatte ja eigentlich nie an Quin gezweifelt, aber sein fortgesetztes Schweigen hatte sie manchmal irre gemacht. Dabei hatte er so recht –wie konnte er sich erklären, solange sie noch seine Studentin war? Erst in der vergangenen Woche war in Cambridge ein Professor vor die Tür gesetzt worden, weil er sich mit einer seiner Studentinnen eingelassen hatte. Es war töricht von ihr gewesen, sich einzubilden, daß Quin sich in diesem Stadium öffentlich erklären würde. Und sie würde nicht einmal verlangen, daß er sie heiratete, bevor sie in See stachen. Die Eheschließung würde selbstverständlich von selbst folgen, wenn er sah, wie ideal sie zusammenpaßten, aber sie würde sie nicht zur Bedingung machen.


Frances kam im allgemeinen nur zweimal im Jahr nach London; im November, um Weihnachtseinkäufe zu machen, und im Mai zur Blumenschau in Chelsea. In diesem Jahr jedoch führte die Hochzeit ihrer Patentochter sie Ende März schon nach London. Sie reiste unter Protest, nur weil Martha nicht lockerließ und behauptete, sie brauche dringend ein neues Kleid und ganz besonders neue Schuhe.

«Unsinn», versetzte Frances. «Ich habe erst für die Taufe bei den Godchesters neue Schuhe gekauft.»

«Das war vor zwölf Jahren», sagte Martha.

Frances haßte es, für sich einzukaufen, aber wenn es denn sein mußte, dann ging sie zu Fortnum's beim Piccadilly Circus. Mürrisch packte sie Marthas Einkaufsliste ein und machte sich mit Harris am Steuer in dem alten Buick auf die Fahrt nach Süden. Neben ihr auf dem Rücksitz stand ein Karton, in dem in Holzwolle eingebettet ein Dutzend Blumenzwiebeln lagen, die sie nach einigem Zögern am Vortag in ihrem Garten ausgegraben hatte.

Wenn Frances in London war, wohnte sie niemals bei Quin, dessen Wohnung für sie etwas leicht Anrüchiges hatte und wo man, wie sie meinte, stets darauf gefaßt sein mußte, französischen Schauspielerinnen oder Tänzerinnen zu begegnen. Sie pflegte mit ihm zu essen, aber sie wohnte im Brown's Hotel, wo immer alles gleichblieb. Harris schickte sie zu seiner verheirateten Schwester nach Peckham.

Sie hatte ihren Tag sorgfältig geplant, doch als sie am nächsten Morgen zu Harris in den Wagen stieg, war sie selbst überrascht von den Anweisungen, die sie ihm gab.

«Fahren Sie mich nach Belsize Close Nummer 27», sagte sie. Harris zog die Augenbrauen hoch. «Das ist in Hampstead, nicht wahr?»

«Beinahe. Es ist in der Nähe von Haverstock Hill.»

Wieso das? dachte Frances, die ihren Impuls bereits bereute. Heute abend würde sie Quin sehen – warum ließ sie die Zwiebeln nicht einfach über ihn an Ruth weiterleiten?

Je weiter sie nach Norden kamen, desto schäbiger und ärmlicher wurden die Straßen, und als Harris anhielt, um nach dem Weg zu fragen, erhielten sie ihre Anweisungen von einem wild gestikulierenden Ausländer mit einem großen schwarzen Hut, dessen Englisch kaum zu verstehen war. Das Haus Nummer 27 war alles, was sie befürchtet hatte: ein heruntergekommenes Mietshaus mit ungestrichener Haustür und morschen Fensterrahmen. Eine Katze war dabei, die Mülltonnen zu plündern; die Pflastersteine des Bürgersteigs waren gesprungen.

«Ich bin gleich wieder da», sagte sie zu Harris und ging die kurze Treppe hinauf.

Leonie, die die Ruhe ihres Wohnzimmers genoß, da Heini ausnahmsweise außer Haus war, hörte die Glocke, ging nach unten und sah eine ihr unbekannte, hagere Frau im burgunderroten Tweedkostüm und hinter ihr eine unverkennbar teure, wenn auch sehr alte Limousine mit uniformiertem Chauffeur.

«Kann ich Ihnen behilflich sein?» fragte Leonie und fügte plötzlich hinzu: «Sind Sie vielleicht die Tante von Professor Somerville?»

«Du meine Güte, woher wissen Sie denn das?»

«Da ist eine Ähnlichkeit – und Ruth hat mir von Ihnen erzählt. Bitte, kommen Sie herein.» Plötzlich geriet sie in Panik angesichts des unerwarteten Besuchs: «Es ist doch nichts passiert? Es geht dem Professor doch gut? Und Ruth auch?»

«Aber ja», antwortete Frances Somerville ungeduldig und fragte sich wieder, weshalb sie gekommen war. Das Haus war schrecklich: abgetretenes Linoleum, ein ekelhafter Geruch nach billigem Desinfektionsmittel ... «Ich habe ein paar Blumenzwiebeln für ihren Onkel mitgebracht. Sie sind doch Mrs. Berger, nicht wahr? Ruth sagte, daß er Herbstzeitlosen liebt, und ich habe mehr als genug davon. Würden Sie sie ihm bitte geben?»

«Für Mishak?» Leonie strahlte. «Ach, da wird er sich aber freuen. Er ist jetzt im Garten, Sie müssen sie ihm selbst hinausbringen – er wird Ihnen danken wollen. Und ich mache uns inzwischen eine Tasse Kaffee. Nein, Tee natürlich – das vergesse ich immer.»

«Nein, vielen Dank. Ich kann nicht bleiben.»

«Aber Sie müssen! Zuerst zeige ich Ihnen den Garten. Am besten gehen wir durchs Haus, denn die Seitentür klemmt.»

Frances folgte ihr widerstrebend. Jetzt würde sie sich einer Einladung zum Tee nicht mehr entziehen können. Ausländer hatten keine Ahnung, wie man ihn richtig zubereitete, und wahrscheinlich würde man von ihr auch noch erwarten, daß sie irgend etwas ekelhaft Süßes mit einem Löffel aß.

Mishak kniete in seinem Kartoffelbeet, und als er sich aufrichtete und ihnen zuwandte, ergriff Frances eine tiefe Enttäuschung. «Ich bin gekommen, um Sie zu holen», hatte er zu Marianne gesagt und dabei seine Aktentasche geöffnet und seinen Hut gelüftet, und sie hatte sich einen eleganten kleinen Mann in einem teuren Mantel vorgestellt, einen Mann von Welt. Dieser Mann hier jedoch war ein alter Flüchtling, ein Ausländer in einem verknitterten Jackett, mit einer Schirmmütze auf dem Kopf, schäbig, arm, fremdartig. Sie mußte sich zwingen, näher zu ihm hinzugehen.

Leonie erklärte, warum sie gekommen waren, und Mishak stand auf und lehnte seinen Spaten an den Zaun.

«Herbstzeitlosen?» wiederholte er. «Ruth hat mir erzählt, wie sie bei Ihnen unter dem Kirschbaum wachsen.»

Er nahm den Karton und teilte die Holzwolle. Seine Hände, die nach den Zwiebeln suchten, waren erdbraun, kantig, mit kurzen Fingern. Hände, die pflanzten und gruben, die hämmerten und zimmerten. Doch nicht so ausländisch; doch nicht so fremdartig …

«Ja», sagte Mishak und nahm eine der Zwiebeln zur Hand. «Ich erinnere mich ganz deutlich an sie!» Er dankte ihr nicht einmal; er lächelte nur.


Der Tee war ausgezeichnet, aber Frances konnte nicht bleiben.

«Ich muß noch einkaufen», sagte sie verdrossen.

Leonies Augen leuchteten auf. «Wohin gehen Sie?»

«Zu Fortnum's.»

«Ach, das ist ein herrliches Geschäft», sagte Leonie sehnsüchtig.

«Kaufen Sie ein Kleid?»

Frances nickte. «Und Schuhe.»

«Was für Schuhe?» Mishak hatte die Frage gestellt, und Frances sah ihn schockiert an.

«Ich kauf immer die gleichen», antwortete sie kurz. «Knopfschuhe mit niedrigem Absatz.»

«Nein», sagte Mishak.

«Pardon?» Frances wollte ihren Ohren nicht trauen.

«Keine Knopfschuhe. Keine niedrigen Absätze», erklärte Mishak. «Fortunati-Pumps mit einem kubanischen Absatz, aus Wildleder. Aus den Mailänder Werkstätten; sie arbeiten mit einem besonderen Leisten.»

Leonie nickte. «Mishak weiß Bescheid. Er hat viele Jahre im Warenhaus meines Vaters gearbeitet.»

Das konnte Frances nicht beschwichtigen. «Ganz sicher kaufe ich mir keine solchen Schuhe. Es würde mir nicht im Traum einfallen. Ich trage seit Jahren immer die gleichen Schuhe und habe nicht die geringste Absicht, daran etwas zu ändern.»